… EIN KALEIDOSKOP.
AFRIKA IST …
Sein Antlitz verändert sich selbst bei geringster Verschiebung der Perspektive. Dieser Tage kommt eine Regenzeit hinzu, deren Ausmaß auch die Ältesten so noch nicht erlebt haben. Straßen verwandeln sich in reißende Flüsse, Häuser werden hinweggespült und auf den Feldern der Westküste verfault die Ernte. Die Strom- und Wasserversorgung ist in weiten Teilen unterbrochen und die Moskitopopulation explodiert. Die Nachrichten erzählen von den ersten Todesopfern in Ghana und Nigeria. So haben wir entschieden, eine Pause einzulegen, um uns, und vor allem unsere kleine Tochter, nicht in Gefahr zu bringen. Und hatten nach anstrengenden Tagen auf aufgewühlten Pisten und durch geflutete Landschaften endlich Zeit, den ersten Teil unserer Reise durch den Senegal in Worte zu fassen. Dieses Land, in dem über 20 Ethnien sich unter dem Wahlspruch „Un Peuple, Un But, Une Foi“ vereint haben. Ein Volk wollen sie sein mit einem Ziel und einem Glauben.
Gewaltig sind ihre Stämme, aus denen weitverzweigte Äste nach dem Himmel greifen. In ihnen wohnen die Götter und hausen die Geister. Nahezu jeder Teil ihres Seins soll Kraft und Gesundheit schenken. Im Senegal sehen wir zum ersten Mal Baobab-Bäume, die den Wechsel in tropische Landschaften ankündigen. So beeindruckend sind sie, dass sie sich in zahlreichen afrikanischen Schöpfungsmythologien finden. So soll der Teufel selbst den Baum einst ausgerissen und ihn mit den Zweigen voran in die Erde gesteckt haben, sodass nun die Wurzeln in die Luft ragen. Eine andere Schöpfungsgeschichte erzählt von einer Hyäne, die beim Anblick ihrer Hässlichkeit auf einem spiegelnden Wasser so zornig wurde, dass sie einen Babobab ausriss und ihn gen Himmel Richtung Schöpfer schleuderte. Der Baum jedoch verfehlte sein Ziel und fiel verkehrt herum auf die Erde zurück, wo er seitdem mit den Wurzeln nach oben wächst.
Bereits Ende August kündigt sich eine ungewöhnlich heftige Regenzeit an – tatsächlich kommt es derzeit in Westafrika zu den stärksten Niederschlägen seit Jahrzehnten, sodass weite Teile des Kontinents nur schwierig oder gar nicht passierbar sind.
Die mächtige Präsenz dieser uralten Bäume ist tatsächlich beeindruckend, umso mehr, als wir gerade die karge Wüstenlandschaft Mauretaniens durchquert haben. Schlag Grenzübergang ist die Welt plötzlich saftig Grün, das in Hunderten von Schattierungen leuchtet, tropft, glänzt und schimmert. Im Dunkel der Nacht, in der wir den Nationalpark durchquert haben, ist der Wandel an uns vorbeigerauscht. Wohl auch, weil wir einer womöglichen Verfolgung entkommen mussten. Doch der Schrecken der Nacht beginnt bereits zu verblassen und hallt nur noch wie ein unangenehmer Traum nach. Apropos Traum – ein weiterer Grenzposten liegt vor uns und die sind in Afrika meist albtraumhaft konnotiert. Vor allem der Übergang von Mauretanien nach Senegal über den Ort Rosso. Dort sollen Reisende tagelang festgehalten und um die Rückgabe ihrer Pässe erpresst werden oder vierstellige Phantasiegebühren zahlen. Und so haben wir uns für den kleineren der zwei Grenzübergänge entschieden: Diama ist zwar schwieriger zu erreichen, da es keine festen Straßen gibt, aber es soll dort ruhiger zugehen. Tatsächlich ist es noch still, als wir um acht Uhr den Schlagbaum erreichen, lediglich ein paar Hunde, Katzen und Ziegen spazieren die vom Regen aufgeweichte Piste entlang. Die mauretanischen Grenzbeamten unterbrechen ihr Frühstück und bitten uns in ihr Häuschen. Unsere Papiere werden studiert und anstandslos abgestempelt – weiter geht es 200 Meter auf senegalesisches Territorium.
