Grünes Marokko ohne Wasser
Der Weg führt uns von Marrakesch ostwärts tiefer ins Landesinnere. Trotz der zunehmenden Hitze steigt die Anzahl der Melonenverkäufer am Straßenrand. Manchmal trennen die aus Ästen und Plastikplanen gebauten Stände nur wenige hundert Meter. Die überdurchschnittlich großen Früchte haben die Verkäufer zu kleinen Pyramiden auf der staubigen Erde aufgestapelt und verlangen von uns 20 Dirham, also rund 2 Euro. Erstaunlich, dass dieser trockene Boden saftige Früchte in solchen Mengen hervorbringt. Umso mehr, als uns Juan, der in einer restaurierten Festung, einem so genannten Kasbah, ein Hotel betreibt, vom Wassermangel in der Region erzählt. Seine dramatische Schilderung über den ausbleibenden Regen in den vergangenen fünf Jahren und die zunehmende Hitze wird untermalt von zwei sich stetig abwechselnden tiefen Tönen. „Sie bohren nach Wasser“, sagt Juan, „doch der Mangel ist so verheerend, dass der ein oder andere Fund niemals ausreicht, um den Landstrich wiederzubeleben. Mittlerweile lässt die Hitze jeden Tag 500 Liter Wasser aus dem Pool verdampfen und ohne Schwimmbecken, das könnt ihr mir glauben, macht das Leben hier wenig Freude.“ Der war bis vor Beginn der Pandemie das Zentrum des Hotels mit 13 Zimmern, das nun in seiner Unbewohntheit auf bessere Zeiten wartet. Denen gibt Juan noch ein Jahr, wenn sie bis dahin nicht kommen, wir er das Kasbah nach 20 Jahren für immer schließen. Bis dahin wird, und wahrscheinlich auch darüber hinaus, ein Großteil des noch verbleibendes Wassers auf die Melonenfelder fließen. „Und zwar genau eine Tonne pro Frucht, denn so viel verbraucht eine Melone von der Saat bis zur Ernte“, erfahren wir einige Zeit später von Fadel Naciri. Die saftig-roten Leckerbissen sind im Haus des Lehrers und Buchautors, der mit seiner Familie in Zagora lebt, einer Oasenstadt mit 40.000 Einwohnern im Süden des Landes, allerdings tabu. „Der Anbau von Melonen verbraucht Wasser, das wir eigentlich für den Anbau wichtiger Lebensmittel für die Marokkaner bräuchten. Vor allem für Getreide und damit für die Herstellung von Mehl. Tatsächlich importieren wir jedoch mittlerweile einen Großteil davon.“
Die Bewässerungspolitik Marokkos ist ein komplexes Thema – traditionellen Techniken stehen moderne Staudämme gegenüber. Diese und ein verändertes Klima haben zu dramatischem Wassermangel vor allen in den Wüstenregionen geführt. So hat der Bau eines Staudamms 1981 das traditionelle Leben der Nomaden in den Sandwüsten Erg Chegaga und Erg Chebbi beendet. Ohne Oasen kann das Wandervolk nicht überleben, weshalb sich ein Großteil in der Wüstenstadt Merzouga niedergelassen hat. Einige haben sich mit Touristen-Camps eine gute Einnahmequelle geschaffen, während andere in Zeltstädten leben, die teilweise an Flüchtingscamps erinnern.
Der Grund für dieses offensichtlich absolut irrationale Vorgehen der Bauern ist jedoch keine obsessive Vorliebe der Marokkaner für Melonen. „Es ist das Verlangen der Europäer nach den saftig-süßen Riesenfrüchten, deren Anbau deshalb von der EU gefördert wird, unter anderem mit Programmen wie Green Marokko. Die fördern allerdings nicht die Interessen der Marokkaner. Sie dienen vor allem der Befriedigung der Europäer, die unter dem Deckmantel vermeintlicher Förderungsprojekte auf diese Weise mehr Probleme als Lösungen schaffen“, formuliert es Fadel Naciri deutlich vor der Kulisse seines Gartens, mit dem er sich und einen Teil seiner Familie selbst versorgt. Und mehr noch: Auf den rund 200 Quadratmetern, die von den Wohngebäuden, einer kleinen Werkstatt, Schaf- und Hühnerställen eingerahmt sind, wachsen neben Obst und Gemüse zahlreiche Heilpflanzen wie Moringa oder Aloe Vera. Der Garten als Nahrungsquelle und Apotheke spielt in Marokko immer noch eine wichtige Rolle. „Er bedeutet vor allem Unabhängigkeit“, sagt Fadel Naciri, „und die ist in diesen Zeiten, in denen die Konsequenzen der Globalisierung Vieles auf den Kopf stellen, wichtiger denn je.“ Die möchte man sich in Marokko auch in Bezug auf das Bankensystem erhalten. Fadel erzählt: „In diesem Land hat man in der Vergangenheit möglichst darauf verzichtet, sich einen Kredit von der Bank zu holen. Wer ein Haus bauen möchte, für den hat die Familie gesammelt. In unserer Kultur bauen wir dabei Häuser, in denen Platz für mehrere Familienglieder ist. Denn das Zusammenleben ist ein wesentlicher Teil der marokkanischen Kultur.“ Für ihn und die meisten der Menschen, denen wir hier begegnen ist die Vorstellung von alten Menschen, die zu Tausenden in Heimen leben, unvorstellbar; ja grausam.
Wir spüren: Unabhängigkeit drückt sich hier anders aus. Sie bedeutet, sich im Zweifelsfall – wie während der Pandemie – ohne staatliche Hilfe organisieren zu können. Die Familie gibt Gemeinschaft und Schutz für Jung und Alt. Der Garten sorgt für Nahrungsmittel und Heilpflanzen, weshalb das Wissen um den Anbau sorgsam weitergegeben wird. Das gilt auch auch für die Haltung von Kleinvieh, die Schlachtung und das Konservieren von Lebensmitteln. Ein eigener Ofen ist obligatorisch und wer die Möglichkeit hat, der sorgt für einen eigenen Zugang zum Grundwasser. Diese Dinge sind für uns nicht neu, denn noch unsere Großeltern haben, ob nun mitten auf St. Pauli oder an der Ostseeküste, eine andere Unabhängigkeit gelebt. Es gab noch Gemüsegärten und selbst eingewecktes Obst, man wusste wie Butter, Essig und Brot hergestellt werden. Dieses Wissen ist in Deutschland jedoch im Laufe nur einer Generation fast gänzlich verloren gegangen.