Folge 3

Afrika ist…

Westsahara erzeugt gespaltene Gefühle in uns, an der Grenze zu Mauretanien wird Michel für Brad Pitt gehalten und das in Deutschland nahezu unbekannte Mauretanien zieht uns in seinen Bann. Auf den ersten 3.000 Kilometern durch Marokko und Mauretanien bis in den Senegal überrascht uns Afrika mit einer Fülle an Geschichten. Die meisten davon erzählen dabei das Gegenteil von dem, was wir von anderen, vornehmlich europäischen Reisenden hören: Vorsicht hier und Obacht dort. Keine Fahrten nach Einbruch der Dunkelheit, beim Anblick von Polizei oder Militär den Blick senken und mit Einheimischen keinesfalls diskutieren.

Wir hingegen streifen durch die labyrinthartigen Märkte von Nuakschott, übernachten in einem Fischerdorf mitten in der mauretanischen Wüste, das sich als letzte Bastion eines aussterbenden und von der UNESCO geschützten Handwerks entpuppt, Anni diskutiert mit der mauretanischen Polizei über eine angebliche Geschwindigkeitsbegrenzung bis sie uns ohne Strafe entlässt und durchqueren den Nationalpark zwischen Mauretanien und Senegal nach Einbruch der Nacht. Und dabei geht es uns gut. So gut, wie lange nicht mehr. 

Die Vorratskiste passt plötzlich nicht mehr in den Kofferraum, Jaguar hat den Autoschlüssel irgendwo in ihrem Spielzeugsack versteckt und der Wind fegt den Gaskocher samt Spaghettitopf vom Klapptisch. Das ganz normale Familienleben auf fünf Autositzen samt Kofferraum und zweieinhalb Quadratmetern Dachzelt zu organisieren, treibt uns immer mal wieder an unsere Grenzen. Dann brüllt Jaguar unter Tränen, sodass auch Anni irgendwann heult und Michel flucht vor sich hin oder läuft im Stakkatoschritt über den Strand. Nach einer Weile haben wir uns dann alle wieder beruhigt und stellen fest: Uns geht es gut. Wir genießen eine besondere Freiheit. Bewegen uns durch die Welt, entscheiden jeden Tag aufs Neue, wohin der Weg uns führt. 

Manchmal entscheiden wir auch falsch – so wie auf dem Weg nach Dakhla tief im Süden der marokkanischen Provinz. Westsahara. Nicht, weil die Region seit Jahren nach Unabhängigkeit strebt und nach zahlreichen Konflikten immer noch eine dringende Reisewarnung herrscht, sondern weil wir einfach mal wieder zu spät loskommen. Und so haben wir nach Sonnenuntergang noch satte vier Stunden auf der Uhr und entscheiden uns trotzdem für die Weiterfahrt. Und weil wir in dem ganzen Stress vergessen haben, die Route offline zu speichern, lässt uns an entscheidender Stelle die Navigation im Stich. Rechts oder links fahren? Wir entscheiden uns für links und finden uns wenige Kilometer später auf einer schlecht ausgebauten Parallelstraße zur Hauptroute wieder.

In tiefdunkler Nacht tauchen plötzlich sich hektisch bewegende Lichter auf. Immer mehr werden es und wir verstehen nicht, was das ist. Zum ersten Mal seit der Ankunft auf dem afrikanischen Kontinent spüren wir Anspannung. Und weil Michel „Suspense“ liebt, unterstreicht er das surreal-gruselige Szenario noch zusätzlich – es läuft die Filmmusik zu Alfred Hitchcocks North by Northwest von Bernard Herrmann. Und weil derjenige, der fährt, über den Soundtrack bestimmt, sagt Anni nichts und beruhigt beim Streicheln von Jaguars Köpfchen gleichsam sich selbst. Zwei Männer in Uniform winken uns von der Straße und wir erfahren wir, dass sich zahlreiche Militärposten entlang der Küste positioniert haben. Unser theoretisches Wissen um den Wunsch der Sahraui nach Unabhängigkeit wird jetzt zu einer nahbaren Erfahrung, die sich in den kommenden Tagen verstärken wird. Vorerst endet diese Nachtfahrt vor den Toren eines Hotels für Kitesurfer, wo wir unser Auto abstellen und im Dachzelt übernachten dürfen.

