FOLGE 2

AFRIKA IST … 

… auch Marokko 

Hitze; glühend und greifbar und flüchtig zugleich. Die Gerüche bindet, mal nach Lebensmitteln, die verrotten und verwesenden Fleisch- und Fischresten. Mal nach Ziege und Schaf, nach Hühnerkäfig und rauchender Holzkohle, die sich kratzend in der Stirnhöhle festsetzt. Selbst am Meer will in diesem Sommer in Marokko keine rechte Kühle aufkommen und die Hitze treibt selbst die Nomaden aus der Wüste nordwärts.

Die Hitze, die kleinen Dörfer entlang der Straßen, deren Häuser immer irgendwie nicht ganz fertiggestellt aussehen und die sich, erstaunlich gut ausgebaut, durch die trockene Landschaft ziehen. Die staubigen und schnörkellosen Städte, deren Neubauten nach westlichem Vorbild merkwürdig deplatziert im ewig selben Rotbraun der Fassaden wirken. Jede andere Farbe würde innerhalb von Monaten vom rötlich-braunen Wüstensand, den der Wind stetig über dem Land verteilt, übermalt. Dazwischen, egal ob Dorf oder Stadt, der ewige Plastikmüll, wie ein schmutziger Unterton. Nein, eine klassische Schönheit ist Marokko nicht. Aber: Es ist das schönste Land, das wir bisher kennengelernt haben. Der Einstieg in den Kontinent, den wir in den nächsten Monaten durchqueren, hat uns direkt einige erstaunliche Dinge gelehrt. Und das auf eine ausgesucht liebevolle, milde und freundliche Weise – denn nirgendwo haben wir so herzliche Menschen kennengelernt wie in Marokko. Es war, als hätten die Marokkaner sich heimlich untereinander abgesprochen und jeden Tag auf unserer Route ein Geschenk platziert und sich wie die Kinder darauf gefreut, dass wir es entdecken. Das erste erwies sich dabei, zumindest gefühlt, als lebensrettend:

 

Brot braucht kein Personalpronomen 

„Interessant“, sagt Reda Kadmiri, greift in eine Schale mit salzigen Nüssen und kaut eine Weile darauf herum. „Wir sind also in den Augen der Europäer nicht wirklich Afrika.“ Neben dem 37-jährigen Musik- und Filmproduzenten aus Marrakesch sitzt die Lyrikerin Rania Attar, auf deren Gesicht ein leichtes Lächeln liegt. „Was ist denn Afrika?“, fragt sie. Und wir alle wissen, dass wir jetzt ähnliche Bilder im Kopf haben. Tatsächlich haben wir auf den sozialen Netzwerken Kommentare wie „Wartet ab, bis ihr im richtigen Afrika seid“ oder „Marokko ist mit Afrika nicht zu vergleichen“ erhalten. Während wir Vier die Bilder in unseren Köpfen betrachten und nicht aussprechen, was wir sehen, schweigen wir. Dann sagt Rania: „Europa denkt noch immer, dass Afrika ein Drecksloch ist (da wir Englisch miteinander sprechen, verwendet sie das Wort shithole). Und wenn es kein Drecksloch ist, dann ist es nicht Afrika.“

Ein Drecksloch ist das Anwesen von Redas Familie, das in einem über eintausend Jahre alten Palmenhain liegt, wahrlich nicht. Vor uns glitzert die Sonne auf dem Wasser des Pools an dessen gegenüberliegender Seite ein großes Zelt, das genauso aussieht wie wir uns das Zelt eines Nomadenstamms in der Wüste vorstellen – schwere Teppiche, Kissen und Polster, kleine Tischchen und ziselierte Lämpchen, die am Abend entzündet werden und tanzende Lichter werfen. Wir ziehen zu dieser Tageszeit allerdings die schattige Terrasse vor, denn in der Palmeraie herrschen an diesem Nachmittag 39 Grad. Dass wir hier zu Gast sind, ist aus zweierlei Gründen ein großes Glück – Reda ist der Freund eines Freundes von Michel, den er vor 15 Jahren im Berliner Nachtleben kennengelernt hat (worüber Michel übrigens ein Buch geschrieben hat). Selbst Marokkaner, der mittlerweile in Tanger lebt, hat er uns von Beginn an mit Kontakten versorgt. Ein Telefongespräch mit Munier, so sein Name, läuft dabei immer ungefähr so ab: „Wo seid ihr gerade? In einem Riad in der Medina? Wartet kurz, ich melde mich gleich wieder.“ Es vergehen ungefähr zehn Minuten, dann klingelt das Handy:

