FOLGE 6

AFRIKA IST…

… für uns der Ort, an dem wir uns intensiv als Familie wahrnehmen.

 

So auch in Gambia, dem kleinsten Land auf dem afrikanischen Festland. Es ist fast gänzlich von Senegal umschlossen, lediglich ein schmaler Küstenabschnitt gibt den Blick frei auf den Atlantischen Ozean. Dort hinein mündet der gleichnamige Fluss, an dessen Lauf sich die Grenzen des länglich geformten Staates orientieren. Hier irren wir haltlos durch die erste Nacht, begegnen dem magischen Kankurang und erleben schwäbische Pedanterie in Reinkultur. So klein wie es ist, ruft es große Emotionen hervor und brennt sich als unerwarteter Wendepunkt tief in unser Gedächtnis.

Kein Bestechungsgeld, an niemanden. Das haben wir uns fest vorgenommen und bisher haben wir jede Aufforderung, Geld für angebliches Nicht-Blinken beim Abbiegen auf einer menschenleeren Wüstenpiste oder eine vermeintliche Geschwindigkeitsüberschreitung zu zahlen, strikt abgelehnt. Manchmal haben wir eine Stunde lang diskutiert, manchmal hat es nur ein Lächeln von Jaguar gebraucht und manchmal hat Michel, müde vom ewigen Handaufhalten, die Geduld verloren und einfach laut gebrüllt. Hat auch gewirkt. Beim Posten, der die internationale Grenze zwischen Senegal und Gambia im Norden markiert, will sich Officer Marong jedoch nicht so schnell erweichen lassen und besteht auf eine spezielle Gebühr. Einmal mehr bleiben Anni und Jaguar also im Auto, umringt von jungen Mädchen, die Schokoladenkekse und Limonade verkaufen, in diesem Fall aber lieber Faxen durch die Scheibe mit dem kleinen Blondschopf machen. Es ist heiß und es dauert ungewöhnlich lange bis Michel zurückkehrt. Er schüttelt kaum merklich den Kopf und Anni versteht sofort – auch hier haben wir nicht gezahlt. Dachte Officer Marong am Anfang noch, dass ein Gang vorbei an den Zellen des Polizeigebäudes Michel beeindrucken oder gar einschüchtern könnte, freut er sich jetzt über ein gemeinsames Foto und schreibt seine Handynummer auf – für den Fall der Fälle. Wir haben eine weitere Grenze geschafft und sind in einem weiteren Land: Gambia. 1965 von England in die Unabhängigkeit entlassen, hat es sich 1970 für den Austritt aus dem Commonwealth entschieden. Seit 1997 ist es eine präsidentielle Republik, die sich 2015 als islamisch erklärt hat und in der knapp über zwei Millionen Menschen leben. Englisch ist nach wie vor Amtssprache, was zum ersten Mal während unserer Reise zu spürbarer Rückmeldung im Straßenverkehr führt – Menschen fahren neben uns her, winken, formen mit den Händen ein Herz und zeigen auf das Logo auf unseren Türen.

Dort steht: MY TEACHER AFRICA – TRAVEL TO LEARN.

Gerade freuen wir uns über einen gut gelaunten Motorradfahrer, dessen Zweirad mit bunten Bommeln geschmückt ist und der eine Weile mit hochgerecktem Daumen neben uns herfährt, als uns ein Soldat an den Straßenrand winkt. Sattgrüne Uniform, stramm gebügelte Hosenbeine in schwarz glänzenden Stiefeln, das Barett über einem streng schauenden Gesicht, hat er beide Hände am Maschinengewehr, das auf seinem Brustkorb ruht. Woher wir kommen, wohin wir gehen? Als er Germany hört, nickt er: „That’s great. Great country!“. Er lacht, schwärmt über unsere Heimat: „You could take me home with you!“. Es soll wohl wie ein Scherz klingen, aber die Traurigkeit, die in seinem Blick mitschwingt, erzählt eine andere Geschichte.