Der nächste Morgen zeigt, dass wir sprichwörtlich gestrandet sind: Das Meer liegt nur wenige Meter vor uns und mitten in dieser traumhaften Kulisse steht ein Mann und winkt uns freundlich zu. Mohamed bewacht hier einen eigentlich öffentlichen Parkplatz, den sein Chef, ein Nomade, zum Campingplatz erklärt hat. Das erfahren wir allerdings erst später. Und so akzeptieren wir den Preis von 50 Dirham pro Nacht – fünf Euro scheinen uns angemessen. „Das Klo ist dort“, sagt Mohammed und zeigt auf einen im Durchmesser sechs Meter großen Kreis, der von einer niedrigen Steinmauer umgeben ist. Eine Dusche gibt es nicht. Dafür ist das Meer nicht weit und auch nach Dakhla sind es nur 20 Minuten mit dem Auto.

 

Nouakchott, die Hauptstadt Mauretaniens, entpuppt sich als wild und lebendig. Der perfekte Ort für eine Pause nach einem Besuch des großen Souks im Stadtkern, ist die Boulangerie Pâtisserie Paul, in der hausgemachtes und nach den Rezepten des französischen Stammhauses hergestelltes Gebäck serviert wird. Besonders empfehlenswert ist das Frühstück, bei dem Jaguar ein Croissant und Michel guten Kaffee genießt.
Die Verwüstung verschlimmert die bereits schwierige Wasserversorgung Mauretaniens – frisches Wasser ist Mangelware und so sind die Brunnen in den Dörfern verschlossen. Der Brunnenhüter regelt die gleichmäßige tägliche Verteilung – und vergisst auch uns nicht. Wir dürfen unsere Tanks und Flaschen vor der Weiterfahrt unbegrenzt füllen. In den Städten können die Brunnen die Menschen kaum noch versorgen, sodass die Menschen dort Trinkwasser in Plastikflaschen kaufen. Die Folge sind Berge von Plastikmüll auf den Straßen, denn es fehlt an Entsorgungsmöglichkeiten.

Das erkunden wir in den nächsten Tagen– obwohl, es ist schnell erledigt. Die Metropole auf der Halbinsel mit rund 100.000 Einwohnern wirkt kulissenhaft. Dakhla gilt als kommender Hotspot, lockt mit weiten Stränden, reichen Fischgründen und einem eigenen Flughafen. Entsprechend haben Unternehmen hier investiert – vor allem Projektentwickler aus dem Ausland, die sich Grundstücke mit direktem Strandzugang gesichert haben. Der Bauboom wurde jedoch von der Pandemie gestoppt, weshalb sich auf dem Weg zwischen unserem „Campingplatz“ und dem Stadtzentrum zahlreiche halbfertige Gebäudekomplexe aneinanderreihen. Das Zentrum selbst wirkt in seinem Versuch westliche Modernität auszustrahlen merkwürdig unecht; manchmal sogar unfreiwillig komisch, wenn das „Café Vinizia“ mit italienischen Kaffeespezialitäten lockt.Und das erste 5-Sterne-Luxusresort, das im September eröffnet, könnte so auch in jeder anderen Stadt der Welt stehen. „Hier entsteht in Windeseile ein Touristenort auf dem Reissbrett“, erzählt Alexandra Pobedinskaya, während sie den Reißverschluss von Annis Neoprenanzug schließt. Seit 2018 lebt die Italienerin in Dakhla, wo sie eine Kitesurfschule betreibt. „Das Nachsehen haben einmal mehr die Einheimischen, also in der Mehrheit die Sahrauis, denn investiert wird ausschließlich in die touristische Infrastruktur. Sie wird der Stadt aufgepropft, wodurch eine Kluft entsteht – an einer Ecke das Luxusresort und an der anderen vermüllte Straßen und marode Strom- und Wasserleitungen.“