„Mein Freund Reda erwartet Euch. Ihr könnt bei ihm wohnen. Ich schicke Euch Telefonnummer und Standort.“

Gelebte Gastfreundschaft – der Freund eines Freundes von Michel beherbergt uns zwei Wochen lang in seinem Haus in Marrakesch. Solange brauchen wir, um uns vom Corona-Virus zu erholen, der uns kurz nach der Ankunft in Marokko niederstreckt. Und so lernen wir mit Reda Kadmiri einen der erfolgreichsten Musik- und Filmproduzenten des Landes näher kennen, der außerdem interkulturelle Musikfestivals veranstaltet, bei denen afrikanische und internationale Künstler zu gleichen Bedingungen auftreten.
Das Haus seiner Familie liegt in der Palmaire, einem Wohngebiet unweit des Zentrums, das in einem über eintausendjährigen Palmenhain liegt. Hier, direkt nebenan, hat die sozial engagierte marokkanische Fotografin Leila Alaoui gelebt, die 2016 während eines Terrorangriffs in Burkina Faso ums Leben kann. Ihre Werke werden bis heute weltweit ausgestellt und gehandelt. Hier lernen wir auch die ebenfalls marokkanische Fotografin Sarah Nadir kennen, mit der wir ein spontanes Fotoshooting veranstalten. Sie gilt als eine der vielversprechenden Newcomerin des Landes – ebenso wie die Lyrikerin Rania Atta, deren Gedichte uns bei einer spontanen Lesung unter die Haut gehen.

 

Fotos: Sarah Nadjar

In diesem Fall haben wir unsere Sachen rasch gepackt, denn nach zwei Tagen in der Medina, der Altstadt von Marrakesch, waren unsere Sinne gänzlich überreizt. Augen, Ohren und Nase sind in den ineinander verschachtelten Märkten, den Souks, dauerhaft unter Beschuss. Dicht gedrängt schieben sich die Menschen durch die Gänge und Gassen, die Händler rufen, Frauen und Pfauen kreischen, Schlangenbeschwörer legen einem ebenso ungefragt ihre Tiere um die Hälse wie die Frauen nach den Händen der Besucherinnen greifen und blitzschnell ein Ornament mit Henna darauf zeichnen. Macht 700 Dirham, also 70 Euro bitte. Das ist die Medina: Ein verrückter Jahrmarkt, auf dem Affen in Puppenkleidern an Ketten tanzen und schwarze Kobras in der Sonne dösen. Taschen, Teppiche, Tiegel, Töpfe, Spiegel, Gewürze, Schuhe und Kissen, oftmals in China hergestellt, die zu irrwitzigen Preisen den Touristen feilgeboten werden. Wir merken schnell: Viele der Händler sprechen nicht nur Arabisch, Französisch, Englisch und einen der Berberdialekte, sondern auch mehr oder weniger Deutsch. Zu oft grinsen sie, wenn wir laut überlegen, ob wir dies oder jenes zu diesem Preis kaufen wollen und bieten es von sich aus günstiger an. Am Ende verlassen wir die Medina ohne etwas gekauft zu haben – was, wie sich zeigen wird, eine gute Entscheidung war.

 

Nach Marrakesch durchqueren wir das Atlasgebirge und klettern mit dem Defender unweit von Skoura zweieinhalb Stunden die Berge hinauf. Dort, in dem kleinen Dorf Amazkar leben wir eine Woche lang im Haus einer Berberfamilie. Nach der Hitze der Stadt genießen wir die Kühle der Berge, das frische Quellwasser und die Ruhe und Unaufgeregtheit des Lebens mit Brahim und seiner Familie.