Die Menschen in Gambia haben mit der Inflation zu kämpfen, die den Preis für Konsumgüter aktuell um elfeinhalb Prozent verteuert hat. Das Land besitzt keine Bodenschätze, ist hoch verschuldet und belegt im Ranking der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Platz 117 von 137. Obwohl es weltweit zu den Ländern mit den geringsten Militärausgaben gehört, zählen Militärs und Polizisten zu den besser Verdienenden. Beliebt sind sie kaum, das erfahren wir in den nächsten Tagen, weil sie ihre Funktion immer wieder ausnutzen, um nicht nur von Touristen, sondern auch von der lokalen Bevölkerung hohe Strafen für vermeintliche Verstöße zu kassieren. Dass hier ein anderer Wind weht, eine andere Stimmung herrscht, das teilt sich uns irgendwie schon in den ersten zwei Stunden auf dem Weg zur Fähre mit, die uns in die Hauptstadt Banjul bringen soll. Trotz moderner Gebäude und asphaltierter Straßen fehlt der Unterbau, alles wirkt zusammenhanglos in die Landschaft geworfen; wirkt irgendwie fremdartig, aufgesetzt. Dass wir das moderne Afrika verlassen haben, spüren wirspätestens als wir den Hafen erreichen. Die Autos bilden eine kilometerlange Schlange, umringt von fliegenden Händlern und Ständen, an denen Handyzubehör, gebratenes Fleisch, Plastikspielzeug und Kleidung angeboten wird. Nur eine Fahrkarte für die Überfahrt, „die gibt es hier nicht“, erfahren wir von einem Polizisten am Straßenrand. Aber sein Freund, der könnte die fünf Kilometer zurück an den Schalter laufen, wo es die Karten gibt. Oder aber wir kaufen die Tickets für einen geringen Aufpreis ausnahmsweise hier.

Wir zahlen ausnahmsweise den vierfachen Preis, um unseren Platz in der Schlange nicht aufgeben zu müssen, denn schon wieder hat die Fahrt länger gedauert als geplant und wir wollen vor Sonnenuntergang in Banjul ankommen. Michel steigt aus dem Wagen und nimmt mit den zwei Männern aus dem Mitsubishi vor uns einen Snack am Straßenrand – sie kommen aus Pakistan und Indien und machen in „Metall“, das sie über die Häfen von Gambia transportieren. Plötzlich gerät die Masse in Bewegung, wird von Aufregung erfasst – eine Handvoll Polizisten verschafft sich Platz und treibt einen gefesselten Mann vor sich her durch die Menge. Daneben Menschen, die mitlaufen, rufen und die Hände in die Höhe recken. Es wirkt wie eine Szene aus einem Western – wild. Der Mann wird in das niedrige Steingebäude der Polizei gebracht, dessen Fassade bröckelt und vor dem sich eine Traube Menschen sammelt. Dann erwacht die Schlange und langsam kriechen wir nach vorne. Bei der ersten Ticketkontrolle sollen wir nachzahlen und Michel erklärt: „Du bist nicht deine Regierung und ich bin nicht meine. Ich verstehe deine Wut, deinen Ärger oder was auch immer es ist, aber ich reise hier mit meiner Familie.“ Noch während er spricht kommt ein hochgewachsener, stattlicher Mann auf uns zu. Der Kontrolleur weicht zur Seite.

Der Mann tritt an die offene Windschutzscheibe: „Ihr nehmt die VIP-Line auf die Fähre. Wer hier ist, um von Afrika zu lernen, der ist unser Gast. Herzlich Willkommen in Gambia!“.

Wir sind verblüfft. Und freuen uns – er hat verstanden.

Als die Fähre schließlich ablegt, senkt sich bereits die Sonne über den Fluss. Und so ist es dunkel, als wir nach zwei Stunden das Schiff verlassen. Nicht nur am Himmel, sondern überall: Stromausfall. Das einzige Licht stammt von den Scheinwerfern der Autos und Lastwagen, das Internet ist ausgefallen und damit unsere Navigation. Wir fragen uns durch, wollen noch in der Nacht weiter nach Serekunda auf einen Campingplatz, der von Deutschen betrieben wird. Wir haben eine Wegbeschreibung per Email erhalten, der wir folgen wollen, doch sie führt uns nicht zum Ziel. Die Hauptstrasse, auf der die Autos jeweils vierspurig entlangfahren, ist eine sandige Piste mit tiefen Schlaglöchern. Die Scheinwerfer werfen milchige Schlaglichter, in denen Rinder mit langen Hörnern wie aus dem Nichts auftauchen und ihren Weg über die Straße suchen. Eselskarren erscheinen plötzlich vor und neben uns, Pferdefuhrwerke steigen wie Traumbilder aus der Dunkelheit auf. Das An und Aus der Lichter verwandelt die Welt vor uns in ein Videospiel, in dem ständig unerwartet Hindernisse auftauchen. Es ist bald Mitternacht, doch am Straßenrand laufen Menschen, vorbei an Holzhütten, in denen Kerzen brennen und an Ständen aus Metall, vor denen offene Feuer brennen. Zwischendurch passieren wir halbfertige Kreisverkehre und hin und wieder ein Straßenschild. An einer geöffneten Tankstelle halten wir an, versuchen die Campingplatzbetreiber zu erreichen. Vergeblich. Wir kehren um Richtung Hauptstadt und finden schließlich ein Hotel, auf dessen Parkplatz wir rasten, um ein wenig Schlaf zu finden.