DER STATUS DER WESTSAHARA IST BIS HEUTE UNGEKLÄRT – NACH ENDE DER SPANISCHEN BESETZUNG ERHOBEN SOWOHL MAROKKO ALS AUCH MAURETANIEN UND ALGERIEN ANSPRUCH AUF DAS GEBIET. 1975 MARSCHIERTE MAROKKO MIT 25.000 SOLDATEN EIN, DENEN LEDIGLICH 3.000 SOLDATEN UND 2.000 POLIZISTEN GEGENÜBERSTANDEN. AUF DIE ANNEXION FOLGTE EIN FLÜCHTLINGSWELLE UND ENDE DES JAHRES BEFANDEN SICH RUND 100.000 SAHRAUIS IN ALGERISCHEN LAGERN. SEITHER KÄMPFT DIE 1973 VON STUDENTEN GEGRÜNDETE BEFREIUNGSBEWEGUNG FRENTE POLISARIO GEGEN DIE BESATZUNG UND BEENDETE 2020 EINEN 29 JAHRE WÄHRENDEN WAFFENSTILLSTAND. WÄHREND DIE DEMOKRATISCHE ARABISCHE REPUBLIK SAHARA VON RUND 50 STAATEN, DARUNTER DEUTSCHLAND, ANERKANNT WIRD, HABEN DIE USA UNTER PRÄSIDENT DONALD TRUMP MAROKKOS SOUVERINITÄT ÜBER DAS GEBIET ERKLÄRT. SO WARTEN DIE MENSCHEN DORT WEITERHIN AUF EIN REFERENDUM, DASS IHREN STATUS ENDLICH KLÄRT UND DIE ERHOFFTE UNABHÄNGIGKEIT BRINGT.

Niedergelassen hat sich die 38-jährige Profi-Kitesurferin auf der Halbinsel vor allem wegen der perfekten Bedingungen für ihren Sport: „Auf diesem relativ kleinen Gebiet gibt es ruhige Ecken für Anfänger sowie anspruchsvolle Küstenabschnitte mit hohen Wellen.“ Und so steht Anni das erste Mal in ihrem Leben in der Lagune vor Dakhla begeistert auf einem Brett, das von einem riesigen Drachen über das Wasser gezogen wird. Sie ist nur traurig, dass im Land Rover kein Platz mehr für eine Kitesurf-Ausrüstung ist. Mit ins Gepäck nehmen wir stattdessen die Aussagen der Reisenden, die wir auf unserem mittlerweile liebgewonnen „Campingplatz“ treffen; nämlich, dass die Grenze zu Mauretanien ein schrecklicher Ort sei, geprägt von der Willkür der Grenzpolizei, von Korruption und manchmal auch Gewalt. Also schließen wir uns zum ersten Mal anderen Reisenden an und fahren mit zwei weiteren Autos im Konvoi zur „Grenze des Grauens“. Bisher haben wir Konvois bewusst vermieden, denn die Mehrheit der Globetrotter, denen wir unterwegs begegnet sind, setzt eher auf Abgrenzung und geht nur in Maßen auf Tuchfühlung mit der Umgebung. Ihre ausgebauten Vans und Trucks sind Tiny Houses auf Rädern – alles drin, alles dabei und für jeden Fall der Fälle gerüstet.

Ganz weit oben auf der Liste der Länder, die man möglichst schnell und ohne großartigen Halt im Eiltempo durchqueren sollte, steht Mauretanien. Oft wird in Reiseblogs empfohlen, das „öde, trostlose und von Armut gezeichnete Land möglichst innerhalb von zwei bis drei Tagen auf der Küstenstraße zu durchfahren und sich vorab einen gesicherten Übernachtungsplatz via Internet zu buchen, den man unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit erreichen sollte.“ 

Und so sind auch unsere Mitfahrer am Morgen der Abfahrt fahrig und nervös, überprüfen, ob alle Gegenstände, die außen an Van und Riesentruck mitreisen, gut gesichert sind und dass alle Papiere griffbereit liegen. Zugegeben, die stark von Schlaglöchern in Mitleidenschaft gezogene Schotterpiste, die die letzten Kilometer zur Grenze führt und die von unzähligen Autowracks, Reifen und Plastikabfall gesäumt ist, erscheint nicht besonders vertrauenserweckend. Und auch die Durchquerung des großen Metalltores wirkt wie die Einfahrt in ein Zombielager; doch am dahinter liegenden Grenzposten mit niedrigen Steingebäuden und einer krummen Schranke herrscht lediglich geschäftiges Treiben. Keine Maschinenpistolen, keine hohen Wachtürme und auch keine scharfen Hunde. Stattdessen erfasst ein hochgewachsener schlanker Mann um die Dreißig unseren Land Rover in Sekundenschnelle, kommt auf uns zu und signalisiert uns mit einer kreisenden Handbewegung die Scheibe herunterzulassen. Der Unbekannte stellt sich als Cheikhani vor:

 „Welcome to my country!“

sagt er mit einem breiten Lachen und weist gleich darauf hin, dass in Afrika alles etwas anders läuft. „Difficult, but I will help you to get through very fast.“ Wir entscheiden uns mit dem Konvoi Cheikhanis Dienstleistung für 40 Euro pro Auto in Anspruch zu nehmen – also Begleitung zum Zoll, zur Polizeistation und den Kauf der Autoversicherung. Kurz darauf stehen wir in einer Gruppe von Männern vor einem Schalter mit blinder Scheibe – Anni ist die einzige Frau und wird aufgefordert, sich am Rand des Geschehens mit Jaguar auf eine niedrige Mauer zu setzen. Cheikhani lotst unsere Gruppe derweil durch die erste Kontrolle. Von da aus geht es in das Gebäude hinter dem Schalter, durch Gänge mit bröckelnden Fliesen in denen kaputte, aufgerissene Drehstühle für Wartende bereit stehen und offene Kabelenden aus Wänden und Decken ragen. Durch einen sandigen Innenhof geht es in ein fensterloses Gebäude, in dem drei Schreibtische nebeneinander stehen. Anni und Jaguar nehmen auf der durchgesessenen, dunkelblauen Samtcouch vor dem letzten der Tische Platz, während Michel aufgefordert wird, sich auf dem Stuhl gegenüber des Beamten zu setzen. Der richtet eine kleine Kamera auf Michels Gesicht und Cheikhani spricht laut durch den Raum, sodass alle es hören können: „Du siehst aus wie ein Schauspieler, Mann!“. Michel lächelt und antwortet ebenfalls quer durch den Raum: „Ja Mann, ich bin Brad Pitt. Aber ich reise inkognito durch Afrika.“ Im Raum herrscht jetzt absolute Stille, dann leuchtet Cheikhanis Gesicht auf: „Ich wusste es, Mann!“.

Aufgewachsen an der Ostsee, regelmäßig an der Nordsee – doch das erste Mal auf einem Kitesurf-Brett steht Annika im fernen Westsahara. In der Lagune vor Dakhla wagt sie mit der Profi-Kitesurferin Alexandra Pobedinskaya den ersten Versuch.
Die Italienerin Alexandra Pobedinskaya lebt seit 2018 in Dakhla, Westsahara, wo sie eine Kitesurfschule betreibt. Sie sagt: „Hier herrscht eine gewisse Freiheit und Aufbruchstimmung, die ich in Italien vermisse. Weniger Regeln, dafür mehr Möglichkeiten – daher werde ich bestimmt noch eine Weile bleiben.“ Lust auf Kitesurfen mit der sympathischen Italienerin? Dann hier oder hier entlang.
Links die Wüste, rechts das Meer – unterwegs in den Süden Afrikas durchqueren Anni, Michel und Jaguar nach Marokko und Westsahara Mauretanien. Zwei Drittel des Landes liegen in der Wüste Sahara, ein Drittel in der Sahelzone. Entsprechend karg und trocken ist die Landschaft, die Menschen hingegen sind freundlich und zugänglich.
In Al Talloum, einem winzigen Fischerdorf an der Küste Mauretaniens, treffen Anni und Michel Mohamed Dia. Der Biologe hütet das einmalige und von der UNESCO geschützte Fischereihandwerk, bei dem in den reichhaltigen Fischgründen mit langen Segelbooten gefischt wird, die gänzlich ohne Motor auskommen. „Die Fänge der Nacht gehen am Morgen in die Stadt und werden von dort aus in Kühltransportern in die Hauptstadt Nouakchott und nach Nouadhibou, die zweitgrößte Stadt des Landes gebracht.“