Immer mal wieder fahren wir kurze Abschnitte in der Kolonne mit anderen Reisenden, die meist in großen und schweren Vans oder Trucks unterwegs sind. Weil unser Defender auch in schwierigem Gelände und trotz des Regens schnell und wendig ist, bilden wir dabei meist die Vorhut und erkunden das Gelände. Wenn die Autos dann am Abend im Karree stehen, wird es manchmal fast heimelig.
Wir warten auf unseren Passmann, als ein italienischer Motorradfahrer neben uns hält, den Helm abnimmt, an seiner schlammverkrusteten Kleidung hinunterschaut und den Kopf schüttelt. Michel grüßt ihn freundlich auf Italienisch und das erschöpfte Gesicht des Italieners hellt sich auf: „Niente più Rosso. Banda di maiali!“, flucht er. Wir erfahren, dass er für die Durchfahrt 1.000 Euro zahlen sollte. Nach stundenlangen Warten hat er schließlich umgedreht und sich durch vom Regen aufgewühlte Pisten bis nach Diama gewühlt. Gemeinsam queren wir auch zügig die senegalesische Grenze. Kaum hat der Defender auf Asphalt aufgesetzt, bremst Michel wieder ab – wir erkennen den Truck eines Paares, das wir in Westsahara getroffen haben. Wir freuen uns über das Wiedersehen, doch die Gesichter der Franzosen wirken erschöpft. Sie berichten von unpassierbaren Straßen, zumindest für ihr schweres Gefährt, aber auch von wütenden Angriffen und gnadenlosen Beamten. Ihnen ist die Freude verloren gegangen und so haben sie an der Grenze zu Gambia kehrtgemacht: „Zu viel Dreck, zu viel Korruption, zu viel Hass und jetzt auch noch der heftige Regen“, sagen sie und wollen heimkehren. Zum Abschied schenken sie uns ihre senegalesische Telefonkarte und empfehlen uns noch einen Rastplatz in St. Louis.
„Das sind nun schon die fünften Europäer, die auf dem Weg nach Südafrika umkehren“, sagt Michel, als wir weiterfahren. „Und auch sie wurden angegriffen. Merkwürdig oder?“, sagt Anni. Doch so merkwürdig ist es nicht, denn so nett alle unsere Reisebekanntschaften auch waren, sie hatten eines gemeinsam: Ihr Auftreten gegenüber den Afrikanern war stets von offensichtlichem Misstrauen begleitet, von einer Furcht über den Tisch gezogen oder gar beklaut zu werden. So kam einer der Franzosen, mit denen wir die Wüste Mauretaniens durchquert haben, auf die Tankstelle gerauscht, an der wir gerade waren und rief lauthals aus dem Autofenster: „Nicht vor dem Tanken bezahlen!“. Der mauretanische Tankwart schüttelte beinahe unmerklich den Kopf und wir schämten uns.




Ein anderer ließ uns nach der Einreise nach Mauretanien wissen, dass er auf dem Dach seines Trucks Haschisch geschmuggelt hat. In einem Land, in dem die Scharia gilt, hätte uns das selbst als ahnungslose Reisegefährten Kopf und Kragen kosten können. Nun, er kann froh sein, dass Michel ihm Kopf und Kragen gelassen hat – unsere Wege haben sich allerdings rasch getrennt. Nicht auszudenken, was eine Verhaftung in einer islamischen Republik wegen Beihilfe zum Drogenschmuggel bedeutet hätte. Wir erleben Reisende, deren hochgerüstete Trucks, deren Kleidung und innere Einstellung die tatsächliche Berührung mit den Afrikanern unbedingt vermeiden will. Wir fragen uns, warum sie ausgerechnet diesen Kontinent gewählt haben und finden keine rechte Antwort darauf. „Vielleicht ist der Affenbrotbaum in ihrem Herzen zu groß geworden“, sagt Anni. Michel horcht auf. „Wie meinst Du das?“, fragt er. Anni zeigt auf die Baobabs, die überall in der Landschaft stehen: „Der Planet des kleinen Prinzen war voller Affenbrotbaumsamen, die er jeden Tag aufgesammelt hat aus Angst davor, dass die Bäume wachsen und seine Wurzeln den gesamten Planeten sprengen. Es heißt, Antoine de Saint-Exupéry hat diese Metapher als Ausdruck unserer Ängste gewählt.“ „Verstehe“, sagt Michel, „aber wie kommst Du jetzt auf den kleinen Prinzen? Wegen der Bäume?“. „Wegen der Bäume und weil Antoine de Saint-Exupéry viel Zeit im Senegal verbracht hat. Vor allem in St. Louis.“ Michel tritt erneut auf die Bremse, steigt aus und schnallt Jaguar aus ihrem Kindersitz. „Komm‘ mit“, sagt er und schreitet mit Jaguar auf dem Arm durch das Gras Richtung Affenbrotbäume. Ihre ausladenden Dächer spenden wohltuenden Schatten und Jaguars kleine Hände streichen über die Haut eines mächtigen Baobab. In ein paar Metern Entfernung zieht eine Horde Affen vorbei. Es sind hochgewachsene Tiere, deren Köpfe bis zu unseren Hüften reichen. „Wir sind in Afrika“, sagt Michel. Und das sind wir – mit Eintritt in den Senegal haben wir die Sahara hinter uns gelassen und die Subsahara erreicht, in der 49 der insgesamt 54 Staaten des Kontinents liegen.
