Jung Woo-Sung ist Schauspieler, Produzent, Regisseur – und so etwas wie der George Clooney Koreas. Er wird nicht nur von Fans geliebt, sondern auch von den Kollegen verehrt.
Selbstbewusst auf die souveräne Art. Sehr groß. Und, das koreanische Phänomen: optisch viel jünger als vermutet. Als Jung Woo-Sung, 49, das Fotostudio in Seoul betritt, ändert sich die Raumtemperatur. Auch sein Charisma ist raumfüllend. 1994 begann seine Karriere, im ersten Film mit Computeranimation. Mit „The God, the Bad, the Weird“, dem „KimchiWestern“ nach Sergio-Leone-Art, der 2008 beim Filmfestival in Cannes Premiere hatte, wurde er zur Ikone, im Mai wird er mit dem Spionage-Thriller „Hunt“ erneut an der Corniche dabei sein. Er hat einst das Studium geschmissen, um seine Familie zu ernähren, was zu erzählen er nie als image-schädigend ansah. Fotograf Ahn Seong Jin arbeitet wie stets hoch konzentriert, bei Jung sitzt jede Bewegung, die Männer kennen sich. Das lange, entspannte Gespräch hinterher endet mit viel Gelächter, denn auf die Frage, ob er eigentlich Kinder habe, antwortet Jung Woo-Sung: „Ich weiß nicht. Vielleicht?“
Ihr jüngstes Projekt ist der Film „Spring of Seoul“. Das bezeichnet die Zeit zwischen Oktober 1979 und Mai 1980. Es ist quasi die 68er-Bewegung Koreas. Das Timing passt. Freiheit generell und im gesellschaftlichen Kontext ist ein großes Thema wieder.
Vor etwas mehr als 70 Jahren wurde Korea von der japanischen Kolonialmacht befreit. Seither hat sich vieles verändert. Sowohl die wirtschaftliche Situation als auch die politische Landschaft. Ich glaube, dass sich die koreanischen Bürger wirklich nach Freiheit gesehnt haben. Filme sind oft Spiegel der Geschichte und dazu da, wichtige Schlüsselereignisse unserer Gesellschaft zu präsentieren, die von den modernen Medien übersehen werden.
Die 70er-Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs. Wie war die Stimmung in Korea?
In Europa gab es Ende der 60er-Jahre den Prager Frühling, und es folgten viele Sommer. Aber es ist nicht so, dass in dieser Zeit völlige Freiheit erreicht wurde. Der „Frühling in Seoul“ war ein wichtiger Moment, der eine neue Ära der Demokratie hätte einleiten können, aber das Militär unterdrückte sie durch einen erneuten Staatsstreich, was zu einer weiteren Periode der Einschränkung von demokratischen Rechten führte. Daher glaube ich, dass wir die Pflicht haben, zurückzublicken und darüber nachzudenken, welche Auswirkungen diese Zeit hatte. Das Leben kann in gewisser Weise als eine Reihe von Wiederholungen bestimmter Ereignisse gesehen werden, denn der Mensch sehnt sich nach etwas Wichtigem und vergisst oft, was wirklich wichtig ist. Deshalb müssen wir zurückblicken auf die Opfer, die wir erbrachten, bevor wir die Freiheit erlangt haben.
Filme in diesem Kontext sind offenbar beliebt.
Etwa zu der Zeit, als die Politik in den privaten Sektor überging, führte Präsident Kim Dae-Jung die Kultur-Förderung ein. Die Hauptbotschaft war, zu unterstützen, sich aber nicht einzumischen. So konnte sich die Freiheit des Schaffens entfalten. Nach etwa einem Jahrzehnt kamen mit einem neuen, konservativen Präsidenten wieder Einschränkungen. Was nur weiteres Verlangen nach kreativer Freiheit weckte. In Europa scheint man flexibler zu sein, aber in den Vereinigten Staaten haben kommerzielle Codes und der Erfolg an den Kinokassen im Namen des Kapitalismus Vorrang, was die Freiheit der Kreativität und der Kunst ebenso einschränkt.
Wie ist es in Korea?
Ich habe den Eindruck, dass koreanische Künstler den kommerziellen Aspekt respektieren, aber sie scheinen sich immer noch gegen die Vorschriften zu wehren, die der Kreativität auferlegt werden. Es ist ein Kampf darum, innerhalb dieser Wirtschaftsstruktur Wege des freien Ausdrucks zu finden. Wir machen uns jetzt die Vorteile der Streaming-Dienste zunutze. Die Leute fangen auch an, auf die Aufteilung des Gewinns zu achten. In einer Situation mit weltweiten Erfolgen wie dem von „Squid Game“ stellt sich die Frage, ob die derzeitige Gewinnverteilung gerechtfertigt ist oder nicht.
Apropos: Können Sie den Erfolg von „Squid Game“ erklären?
Nein (lacht). Nicht einmal der Hauptdarsteller Lee Jung-Jae kann das.