Wir sind kurzzeitig verwirrt – der Scherz wird für bare Münze genommen und wir beschließen, die Sache laufen zu lassen. Von jetzt an geht alles ganz schnell – jetzt will unser Passmann, so nennt man die Männer wie Cheikhani hier, seine Kompetenz beweisen. Ruckzuck sind unsere Fotos und Fingerabdrücke genommen, weiter geht es zur Autoversicherung und dann wären wir eigentlich schon fertig, doch Cheikhani möchte mit Brad noch eine Runde durch die Grenzstation drehen und ihm sein Büro zeigen. „Aber lass‘ Deiner Frau und dem Baby die Klimaanlage im Auto an“, sagt er. Während Jaguar der Langeweile mit einem Schläfchen ausweicht, beobachtet Anni einen großen schwarzen Truck und erfährt, dass der schon vier Tage auf die Weiterreise wartet. Es fehlen noch Papiere, womit wahrscheinlich die Gebühr für ein Dokument gemeint ist. Unsere Reisebegleiter stehen jeweils vor Van und Riesentruck und können noch nicht ganz fassen, was hier passiert. Cheikhani hat sie als Mr. Pitts Reisebegleiter ebenfalls im Affenzahn durch die Grenzstation manövriert. Als wir dreißig Minuten später gemeinsam losfahren, ist die Freude groß – die Grenze des Grauens haben wir mit Leichtigkeit genommen. Denn bei allem Glück haben wir schnell realisiert, dass dieser Ort eine Art Theater ist. Ein eigener kleiner Mikrokosmos, der sich mit mehr oder weniger erforderlichen Dienstleistungen ein Ökosystem geschaffen hat, in dem jeder seinen Schnitt machen kann. Der St. Paulianer in Michel hat das bereits in den ersten Augenblicken realisiert – dieser Ort ist anstrengend, aber keinesfalls wirklich gefährlich. Brad Pitt oder Max Mustermann, in einem Erdloch verschwinden hier keine Reisenden. Wer sich jedoch allzu sehr von der Aufführung beeindrucken lässt, der wird schnell als potenzielles Ziel erkannt und entsprechend mürbe gemacht, bis man den einen oder anderen Helfer bezahlt. Vor uns liegt jetzt die lange Wüstenlandschaft Mauretaniens, wir geben Gas.

  1960 WIRD ALS DAS AFRIKANISCHE JAHR BEZEICHNET – 18 STAATEN ERHIELTEN IN DIESEM IHRE UNABHÄNGIGKEIT. AUCH MAURETANIEN FEIERT DEN ENDGÜLTIGEN ABZUG DER FRANZÖSISCHEN KOLONIALMACHT BIS HEUTE JEDES JAHR AM 28. NOVEMBER. DER WÜSTENSTAAT IST REICH AN EISENERZ UND PHOSPHAT. SEINE GOLDVORKOMMEN WURDEN JÜNGST ENTDECKT UND WERDEN DERZEIT UNTER WENIG HUMANEN UND ÖKOLOGISCHEN BEDINGUNGEN ABGEBAUT. DAS GELBE FIEBER TREIBT DIE MENSCHEN ZU TAUSENDEN IN DEN KLEINEN ORT CHAMI AN DER WESTKÜSTE.