Film: Team Ruge

Hauptstadt der Touristen – so bezeichnen die Marokkaner die Millionenmetropole, durch die jährlich rund drei Millionen Touristen ziehen. Damit belegt die Stadt den 76. Platz in der Rangliste der weltweit beliebtesten Städte. Die Marokkaner selbst verbringen ihre Ferien lieber in kühleren Städten am Meer wie Sidi Ifni oder auf der Halbinsel Dakhla im Süden des Landes.

Und so erfahren wir im Laufe der Tage, dass Reda Musik-Festivals veranstaltet, die Afrika und Europa musikalisch miteinander verbinden: Oasis, Atlas und Moga finden an verschiedenen Orten in Marokko und Portugal statt. „Wir wollen afrikanischen Künstlern Sichtbarkeit verschaffen. Sie sind weltweit immer noch unterrepräsentiert und ihre Gagen lächerlich niedrig. Dabei hat Afrika eine großartige und vor allem bemerkenswert vielfältige Musikszene“, erzählt er. Die Idee und die Vision der Veranstaltung zieht mittlerweile nicht nur große Sponsoren an, sondern auch erfolgreiche internationale Künstler, von denen einige auf ihre Gage verzichtet haben, um der Idee noch mehr Schwung zu geben.

 Das Interesse an afrikanischer Kunst zieht an: Das Auktionshaus Sotheby’s hat 2017 erstmals afrikanische Kunst der Moderne und der Gegenwart versteigert – dabei wurde ein Großteil der Werke für insgesamt 30,5 Millionen Euro verkauft. Dennoch sind afrikanische Künstler im globalen Vergleich in allen Bereichen immer noch deutlich unterrepräsentiert und vor allem -bezahlt.

 

Brahim betreibt hoch in den Bergen des Atlasgebirges ein liebevoll eingerichtetes Gästehaus. Mit seiner Frau Hadija, seinen Söhnen Hasan und Mustafa und Schwiegertochter Malika versorgen sie sich hier nahezu selbst und kaufen lediglich Grundnahrungsmittel wie Mehl und Zucker hinzu. Der Alltag ist entsprechend von körperlicher Arbeit – vom Pflügen, Säen und Ernten und Wäschewaschen im Fluss bestimmt – die Abende von Musik und Gesang. Hier essen wir täglich gemeinsam von einem Teller, was Hadija und Malika aus dem Gemüsegarten kochen. Den Tee nehmen Brahim und Michel dann gemeinsam im Garten ein – beide in ihren jeweils schönsten Kleidern, denn die Berber legen viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres und tragen zu besonderen Anlässen ihre traditionellen Gewänder.
Jaguar genießt die Zeit hier besonders – sie reitet auf Mulis und Pferden, sieht zum ersten Mal wilde Kamele und liebt es, wenn Brahim am Abend die Trommel schlägt. Besonders schön zu beobachten ist der Umgang der Kinder untereinander, die bemerkenswert sozial sind und ohne die ständige Maßregelung Erwachsener aufeinander acht geben.

Fotos: Team Ruge

„Unsere Events sind Boutique-Festivals mit rund 2.000 bis 3.000 Besuchern, sehr sorgfältig und liebevoll gestaltet und ausgestattet“, erzählt Reda, der in Sachen sorgfältiger Organisation ein Profi ist. Mit seiner Produktionsfirma bildet er Kampagnen für internationale Brands in Marokko ab, aktuell für Yves Saint Laurent, die sich riesige beleuchtete Billboards mitten in der Wüste wünschen. Kein Problem für den Marokkaner, der in Kanada studiert hat und überhaupt viel in der Welt herumgekommen ist. Doch leben, das will er nur in Marokko. „Wisst ihr, was mich am meisten während meiner Studienzeit in Kanada irritiert hat?“, fragt er. Wir schütteln die Köpfe. „Als ich zum ersten Mal den Kühlschrank in meiner WG aufgemacht habe, standen dort lauter mit Namen beschriftete Nahrungsmittel. Ich habe das nicht verstanden. Denn Nahrungsmittel haben in Marokko kein Personalpronomen. Es gibt nicht mein oder dein Brot. Es gibt nur das Brot.“