Es ist drei Uhr morgens als wir geweckt werden, wir müssen das Gelände verlassen. Bis Sonnenaufgang warten wir am Straßenrand, dösen und machen uns schließlich auf zum Campingplatz, den wir um sechs Uhr in der Frühe erreichen. Das Tor ist verschlossen und so öffnen wir das Dachzelt, klettern hinein und schlafen bis Jaguar uns weckt. Auf der sandigen Straße sind Menschen unterwegs und Rinder grasen am Rand. Wir klettern aus dem Dachzelt und betreten durch eine Seitentür den Campingplatz. Ein schmaler Weg glatt geharkter Weg führt zu einem Gebäude im Zentrum des Platzes, vor dem eine Frau die Steinplatten fegt. Sie begrüßt uns schüchtern und bittet uns herein.

Kurz darauf sitzen wir im Restaurant des Campingplatzes und bekommen ein Frühstück serviert: Zwei Sorten Marmelade, Nussnougatcreme, Butter, drei Stücke Brot, zwei Gläser Saft und Instantkaffee. Jaguar isst und trinkt mit Hingabe, während wir die Umgebung bestaunen. Alles ist ungewohnt sauber und aufgeräumt. Überall hängen Hinweisschilder: „Das Internet nur bis 22 Uhr benutzen!“, „Den Ventilator nicht eigenmächtig einschalten!“, „Hier nur Privat!“. „Wir sind einem deutschen Schullandheim gelandet“, staunt Anni und Michel studiert die große Preistafel, auf der alle Posten akribisch notiert sind – von der warmen und kalten Dusche bis hin zur Nutzung der Waschmaschine (allerdings nur an zwei Tagen in der Woche). Als Michel die Mitarbeiterin fragt, ob denn die Besitzer da seien und ob sie ihnen Bescheid geben könnte, dass wir da sind, schüttelt sie nervös den Kopf: „Nein, nein. Nicht vor neun Uhr!“. Wir nehmen es gelassen, bestellen noch Saft und Kaffee und erinnern uns an die surreal erscheinende Nacht. Dann hören wir eine Stimme mit deutlich schwäbischem Dialekt hinter uns. Die nun folgende Konversation – nun, sagen wir mal – überrascht uns ein wenig. Denn die Wegbeschreibung sei ja ganz eindeutig gewesen, da könne man sich ja gar nicht verfahren. Und auch das Internet ginge wieder, allerdings dürfen wir das Passwort nicht selbst in unsere Geräte eingeben, da es geheim bleiben müsse und dass das Internet nur von 10 bis 22 Uhr benutzt werden darf. Wir sind zu müde und zu erschöpft, um das offensichtlich ruppige und wenig gastfreundliche Verhalten zu kommentieren. Klar ist, dass wir nicht länger als zwei Tage bleiben wollen. „Wäre da eine Ausnahme hinsichtlich der Waschmaschine möglich?“, fragt Anni höflich. Ausnahmsweise.

Am Nachmittag machen wir uns auf ins Zentrum von Serekunda und sind erstaunt ob der Spritpreise, die denen in Deutschland entsprechen. An der Tankstelle selbst und später vor dem Supermarkt erfahren wir, dass es bei einem Durchschnittseinkommen von 60 Euro im Monat kaum mehr möglich ist, Sprit oder Lebensmittel zu kaufen. Die Menschen sind freundlich zu uns, aber es liegt Etwas in der Luft; sicherlich auch durch die hohe Dichte an Militärs. Wobei man nicht immer erkennen kann, ob es sich um offizielles Personal handelt. Unter Sturmhauben verborgene Gesichter erschweren es uns, die Stimmung zu lesen. Wir sind nervöser als sonst, vorsichtiger. Fotografieren und Filmen ist nahezu unmöglich, die Menschen machen uns recht harsch darauf aufmerksam, dass es nicht erwünscht ist.