Wir steuern die Landzunge im Westen an, auf der Mauretaniens zweitgrößte Stadt Nouadhibou liegt. Gute zwanzig Kilometer davor biegen wir links ab und stellen unsere Autos auf den Strand in der Lagune. Weißer Sand, blaues Wasser in dem Delphine hüpfen und pinke Flamingos – hier ist das Paradies. Jaguar läuft los und während unsere Mitreisenden ihre Teppiche, Tische und Stühle aufstellen, setzen wir uns in das kleine Strandrestaurant, das Mohamed hier betreibt, seit er vor ein paar Jahren aus Deutschland zurück in seine Heimat gekehrt ist. Nach 17 Jahren Bremerhaven ist er wieder hier und genießt das Leben am Meer. Die Schönheit der Natur und die Ruhe tun gut, doch wir sind hungrig auf die Begegnung mit Menschen und so treibt uns die Neugierde nach Nouadhibou. Im bunten Treiben aus skurrilen Klapperkisten, die aussehen wie aus dem Film Mad Max, Eselskarren und bis weit über die vom deutschen TÜV genehmigungsfähige Höchstlast beladene Trucks ist Michel in seinem Element, er gleitet durch den Verkehr und Anni filmt mit Jaguar auf dem Schoß aus dem Autofenster – wir erregen Aufmerksamkeit, die wir allerdings nicht als feindlich empfinden. Als wir das Auto verlassen, um Ouguiya, die mauretanische Währung, abzuheben und SIM-Karten zu kaufen, gerät einer der uns begleitenden Franzosen an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit. Er hat schlicht Angst vor der unbekannten Umgebung, die sich bei näherer Betrachtung allerdings schnell lesen lässt – denn auch, wenn die Geschäfte in mehr oder weniger baufälligen Gebäuden mit schief und krumm angebrachten Schildern untergebracht sind und sich auf Gehweg und Straßen Unmengen von Plastikmüll stapeln, sieht man die Menschen hier dem ganz normalen Alltag nachgehen: Eine Frau mit modischer Sonnenbrille und buntem Kopftuch verhandelt den Preis für einen Rollkoffer, Schulkinder mit Rucksäcken bummeln langsam an Spielwarengeschäften vorbei und die Menschen erledigen Einkäufe beim Gemüsehändler oder Bäcker. Wir werden wahrgenommen aber keinesfalls auffällig beguckt oder gar angesprochen – die Mehrheit der Mauretanier schenkt uns ein höfliches Lächeln.

Wir genießen das Stadtleben nach den langen Fahrten durch die Wüste sehr und freuen uns schon auf die Hauptstadt Nuakschott. Auf dem Weg dorthin machen wir circa 100 Kilometer vor der Stadtgrenze Rast, um die Nacht am Meer zu verbringen. Voller Vorfreude klettern wir in unser Dachzelt und schlafen selig, bis wir von Blitz und Donner geweckt werden. Wir freuen uns über den einsetzenden Regen, denn er wird in dem an Wasser armen Wüstenstaat sehnlichst erwartet und das Trommeln der Tropfen auf dem Dachzelt klingt schön. Als Regen und Wind zunehmen, werden wir allerdings unruhig und als es dann richtig kesselt, drückt der heftige Wind den Regen so heftig gegen den Stoff, dass das Wasser eindringt. „Runter“, sagt Michel, klettert nach Draußen und macht für Anni und Jaguar den Beifahrersitz klar. Während unsere Mitreisenden in Van und Riesentruck offensichtlich ruhig schlafen können, rettet Michel Klamotten und Bettzeug aus dem Dachzelt und sitzt schließlich tropfnass um halb eins in der Nacht im Auto. Wir warten bis zum Morgengrauen und verfolgen, wie sich die sandige Straße zum Meer in einen See verwandelt. In Afrika braucht man die Offroad-Strecken nicht zu suchen, die kommen zu dir.  In der Dämmerung fahren wir los. Unsere Begleiter lassen wir zurück – wir sind erschöpft, bei Jaguar schleicht sich eine Erkältung an und alles ist nass und klamm.

Wir folgen der langen mit Bäumen und Straßenlaternen gesäumten Straße in die Hauptstadt hinein – der Regen hat ganze Straßenzüge, Parkplätze und Gebäude unter Wasser gesetzt. Der Defender teilt rroblemlos eifenhohe Pfützen. Vor einer Patisserie machen wir halt. Ein Mann feudelt die Bodenfliesen vor dem Eingang, Menschen staksen, Baguettes und Brötchentüten unterm Arm, über den nassen Parkplatz. Im Café werden wir freundlich begrüßt und sehen offensichtlich so nass und müde aus, dass wir spontan zu Kaffee und süßen Teilchen eingeladen werden. Jaguar kann ihr Glück beim Anblick eines mit pinker Zuckerglasur und knallgrünem Baiser garnierten Törtchen kaum fassen. Was soll’s – wir genießen ihren offensichtlichen Genuss und freuen uns über so viel Freundlichkeit.