DAS WAPPEN DES SENEGALS ZEIGT NEBEN EINEM GOLDENEN LÖWEN EINEN AFFENBROTBAUM. EIN BAOBAB-BAUM KANN BIS ZU 30 METER HOCH UND BIS ZU 2.000 JAHRE ALT WERDEN. DER ÄLTESTE DIESER BAUMRIESEN STEHT SEIT 6.000 JAHREN IN DER SÜDAFRIKANISCHEN PROVINZ LIMPOPO.
Wir fahren weiter zum Campingplatz, den uns die Franzosen ans Herz gelegt haben und der Zebrabar heißt. Der Weg dorthin führt uns durch einen Teil von St. Louis. Entlang des Flusses reihen sich Wohn- an Gewerbegebiete mit Häusern, von denen einige mit bunten Kacheln verkleidet und mit bepflanzten Blumenkästen geschmückt sind. Andere haben die halb fertige Optik, die wir bereits kennen, andere sind niemals fertig gebaut worden und in den Fundamenten steht das Wasser, auf denen Plastikflaschen und leere Kanister müde in der Sonne treiben. Die erste Reihe mit Wasserblick wirkt daher wie ein gebeuteltes Gebiss mit kariösen Zähnen und Lücken. Auf der Teerstraße, die Häuser und den Fluss Senegal trennen, liegen dicke Schläuche – die Menschen pumpen das Wasser aus Erdgeschossen und Gärten. Und so humpeln die bunt bemalten Busse, an denen die Menschen wie Trauben hängen, die gelben Taxis und die Mischung aus von Gaffatape zusammengehaltenen Schrottkarren und nagelneuen Geländewagen über die Uferstraße. Der Defender nimmt die Hindernisse mit gewohnter Leichtigkeit und das langsame Tempo lässt uns Zeit zum Schauen. Auch hier leben Mensch und Tier auf engsten Raum miteinander, stehen Pferde und Esel angebunden vor den Häusern, um die die Ziegen ziehen. „Wie können die eigentlich die ganzen Ziegen auseinanderhalten?“, fragt Anni. Jaguar, die sich längst an den Anblick von Ziegen im Straßenverkehr gewöhnt hat, zeigt aufgeregt aufs Wasser: Es ist voller länglicher bunter Boote. Auf dem gesamten Weg bis zur Zebrabar sehen wir Menschen fischen – einige haben sich direkt am Straßenrand platziert und werfen die Netze aus, andere stehen bis zum Bauchnabel im Wasser. „Dann wird es bestimmt viel Fisch geben“, freut sich Michel. Und tatsächlich ist die Küche in der Zebrabar, die wir kurz darauf erreichen, eine echte Überraschung. Es gibt, nachdem wir den Defender abgestellt haben, ein spätes Mittagessen für uns auf der strohüberdachten großen Terrasse, das einfach, aber schmackhaft ist – in Zwiebeln und Tomaten gegarter Fisch. „Wir leben vom Fisch – wir essen viel davon und er ist unser wichtigstes Wirtschaftsgut“, erfahren wir von Karim, der über den Platz wacht. Sein Blick schweift zum Strand am Flussufer: „Obwohl, es gibt immer weniger. Und er wird immer teurer“. Tatsächlich ist der Atlantik vor Westafrika das fischreichste Gewässer der Erde, doch die Bestände schwinden und mit ihnen der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes.

Einfache Pritschenwagen, die von Ponys und Pferden gezogen werden, gehören im Senegal ebenso zum Stadtbild wie nagelneue SUVs.