Genaus das teilen wir am Abend vor unsere Abreise bei einem letzten gemeinsamen Abendessen, für das Michel seine sensationellen Spaghetti Carbonara gekocht hat. Selig posten wir ein Foto der Szenerie auf Facebook und ernten – wieder einmal – negative Kommentare darüber, dass wir mit „Privilegierten“ zu Abend essen, wo doch in Afrika „immer noch Kinder hungern“. Oder „Wer der Lyrikerin denn das Leben finanziert, denn von Poesie allein kann man ja nicht leben.“ Wir zeigen diese Kommentare Reda und Rania und sie sind, das sieht man ihren Gesichtern an, gekränkt. „Naja“, sagt Reda, „diese Menschen leben in der Komfortzone ihrer Klischees. Ich war ja noch nicht in Rumänien oder Bulgarien. Aber hungern da nicht auch immer noch Kinder?“. Der Hunger in Europa ist verglichen mit dem in Afrika – noch führt Somalia die Welthungerstatistik an – deutlich geringer; aber es gibt ihn. Und, das ist viel wichtiger, dass Menschen in Afrika keinen Zugang zu Grundnahrungsmitteln haben, das liegt auch immer noch daran, dass statt für den eigenen Bedarf Lebensmittel für die EU produziert werden. Und das, so erfahren wir einige Zeit später, auch unter dem Deckmantel vermeintlicher Förderprogramme.

Für die Nomaden, die noch in der Wüste geboren sind, ist sie ein Ort voller Leben. „Sie gibt mir Energie und Lebenskraft“, sagt Majoub und legt sich mit dem Rücken in den noch warmen Sand, „die Stille hat ihren eigenen Klang.“ Wir lauschen und staunen und sind ehrfürchtig vor dieser mächtigen Weite. Foto: Team Ruge

Grünes Marokko ohne Wasser

Der Weg führt uns von Marrakesch ostwärts tiefer ins Landesinnere. Trotz der zunehmenden Hitze steigt die Anzahl der Melonenverkäufer am Straßenrand. Manchmal trennen die aus Ästen und Plastikplanen gebauten Stände nur wenige hundert Meter. Die überdurchschnittlich großen Früchte haben die Verkäufer zu kleinen Pyramiden auf der staubigen Erde aufgestapelt und verlangen von uns 20 Dirham, also rund 2 Euro. Erstaunlich, dass dieser trockene Boden saftige Früchte in solchen Mengen hervorbringt. Umso mehr, als uns Juan, der in einer restaurierten Festung, einem so genannten Kasbah, ein Hotel betreibt, vom Wassermangel in der Region erzählt. Seine dramatische Schilderung über den ausbleibenden Regen in den vergangenen fünf Jahren und die zunehmende Hitze wird untermalt von zwei sich stetig abwechselnden tiefen Tönen. „Sie bohren nach Wasser“, sagt Juan, „doch der Mangel ist so verheerend, dass der ein oder andere Fund niemals ausreicht, um den Landstrich wiederzubeleben. Mittlerweile lässt die Hitze jeden Tag 500 Liter Wasser aus dem Pool verdampfen und ohne Schwimmbecken, das könnt ihr mir glauben, macht das Leben hier wenig Freude.“ Der war bis vor Beginn der Pandemie das Zentrum des Hotels mit 13 Zimmern, das nun in seiner Unbewohntheit auf bessere Zeiten wartet. Denen gibt Juan noch ein Jahr, wenn sie bis dahin nicht kommen, wir er das Kasbah nach 20 Jahren für immer schließen. Bis dahin wird, und wahrscheinlich auch darüber hinaus, ein Großteil des noch verbleibendes Wassers auf die Melonenfelder fließen. „Und zwar genau eine Tonne pro Frucht, denn so viel verbraucht eine Melone von der Saat bis zur Ernte“, erfahren wir einige Zeit später von Fadel Naciri. Die saftig-roten Leckerbissen sind im Haus des Lehrers und Buchautors, der mit seiner Familie in Zagora lebt, einer Oasenstadt mit 40.000 Einwohnern im Süden des Landes, allerdings tabu. „Der Anbau von Melonen verbraucht Wasser, das wir eigentlich für den Anbau wichtiger Lebensmittel für die Marokkaner bräuchten. Vor allem für Getreide und damit für die Herstellung von Mehl. Tatsächlich importieren wir jedoch mittlerweile einen Großteil davon.“