Wir brauchen dringend einen Platz zum Trocknen der total durchfeuchteten Matratze. Doch draußen ist es jetzt klamm und Jaguars Wangen sind gerötet und ihre Stirn feucht. Also beschließen wir bei der Deutschen Botschaft anzurufen und um Unterstützung zu bitten. Die Mitarbeiterin am Telefon erfasst unsere Situation blitzschnell: „Ich telefoniere kurz und melde mich gleich wieder“, sagt sie. Und nach dem nächsten Telefonat sind wir auf dem Weg zur Botschaft – zu Lara, die hier seit eineinhalb Jahren mit ihrem Mann Didier und den drei gemeinsamen Kindern lebt. Die Familie hat uns in ihr Privathaus eingeladen, damit wir unsere Sachen trocknen können. Wir erleben: Zwei wundervolle Tage mit Lara und Didier. Jaguar erholt sich schnell und genießt das Zusammensein mit den anderen Kindern, Didier schnappt sich unseren gesamten Wäschesack: „Ihr müsst müde sein nach vier Monaten unterwegs. Ich verstehe das. Legt Euch hin. Später gibt es Pizza.“ Die Freundlichkeit rührt uns und wir spüren tatsächlich, dass wir reif für eine Pause mit klimatisierten Räumen, fließend warmem Wasser und gedecktem Tisch sind. Die Pizza schmeckt herrlich und wir erfahren, dass Didier aus dem Kongo stammt. Seine Frau hat er in Südafrika kennengelernt und ist mit ihr schließlich nach Nigeria und Mauretanien gegangen. Bei Nigeria werden wir hellhörig, denn das als immer wieder als besonders gefährlich beschriebene Land ist unser Angstgegner. Lara und Didier hingegen berichten begeistert von ihrer Zeit dort und auch einen Besuch im Kongo halten sie für unbedenklich. „Nigeria ist schon herausfordernd – laut und voll. Aber wenn man sich an ein paar Regeln hält, kein Problem“, sagt er. Und auch Lara schätzt Afrika für seine Warmherzigkeit im Umgang miteinander schätzt, für die Fähigkeit der Menschen, das Leben mit Familie und Freunden über den wirtschaftlichen Erfolg zu stellen. „Hier gibt es deutlich weniger Herzinfarkte oder Schlaganfälle als in der westlichen Welt“, sagt sie. „Wir sprechen ja nicht umsonst von Zivilisationskrankheiten.“

 „Nigeria ist schon herausfordernd – laut und voll. Aber wenn man sich an ein paar Regeln hält, kein Problem“

sagt er. Und auch Lara schätzt Afrika für seine Warmherzigkeit im Umgang miteinander schätzt, für die Fähigkeit der Menschen, das Leben mit Familie und Freunden über den wirtschaftlichen Erfolg zu stellen. „Hier gibt es deutlich weniger Herzinfarkte oder Schlaganfälle als in der westlichen Welt“, sagt sie. „Wir sprechen ja nicht umsonst von Zivilisationskrankheiten.“

Erholt und in trockener Kleidung machen wir uns schließlich auf den Weg ins Stadtzentrum von Nuakschott. Dort bildet ein Labyrinth aus Ständen, an denen alles, vom Besenstiel bis zum Smartphone angeboten wird, das pochende Herz der mauretanischen Hauptstadt. Alle Völkergruppen treffen aufeinander – Mauren arabisch-berberischer Herkunft, die als Bidhan oder Weiße Mauren bezeichnet werden, die dunkelhäutigeren so genannten Haratin, deren Vorfahren einst Sklaven in der westlichen Sahara waren sowie die Schwarzafrikaner, die hier pauschal als Soudans bezeichnet werden. Nach dieser Reihenfolge ist auch die strenge gesellschaftliche Hierarchie Mauretaniens gegliedert. Wer sich nicht im Gewusel der Stände und Händler verliert, der stößt auf eine lebendige Kultur des Handwerks. So wie Michel, der nach zwei Tagen Suche nach einem Hut auf dem Markt auf eine kleine Schneiderei stößt. Zwei Männer betreiben hier ein kleines Atelier und Michel beschreibt ihnen den Hut, den er gerne haben möchte. „Kein Problem“, heißt es und am nächsten Tag ist das handgefertigte Einzelstück fertig. Michel ist fröhlich, der Hut passt perfekt und kostet umgerechnet acht Euro.