In St. Louis verbringen wir einige Zeit auf dem Campingplatz „Zebrabar“, der direkt am Flussufer des Senegal und am Eingang zum Nationalpark liegt. Das liebevoll gestaltete Gelände gehört einem Ehepaar aus der Schweiz, das während unseres Besuchs nicht vor Ort ist, aber von Jaguars großer Liebe zu der kleinen Metallgiraffe hört, die vor der Terrasse zum Restaurant steht. Kurz bevor wir abreisen erhalten wir einen Anruf und sie schenken Jaguar eine neue Reisegefährtin. Und so reist die kleine Zebrabar bis heute auf der Rückbank im Defender mit uns.
Wie rau das Leben der Fischer hier zugeht, das erleben wir am nächsten Morgen um drei Uhr in der Frühe, als uns die Lichter vom Fluss im Dachzelt wecken. Im Schein der Taschenlampen sortieren die Männer die Netze in die Pirougen, so heißen die Boote, packen Planen und Eimer hinein und stoßen sie schließlich ins Wasser – jeweils drei bis sechs von ihnen machen sich pro Gefährt auf in die Nacht, auf der Suche nach Schwertfischen, Sardinen oder Wolfsbarschen. Erst gegen Mittag werden sie zurückkehren und ihren Fang entweder auf dem örtlichen Markt verkaufen oder an die Händler vom zentralen Fischmarkt in der Hauptstadt Dakar. Als wir sie am Ufer erwarten, sind sie freundlich, aber zurückhaltend und auch ein bisschen wütend, als Anni die Kamera zückt: „Keine Fotos“, ruft einer. Anni entschuldigt sich und im Gespräch bekommen wir eine Idee davon, warum sie nicht fotografiert oder gefilmt werden möchten. Weil der Fischfang längst kein sicheres Einkommen mehr ist, haben sich einige auf das Geschäft mit den Schleusern eingelassen. Das führt zu strengen Kontrollen der Küstenwache und überhaupt dazu, dass die eh schon raue Fischerei immer härter wird. „Es gibt Fischer, die Flüchtlinge in diesen Booten bis zu den Kanaren bringen“, erzählen sie und werfen Jaguar dabei kleine bunte Fische in den Sand, die sie aufmerksam studiert. „Wir können unsere Kinder hiermit kaum noch ernähren“, sagt einer und wuchtet die nassen Netze aus seinem Boot.
Aus der Küche der Zebrabar kommen die Frauen mit großen Plastikschüsseln, um Fisch für die Gäste zu kaufen. Heute sind es Sardinen, deren Preis in den vergangenen zehn Jahren um das Zwanzigfache gestiegen ist. „So oder so zu teuer“, sagt Michel, als wir die Fische am Abend essen, denn sie sind voller Gräten. Wir zerpflücken die Fische mit den Händen, sehr zur Freude von Jaguar und den Katzen, denen wir die Reste hinwerfen. Die Sonne ist längst untergegangen und aus dem Dunkel des Platzes ertönt immer wieder ein leises „Plong“. „Was ist das für ein Geräusch?“, fragt Anni und Karim lacht: „Krabben. Sie kommen bei Dunkelheit aus ihrem Bau und weil sie schlecht sehen, laufen sie ständig überall gegen.“ Auf dem Weg ins Dachzelt leuchtet Michel mit der Taschenlampe den Weg und jetzt sehen wir sie – sie sind riesig! Ungefähr 40 Zentimeter breit sind die Körper mit entsprechend großen Scheren. Wir laufen im Slalom um sie herum und sind froh, als wir im Dachzelt liegen. „Mal sehen, welchen Fisch es morgen gibt. Hoffentlich keine Sardinen. Thunfisch wäre toll“, sagt Michel. Doch das ist unwahrscheinlich, denn deren Bestand ist in den vergangenen Jahren um 90 Prozent zurückgegangen.
DIE EUROPÄISCHE UNION FÖRDERT DIE NACHHALTIGE FISCHEREI IM SENEGAL MIT ÜBER ZWEIEINHALB MILLIONEN EURO JÄHRLICH. IM GEGENZUG ERHALTEN INDUSTRIESCHIFFE AUS DER EU UMFÄNGLICHE FANGRECHTE UND NEHMEN DEN EINHEIMISCHEN FISCHERN SO DIE LEBENSGRUNDLAGE. NEBEN DEN LÄNDERN DER EU SCHICKEN AUCH CHINA UND DIE TÜRKEI SCHIFFE IN SENEGALESISCHE GEWÄSSER. DIE FISCHER WEHREN SICH UND SO FÜHRTE EINE 2020 INITIIERTE KAMPAGNE DAZU, DASS DAS FISCHEREIMINISTERIUM ALLE NEUEN LIZENZANTRÄGE ABWIES. DENNOCH BLEIBT DAS BESTEHENDE AUSMASS AUSLÄNDISCHER PLÜNDERUNG FÜR DIE FISCHER SENEGALS EIN EXISTENZIELLES PROBLEM.