Die Bewässerungspolitik Marokkos ist ein komplexes Thema – traditionellen Techniken stehen moderne Staudämme gegenüber. Diese und ein verändertes Klima haben zu dramatischem Wassermangel vor allen in den Wüstenregionen geführt. So hat der Bau eines Staudamms 1981 das traditionelle Leben der Nomaden in den Sandwüsten Erg Chegaga und Erg Chebbi beendet. Ohne Oasen kann das Wandervolk nicht überleben, weshalb sich ein Großteil in der Wüstenstadt Merzouga niedergelassen hat. Einige haben sich mit Touristen-Camps eine gute Einnahmequelle geschaffen, während andere in Zeltstädten leben, die teilweise an Flüchtingscamps erinnern.

Der Grund für dieses offensichtlich absolut irrationale Vorgehen der Bauern ist jedoch keine obsessive Vorliebe der Marokkaner für Melonen. „Es ist das Verlangen der Europäer nach den saftig-süßen Riesenfrüchten, deren Anbau deshalb von der EU gefördert wird, unter anderem mit Programmen wie Green Marokko. Die fördern allerdings nicht die Interessen der Marokkaner. Sie dienen vor allem der Befriedigung der Europäer, die unter dem Deckmantel vermeintlicher Förderungsprojekte auf diese Weise mehr Probleme als Lösungen schaffen“, formuliert es Fadel Naciri deutlich vor der Kulisse seines Gartens, mit dem er sich und einen Teil seiner Familie selbst versorgt. Und mehr noch: Auf den rund 200 Quadratmetern, die von den Wohngebäuden, einer kleinen Werkstatt, Schaf- und Hühnerställen eingerahmt sind, wachsen neben Obst und Gemüse zahlreiche Heilpflanzen wie Moringa oder Aloe Vera. Der Garten als Nahrungsquelle und Apotheke spielt in Marokko immer noch eine wichtige Rolle. „Er bedeutet vor allem Unabhängigkeit“, sagt Fadel Naciri, „und die ist in diesen Zeiten, in denen die Konsequenzen der Globalisierung Vieles auf den Kopf stellen, wichtiger denn je.“ Die möchte man sich in Marokko auch in Bezug auf das Bankensystem erhalten. Fadel erzählt: „In diesem Land hat man in der Vergangenheit möglichst darauf verzichtet, sich einen Kredit von der Bank zu holen. Wer ein Haus bauen möchte, für den hat die Familie gesammelt. In unserer Kultur bauen wir dabei Häuser, in denen Platz für mehrere Familienglieder ist. Denn das Zusammenleben ist ein wesentlicher Teil der marokkanischen Kultur.“ Für ihn und die meisten der Menschen, denen wir hier begegnen ist die Vorstellung von alten Menschen, die zu Tausenden in Heimen leben, unvorstellbar; ja grausam.

Wir spüren: Unabhängigkeit drückt sich hier anders aus. Sie bedeutet, sich im Zweifelsfall – wie während der Pandemie – ohne staatliche Hilfe organisieren zu können. Die Familie gibt Gemeinschaft und Schutz für Jung und Alt. Der Garten sorgt für Nahrungsmittel und Heilpflanzen, weshalb das Wissen um den Anbau sorgsam weitergegeben wird. Das gilt auch auch für die Haltung von Kleinvieh, die Schlachtung und das Konservieren von Lebensmitteln. Ein eigener Ofen ist obligatorisch und wer die Möglichkeit hat, der sorgt für einen eigenen Zugang zum Grundwasser. Diese Dinge sind für uns nicht neu, denn noch unsere Großeltern haben, ob nun mitten auf St. Pauli oder an der Ostseeküste, eine andere Unabhängigkeit gelebt. Es gab noch Gemüsegärten und selbst eingewecktes Obst, man wusste wie Butter, Essig und Brot hergestellt werden. Dieses Wissen ist in Deutschland jedoch im Laufe nur einer Generation fast gänzlich verloren gegangen.