Beim Mittagessen auf der Terrasse eines Hähnchenrestaurants kämpfen wir mit den Fliegen, der Himmel ist grau und regenschwere Wolken scheinen Menschen und Gebäude gen Boden zu drücken. Als wir zurückfahren taucht vor uns eine Gruppe tanzender junger Menschen auf, angeführt von einem braunen Wesen, das aus tausenden Fäden zu bestehen scheint und unter denen sich ein schnabelartiges Gesicht verbirgt. Die Figur führt zwei mächtige Macheten, die es durch die Luft sausen lässt. Wir halten an und die Jungen und Mädchen nähern sich singend und tanzend dem Defender. Wir steigen aus und Anni nimmt die Kamera – das Schauspiel ist faszinierend und muss gefilmt werden. Das braune Wesen spielt mit und tanzt um die Kamera herum, führt einen wilden Tanz auf, schwingt die Macheten, hebt und senkt den Kopf, kommt bis auf wenige Zentimeter heran. Anni bricht der Schweiß aus, eine falsche Bewegung mit den Klingen könnte böse enden. Doch es ist auch aufregend. Minutenlang geht das so, dann lacht die Gruppe und bittet um Geld. „Magic“, erklären sie, „Ceremony!“. Wir verstehen ein bisschen, bleiben erst einmal fasziniert zurück. Auf dem Campingplatz fragen wir unsere Gastgeber nach der Figur. Die Antwort lautet: „Ach so, das braune Fuselmonster. Ja, das geht wohl ein Mal im Jahr so. Irgendein Einheimischenzauber. Können wir gar nicht so genau sagen.“ Verblüffend, denn was wir gesehen haben, so erfahren wir wenig später, ist ein Initiationsritus der Mandinka, der bei der UNESCO als immaterielles Kulturerbe der Menschheit geführt wird. Einmalig auf der Welt, führt die als Kankurang bezeichnete Zeremonie junge Menschen von der Welt der Kinder in die der Erwachsenen. Die machetenschwingende Figur ist der Eingeweihte und besitzt magische Fähigkeiten, mit denen er die bösen Geister fernhält. Der Initiationsritus ist ein hohes Fest, das von der Volksgruppe der Mandinka sowohl in der Region Senegambia als auch in der Casamance in Senegal praktiziert wird.

DIE MANDINKA SIND EINE ETHNIE WESTAFRIKAS, DIE SICH ALS NACHKOMMEN DES FRÜHEN KÖNIGREICHES MALI VERSTEHEN. DER US-AMERIKANISCHE SCHRIFTSTELLER ALEX HALEY WAR EIN MANDINKA, DER IN SEINEM ROMAN „ROOTS“ DIE GESCHICHTE SEINES VOLKES AUSGEHEND VON SEINEM VORFAHREN KUNTA KINTE ERZÄHLT – SPÄTER GAB ES EINE GLEICHNAMIGE FERNSEHSERIE UND AUCH DIE IRISCHE SÄNGERIN BEZIEHT SICH IN IHREM SONG „MANDINKA“ AUF HALEYS ROMAN.

Noch Stunden, nachdem das Internet auf dem Campingplatz abgedreht wurde, hören wir die Trommeln, die das Ritual begleiten. Sie begleiten uns in den Schlaf und begleiten unsere Träume, die wild ausfallen und von den intensiven und für das westliche Auge ungewohnten Bildern geprägt sind. Gambia ist unspektakulär und aufregend zugleich, es bräuchte sicherlich eine Weile, um diesem kleinen Land wirklich nahe zu kommen. Doch: Wir können nicht bleiben. Am nächsten Morgen erfahren wir von einem kleinen Mädchen, so alt wie unsere Jaguar, das, trotz Prophylaxe, innerhalb von einem Tag an Malaria verstorben ist. Die heftige Regenzeit und die Moskito-Explosion fordert immer mehr und immer mehr Opfer. Wir hören und schauen uns an, entscheiden gemeinsam und ohne ein Wort: Wir müssen Jaguar hier von hier fortbringen.

Wir sind aufgewühlt wie die Pisten, über die wir den Rückweg nach Dakar antreten. Auf dem Handy bereits ein Flugticket für Anni und Jaguar nach Spanien. Am späten Nachmittag erreichen wir den Flughafen. Es bleibt kaum Zeit für den Abschied. Wir müssen loslassen. Die geplante Reise, einander.
Anni schaut von oben auf die leuchtende Stadt, im Arm die schlafende Jaguar. Irgendwo da unten ist Michel. Michel schaut in den Himmel. Wir reisen durch die selbe Nacht, wissen nicht, was der Morgen bringt. So ist das mit den Abenteuern.

TEXT
ANNI + MICHEL RUGE