Der Fluss Senegal ist nicht nur Namensgeber des Landes, sondern seine Lebensader – der Fischfang ist der wichtigste Wirtschaftszweig, der sich jedoch aktuell von der EU und der Gier nach Fisch und Seafood anderer Länder bedroht sieht.
Schon früh am nächsten Morgen sehen wir die Frauen in der Küche der Zebrabar Fische schuppen und Zwiebeln schälen, die sie in großen Schüsseln mit Wasser legen. „Das mildert die Schärfe“, sagt die Köchin und rührt parallel immer wieder in einem großen Topf, in dem sie Marmelade aus Mangos kocht. Jaguar reckt ihre Nase in die Höhe, sie liebt die süßen Früchte, die im Senegal von Juni bis Ende August geerntet und zuhauf an jeder Straßenecke angeboten werden. Ihr Geschmack ist nicht zu vergleichen mit deutscher Supermarktware und weil auch Michel die ursprünglich aus Indien stammende Frucht so liebt, essen wir sie fast täglich. „Sie wird auch Liebesfrucht genannt“, witzelt Karim und zwinkert den Frauen in der Küche zu, die herzhaft lachen und ihm mit dem Kochlöffel drohen. Überhaupt ist die Stimmung ausgelassen und fröhlich und hetzen lässt sich hier niemand. Und so dauert es schon mal 20 Minuten bis der Kaffee aus der Küche kommt. Uns ist es egal, denn wir haben uns längst an den veränderten Rhythmus der Zeit gewöhnt. So hat der kenianische Philosoph und Professor John Mbiti behauptet, dass die Zeit im afrikanischen Bewusstsein in Ereignisse eingeteilt wird und sich deshalb erheblich vom Zeitbegriff westlicher Kulturen unterscheide. Er beschreibt die Einteilung in Ereignisse, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, in solche, die in diesem Moment oder in der unmittelbaren Zukunft stattfinden oder jene, die als natürliche Phänomene immer wiederkehren. Alles, was sich nicht in diese Kategorien einordnen lässt, wird nicht als Zeit wahrgenommen; es ist quasi Nichtzeit.
„WAS JETZT STATTFINDET, ENTFALTET ZWEIFELLOS DIE ZUKUNFT, WENN ABER EIN EREIGNIS EINMAL STATTGEFUNDEN HAT, IST ES NICHT MEHR IN DER ZUKUNFT, SONDERN IN DER GEGENWART UND IN DER VERGANGENHEIT. WIRKLICHE ZEIT IST ALSO, WAS GEGENWÄRTIG UND VERGANGEN IST. SIE BEWEGT SICH RÜCKWÄRTS, NICHT VORWÄRTS; UND DIE MENSCHEN RICHTEN IHREN GEIST NICHT AUF KÜNFTIGE DINGE, SONDERN HAUPTSÄCHLICH AUF DAS WAS STATTGEFUNDEN HAT.“ SO BESCHRIEB DER PHILOSOPH UND PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT BERN, JOHN MBITI, DER 1931 IN KENIA GEBOREN WURDE UND 2019 IN DER SCHWEIZ VERSTARB, DEN TRADITIONELLEN AFRIKANISCHEN ZEITBEGRIFF.
Tatsächlich haben wir in den ersten Wochen in Afrika eine Ungeduld in uns bemerkt, wenn wir kurz in den Supermarkt springen wollten, um rasch ein paar Flaschen Wasser zu kaufen. Aus geplanten zehn Minuten wird nämlich schnell eine halbe Stunde, wenn für uns im gefühlten Schneckentempo das fehlende Wechselgeld aus der Nachbarkasse geholt wird oder das Kartenlesegerät vom anderen Ende des Supermarkts. Wenn sich dabei noch unterhalten wird oder unterwegs spontan ein paar Kartons von rechts nach links sortiert werden, kann das, dass westliche Zeitempfinden erheblich auf die Probe stellen. Überhaupt sind die Tage deutlich weniger nach unserer Vorstellung strukturiert und es herrscht fast rund um die Uhr Leben im öffentlichen Raum. Dass um 20 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden und sich das Leben hinter privaten Gardinen und vor dem Fernseher abspielt, ist im Senegal nicht zu beobachten. Die Straßen sind bis weit in die Nacht von dichtem Gedränge erfüllt, staatliche geregelte Öffnungszeiten für den Verkauf von Waren scheint es nicht zu geben – zu allen Zeiten sind Menschen irgendwohin unterwegs.