Wie genießen die Stunden in Nuakschott, das wild, aber nicht feindselig ist. Und als wir kurz am Straßenrand, wo alle Autos halten, stoppen und ein Polizist mit grimmigem Gesichtsausdruck eine Strafe fordert, lehnt Michel ab: „Wir haben nur kurz angehalten.“ „Egal“, sagt der Polizist und als Michel den Kopf schüttelt, soll er mit zur Wache. Michel steigt aus, baut sich vor dem Polizisten auf. Er werde weder zahlen noch mitkommen, stellt Michel klar, dass er weder zahlt noch mitkommen wird, zeigt auf die schlafende Jaguar im Auto und verweist auf die Hitze. Der Polizist knickt schließlich ein und wir fahren weiter. Zurück in der Botschaft tragen Michel und Didier die mittlerweile trockene Matratze samt gewaschenen Bezug ins Dachzelt und Lara bringt eine Tüte mit gekühlter Schokolade – wir sind bereit für die nächste Etappe und machen uns auf Richtung Senegal.

Wir erreichen die Einfahrt in den Nationalpark, der direkt an den Senegal grenzt, eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit. Laut Routenplaner sind es 45 Minuten bis zum Ausgang und zum Grenzposten Diama. Wir entscheiden, dass wir losfahren und bemerken nach den ersten Kilometern, dass der Regen auch hier seine Spuren hinterlassen hat. Die Piste ist streckenweise stark zerfurcht und von riesigen Pfützen und Matschlöchern übersät. Michel navigiert den Defender so zügig wie möglich über das schwierige Gelände, dennoch wird die Zeit nicht reichen, um den Park bis Sonnenuntergang zu passieren. Und so fahren wir in die Dunkelheit, hören sanfte Klaviermusik von Joep Beving und sehen zahlreiche Wildschweine im Scheinwerferlicht über die Piste flitzen. Im Rückspiegel tauchen plötzlich zwei Autoscheinwerfer auf. „Meinst Du, die verfolgen uns?“, fragt Michel. Wir entscheiden, das Tempo anzuziehen. Die im Auto hinter uns auch. „Unser Auto kann mehr, das dürfte feststehen.“ Michel drückt aufs Gas und wir gleiten durch die Dunkelheit. Spätestens jetzt, als die Verfolger ebenfalls unnötig schnell fahren, sind wir sicher, dass es sich nicht um eine romantische Nachtfahrt handelt. „Es sind noch 21 Kilometer. Haltet Euch fest.“ Wir jagen über die Schotterpiste und erreichen den Posten der Park-Ranger als erstes. Im Schein ihrer Taschenlampen steigen wir aus und erzählen, was gerade passiert ist. Sie beruhigen uns und stoppen das Auto hinter uns. Ein weißer PickUp und es steigen sechs Männer aus. Sie seien lediglich auf der Durchfahrt nach Diama, sagen sie. Die Ranger nehmen das Kennzeichen auf und lassen sie weiterfahren. Nahe dem Posten befindet sich ein kleines Dorf und im Vorbeifahren sehen wir, dass ein kleiner Laden noch geöffnet hat. Wir halten an, der Besitzer kommt heraus und begrüßt uns freundlich. Als wir erzählen, was passiert ist, lädt er uns ein, unseren Wagen vor seinem Laden stehen zu lassen und im Dachzelt zu schlafen. „Hier ist es sicher“, sagt er. Wir klettern mit der immer noch schlafenden Jaguar die Leiter hinauf, sind froh und dankbar und unendlich müde nach der Aufregung. Wir haben Ruhe bewahrt und alles ist gut ausgegangen. „War ja auch irgendwie geil“, flüstert Michel.

Wir spüren, weitere aufregende Tage liegen vor uns. Das ist jetzt unsere Welt. Und alles, was wir bisher gesehen haben, die Berge und Steppen, die Wüsten und das Meer und alles, was wir noch sehen werden, das ist unser aller Welt. Unter uns rollt der Ladenbesitzer seinen Gebetsteppich aus, wir hören ihn sanft murmeln. In diesem Moment sind wir im Wissen um eine Göttlichkeit miteinander verbunden. Ubuntu, nennen das die Südafrikaner. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Morgen früh brechen wir erst einmal auf in den Senegal – wieder liegt eine neue Welt vor uns.

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