 Nahrung, Wasser, Wärme, Schutz

Auf die Berge folgt die Wüste – die Heimat der Nomaden. Wir träumen von prachtvollen Zelten in in den Dünen, von Kamelkarawanen und Feuern unter dem Sternenhimmel. Doch, das traditionelle Leben der Nomaden hat spätestens mit dem Bau eines Staudamms in diesem Teil der Sahara geendet. Und dennoch dürfen wir dank Majoub, einem Nomaden, der noch in der Wüste geboren wurde, in ihre Geheimnisse eintauchen. Zwei Tage lang verbringen wir dort, erleben die Schönheit der sandigen Weite, aber auch ihre Gnadenlosigkeit – als wir uns in der Nacht in einem Dünental festfahren und auch Majoub spürbar unter Stress gerät, realisieren wir den Ernst einer solchen Lage und dass wir, im Alleingang, möglicherweise in ernsthafte Gefahr geraten wären.

Film: Team Ruge

Für eine vollständige Selbstversorgung mit Obst und Gemüse bräuchte es pro Person rund 160 Quadratmeter Fläche; tatsächlich sind jedoch nur noch rund 37 Millionen Deutsche im Besitz eines Gartens mit einer durchschnittlichen Größe von 345 Quadratmetern. Deutschland selbst hat in den Jahren 2019 und 2020 nur 37 Prozent des Eigenbedarfs an Gemüse produziert.  Zu den seit Jahren kontinuierlich steigenden Wasserpreisen kommen jetzt steigende Energiepreise – wobei die deutsche Kleinfeuerungsverordnung vorschreibt, dass Ende 2024 keinerlei Öfen mit Zulassung vor dem 21. März 2010 befeuert werden dürfen. Das Mehrfamilienhaus-Konzept leben in Deutschland knapp 5 Millionen Menschen, wobei 17,6 Millionen Deutsche in Singlehaushalten leben. Ende 2017 lebten rund ein Viertel aller 3,41 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland in Alten- und Pflegeheimen.

In Marokko versucht man dringend es zu bewahren. „Das ist wichtig“, sagt Fadel, „auch wenn Metropolen wie Casablanca oder Agadir im Spannungsfeld zwischen der eigenen und der Kultur des Westens zu zerreißen drohen. Dort spürt man die einsetzende Veränderung. Ich wünsche meinem Land, dass wir uns nicht weiter unterwerfen, sondern uns auf uns selbst besinnen. Unser großer Partner sollte dabei nicht Europa sein, sondern Afrika, denn das ist unsere Heimat“.
Noch liegt ein großer Teil davon vor uns und so machen wir uns auf den Weg Richtung Westsahara. Marokko hat die Region an der Atlantikküste Nordwestafrikas nach dem Abzug der  spanischen Kolonialmacht 1975 annektiert – die Sahrauis, die ursprünglichen Einwohner dieser Wüstenregion, streben jedoch nach Unabhängigkeit. Noch ist der Status unklar und die Vereinten Nationen verlangen ein Referendum, um über den völkerrechtlichen Status des Gebiets zu entscheiden. Der Ausgang ist immer noch ungewiss. Wir sind gespannt darauf, was uns erwartet und machen uns trotz dringender Reisewarnung des Auswärtigen Amts auf den Weg. Tiefer hinein in einen Kontinent, in eine Ungewissheit, die wir ebenso fürchten wie sie uns lockt.

Mehr auf Instagram: @myteacherafrica

LIKE A TREE, GO EASY

  When I am among the trees, 
Especially the palm trees, 
the oaks and the figue trees, 
they give off such hints of gladness. 
I would almost say that they have saved me, and 
daily. 
I am so distant from the hope of myself, 
in which I have goodness, and discernment, 
and never hurry through the world 
but walk slowly, and bow often. 
Around me the trees stir in their leaves 
and call out, 
„Stay awhile.“ 
Figue tree; 
„I’ll protect you under my shade“ 
The light flows from their branches. 
And they call again, 
„It’s simple“, they say, 
„and you too have to come 
into the world to do this, to go easy, to be 
filled 
with light, and to shine. 
 
Poem by Rania Attar