Und dabei beeindrucken vor allem die senegalesischen Frauen selbst in der größten Mittagshitze mit einem eleganten Kleidungsstil: Zu den taillierten Oberteilen mit Schößchen über figurbetonten Röcken wird ein Kopftuch aus dem gleichen Stoff getragen. Genäht werden sie aus Waxprints, deren bunte Vielfalt mit Westafrika assoziiert wird. Ihr tatsächlicher Ursprung liegt jedoch außerhalb Afrikas – Ende des 16. Jahrhunderts importieren die Niederländer Batikstoffe aus Indonesien und verkauften sie nach Großbritannien. Später entwickelten Holland und England eine eigene Produktion und verkauften die industriell gefertigten Stoffe in die Kolonien Westafrikas. Bis heute wird ein Großteil der oft als traditionell empfundenen Stoffe nicht in Afrika, sondern in den Niederlanden und sogar in China produziert und nach Afrika verkauft. Ein irrwitziger Zustand, denn ein Großteil der dafür verwendeten Baumwolle stammt aus Westafrika selbst – bis zu 95 Prozent des weißen Goldes verlassen jährlich den Kontinent, um auf Umwegen in anderer Form zurückzukehren. Die immer wieder geforderte Verarbeitung der Baumwolle im eigenen Land würde die dem Weltmark zur Verfügung stehende Menge spürbar begrenzen, weshalb das Interesse am Aufbau einer eigenen Bekleidungsindustrie an entscheidender Stelle ebenfalls begrenzt sein dürfte.
SENEGAL IST DAS MODEZENTRUM WESTAFRIKAS – HIER HAT DIE SENEGALESISCHE DESIGNERIN ADAMA PARIS VOR 20 JAHREN IN IHRER HEIMATSTADT DAKAR DIE ERSTE DAKAR FASHION WEEK GEGRÜNDET UND VOR 17 JAHREN IHRE ERSTE BOUTIQUE ERÖFFNET. DIE INTERNATIONAL ERFOLGREICHE DESIGNERIN, DIE UNTER ANDEREM BEYONCÉ EINKLEIDET, BESITZT AUSSERDEM EINEN EIGNEN TV-SENDER, DER RUND UM DIE UHR ÜBER AFRIKANISCHE MODE BERICHTET UND VERANSTALTET WELTWEIT DIE BLACK FASHION WEEK. JETZT GREIFT SIE JUNGEN KREATIVEN AUS DER FASHION-BRANCHE UNTER DIE ARME, UM IHNEN EINE INTERNATIONALE BÜHNE ZU GEBEN.

Und auch die Mitarbeiterin im Hotel de la Poste begrüßt uns in einem Kleid aus Dunkelblau und Gold mit passendem Kopfschmuck und großen goldenen Ohrringen. Ihre sorgfältig geschminkten Lippen verziehen sich jedoch zu einem weniger schönen Lächeln, als wir an einem Nachmittag das geschichtsträchtige Haus besuchen. Hier hat Antoine des Saint-Exupéry als Luftfracht-Pilot viele Tage und Nächte verbracht und somit ist das Hotel, das direkt am Ufer des Flusses Senegal liegt, eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt, dessen Besichtigung bei jedem französischen Staatsbesuch obligatorisch ist. Die gute Frau begegnet uns mit eigentümlicher Kühle und spätestens als Michel sie auf ein Wandbild in der Bar anspricht, das halb nackte schwarze Frauen mit offensichtlich im Kolonialstil gekleideten Beamten bei einer Bootstour mit exotischen Tieren zeigt, schnappt sie vollends ein. Auf die Frage, welche Rolle der Kolonialismus in der Gegenwart in St. Louis spielt, findet sie keine Antwort. „Ich beantworte ausschließlich Fragen zum Hotel“, sagt sie und wirkt beinahe hasserfüllt. Erst als Jaguar fröhlich auf eine Trommel zuläuft, werden ihre Gesichtszüge wieder weicher. Dennoch ist die Atmosphäre zwischen uns jetzt belegt und es will keine Freundlichkeit mehr ins uns dreien aufkommen.
Als Jaguar versucht, das Fell der Trommel zu erreichen, tritt ein junger hochgewachsener Mann aus dem Halbdunkel der Bar, legt die Trommel seitlich auf die Erde und kniet sich auf die Erde. „Jetzt kannst Du die Trommel schlagen“, sagt er freundlich lächelnd auf Französisch zu Jaguar, die sich nicht bitten lässt und mit ihren Händen erste Rhythmen probt. Gemeinsam erkunden sie das mit Schnitzereien verzierte Instrument und wir sind froh, dass sich ein wenig von dem kindlich-zärtlichen Geist des kleinen Prinzen in den alten Mauern zeigt. Der Mann, so erfahren wir nach Ende einer ausgelassenen Jamsession, heißt Harim und ist für die Sicherheit des Hotels zuständig. „Ich habe selbst vier Kinder“, erzählt er und streicht der kleinen Jaguar, die zu ihm aufstrahlt, über das Haar. „Du bist ein besonderes kleines Mädchen“, sagt er. Sie ist jetzt vor allem hungrig und als wir Harim fragen, wo wir Obst in der Nähe kaufen können, bittet er einen Kollegen zu übernehmen und geht mit uns hinaus auf die Straße. Händler und Vorbeigehende grüßen ihn, er ruft anderen freundliche Worte zu und hält schließlich an einem Stand mit einer älteren Dame. „Meine Großmutter“, sagt Harim. Die packt jetzt eine Tüte mit feldfrischen Mangos, Äpfeln, Bananen und Mandarinen für Jaguar und berechnet dafür einen lächerlich niedrigen Preis. Die Geldscheine steckt sie in eine altmodische schwarze Damenhandtasche mit großem goldenen Schnappverschluss. Jaguar möchte die schwere Tüte selbst zurück ins Hotel tragen und Harim bietet ihr seine Hilfe an.

An allen Orten begegnen wir Familien mit Kindern, sodass Jaguar fast täglich Spielkameraden findet. Meist wird dabei mit aus einfachsten Dingen gefertigtem Spielzeug gespielt – so wie hier in einem kleinen Vorort von St. Louis, in dem sich Dosen und Plastikflaschen in Raketen, Flugzeuge und Autos verwandeln. Jaguar wird überall sofort aufgenommen und wie selbstverständlich wird alles mit ihr geteilt. Und auch sie möchte teilen und so wird der kleine Koffer mit Spielzeug, den sie mitgenommen hat, im Laufe der Fahrt immer leerer; ihr Herz dafür immer voller an wunderbaren Erfahrungen.
Als ein älterer, elegant gekleideter Herr Harims Namen ruft, blickt dieser auf und macht den Rücken sehr gerade. Der Ältere stützt sich auf einen Stock und begrüßt uns sehr freundlich. Wir erfahren, dass es sich um Harims Großvater handelt, der sogleich sehr stolz über seinen Enkel spricht: „Ein freundlicher junger Mann. Und sehr fleißig. Er hat sein eigenes Sicherheitsunternehmen gegründet.“ Zum Abschied legt er Harim seine Linke auf die Schulter und wir kehren zum Hotel zurück. Während Jaguar damit beginnt, ihre Beute zu zerlegen, erzählt Harim, dass er den Fulbe angehört. Einem Nomadenvolk, das mit der Islamisierung sesshaft geworden ist. Sein auf uns sehr geschliffen anmutendes Verhalten, seine natürliche Noblesse und ausgesuchte Höflichkeit basieren, das erfahren wir nun, auf dem Pulaaku, dem Kodex, nach dem die Fulbe leben. „Wir legen größten Wert auf Selbstbeherrschung, Zurückhaltung, Ehrlichkeit und einen gebildeten Geist. Unser Handeln muss sich immer an drei Grundsätzen ausrichten. Wata a hersa bedeutet, sich selbst keinen Anlass zur Schande zu geben. Wata a hula heißt, niemals Furcht zu haben und Wata a fena verbietet es uns zu lügen. Wer dagegen verstößt, wird aus der Gemeinschaft ausgestoßen“, erklärt Harim. Und so ist es den Fulbe nur erlaubt, innerhalb ihrer eigenen Volksgruppe Ehen zu schließen, um die Tradition zu bewahren.
IM SCHÖPFUNGSMYTHOS DER FULBE HAT DER HÖCHSTE GOTT GENO DIE WELT AUS EINEM TROPFEN MILCH DER UR-KUH ITOORI ERSCHAFFEN. ANSCHLIESSEND SCHUF ER DIE KUH, DEN MANN UND DIE FRAU. MILCH IST DAHER BIS HEUTE NICHT NUR EIN NAHRUNGSMITTEL, SONDERN TRÄGT EINE HOHE SYMBOLISCHE BEDEUTUNG. SO WIE DIE MILCH MUTTER UND KIND VERBINDET, VERBINDET DIE MILCH DIE FULBE MIT IHREN KÜHEN. DIE BEDEUTSAMKEIT ZWISCHEN MENSCH, MILCH UND KUH DRÜCKT SICH AUCH IM GEREGELTEN UMGANG MIT MILCHGEFÄSSEN AUS – SO DÜRFEN DIE FRAUEN DER FULBE WÄHREND DER MENSTRUATION DIE MILCHGEFÄSSE NICHT BERÜHREN.
Tatsächlich gelingt es den rund 17 Millionen Senegalesen seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Juni 1960 trotz der Vielzahl an Ethnien friedlich zusammenzuleben. Einzige Ausnahme bildet die Casamance – die Region im Süden des Landes wird überwiegend vom Volk der Diola bewohnt, die nach Unabhängigkeit streben. Trotz erheblicher Probleme wie hohe Arbeitslosigkeit, eine stark anwachsende Bevölkerung, Energieknappheit und aktuell die Weizenkrise, bleibt das gesellschaftliche Klima in Senegal ruhig. Tatsächlich sehen viele Menschen das Ausbleiben der Lieferungen von Billigweizen aus Europa und Russland als Chance für die Wiederbelebung der eigenen Getreidekultur wie beispielsweise Hirse. Längst ist Brot im Senegal politisch geworden, aber auch ein Symbol für Freiheit. Ob nun Brot oder Baumwolle, Coltan oder Gold – der natürliche Reichtum des Kontinents protzt jeden Tag aufs Neue mit der Möglichkeit, sich in allen Belangen unabhängig zu machen. „Es ist viel schwerer, sich selbst zu verurteilen, als über andere zu richten“, sagt Harim. „Ist nicht von mir, sondern aus der kleine Prinz“.


Während seine Worte in uns nachhallen, laden wir unsere Taschen in den Defender. Unser Weg führt uns weiter nach Dakar. „Von St. Pauli nach Dakar“, lacht Michel und wir freuen uns darauf, das einstige Ziel der bedeutendsten Langstreckenrallye der Welt zu erkunden. Dabei hat man uns dringend davon abgeraten, mit dem Auto in die Hauptstadt zu fahren – zu abenteuerlich sei der Verkehr, der unübersichtlich und wild kaum von den Einheimischen unfallfrei zu bewältigen sei. „Also genau richtig für dich“, sagt Anni. Ein winkender Harim wird im Rückspiegel immer kleiner und die stählernen Streben der Brücke, die nach dem ehemaligen französischen Gouverneur Louis Faidherbe benannt ist, schneidet das Licht der tief stehenden Nachmittagssonne in leuchtende Splitter. Wir fahren durch ein Kaleidoskop, immer tiefer hinein in das, was zur Zeit des europäischen Kolonialismus Schwarzafrika genannt wurde. Heute sagt man besser Subsahara-Afrika, also das Afrika südlich der Sahara. „So ein Blödsinn“, sagt Michel, „der Kolonialismus hat doch nie aufgehört. Diese Umetikettierung ist ein weiterer großer Sprachschwindel der Woke-Bewegung.“
Wir passieren die erste Mautstation Richtung Dakar und der Defender streckt sich. „Alle Straßen führen zu Menschen“, zitiert Anni die kleine strohblonde Figur, deren irdische Geschichte in der afrikanischen Wüste beginnt, zum Abschied von St. Louis. In ihrem Kindersitz schläft eine von süßen Früchten gesättigte kleine strohblonde Jaguar. Alle großen Leute waren einmal Kinder, aber nur wenige erinnern sich daran. Unsere Tochter wird sich vielleicht nicht an konkrete Ereignisse dieser Reise erinnern. Aber sie wird ganz bestimmt einen Samen in ihrem Herzen pflanzen, aus dem Etwas erwächst, dessen Wurzeln sie mit allen Menschen verbindet.
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Mit jedem Tag spüren wir mehr und mehr, wie gut die Reise unserer kleinen Tochter tut – sie genießt das tägliche Zusammensein mit uns, die gemeinsamen Erfahrungen, die Natur und die Nähe zu den Menschen. Sie ist fröhlich und mutig – und erklimmt mit 18 Monaten selbstständig die Leiter zum Dachzelt auf dem Defender.