Jung Woo-Sung im Cardigan von Alexander McQueen. Shirt von Saint Laurent. Hose: Bottega Veneta

Jung Woo-Sung
In Europa sind Eltern besorgt, weil die Kinder „Squid Game“ nachspielen. In Korea sind die harmlosen Straßenspiele wie das Tintenfischspiel wahrscheinlich jedem Kind vertraut, aber bei uns kennt man sie eben nur in der brutalen Version der Serie, die aber wiederum eine große Faszination ausgelöst hat.
Man könnte es wie eine schöne Blume sehen, die Gift in sich birgt. In der Tat ist dieses Tintenfischspiel zum Beispiel ein Paradoxon. Wenn wir die Regeln des Spiels, die rein und unschuldig sind, auf uns als Erwachsene anwenden, sind wir gezwungen zu sehen, wie grausam wir zueinander sein können. Dann stellt sich die Frage, wohin unsere Reinheit verschwunden ist. Es ist ironischerweise ein gefährlicher Inhalt, der die Unschuld der Kindheit enthält, auf die junge Menschen quasi intuitiv reagieren, wenn sie ihn sehen. Aber aus der Sicht eines Erwachsenen kann es gefährlich erscheinen.
Kinder werden heute schon durch Social Media mit ganz anderen Informationen konfrontiert, als es früher war. Wie sind Sie aufgewachsen? Hatten Sie die Freiheit, einfach ein Kind zu sein?
Nicht wirklich. Ich hatte eine schwierige Kindheit, und ich glaube, mein Bewältigungsmechanismus war die Verleugnung der Realität. Aber wenn ich sage, dass ich die Realität verleugnet habe, heißt das nicht, dass ich meine Eltern verleugnet habe oder so etwas in der Art. Es bedeutet, dass ich versucht habe, eine Distanz zu wahren. Dass es die Armut meines Vaters war und nicht meine. Dann überlegte ich „Wie kann ich das finden, was mir gehört? Gibt es in dieser Welt etwas, das ich für mich beanspruchen kann?“ Mit diesen Fragen im Hinterkopf stürzte ich mich kopfüber in die Welt. Deshalb fühlte ich mich oft verloren und einsam. Aber in dieser Einsamkeit fühlte ich mich immer noch so viel freier als in einer familiären Umgebung, in der ich in gewisser Weise gefangen schien.
Sind Sie deshalb Schauspieler geworden? Um der Realität zu entkommen?
Richtig … Aber ich dachte nicht, dass es eine Flucht sei (lacht). In gewisser Weise dachte ich, es sei nur ein Anfang. Ich hatte Selbstvertaruen und Leidenschaft, aber ich war nicht auf den Erfolg vorbereitet.



Mit Flucht meinte ich, dass man beim Schauspielen eine andere Person sein kann.
Ich strenge mich eher an, meine schauspielerische Leistung auszulöschen. Was ich damit meine, ist, dass die Figur, die ich spiele, jemand in einer Umgebung ist, die ich nie erlebt habe, aber letztendlich sind dessen Freude, Wut, Trauer und Kummer nur eine Seite der Freude, Wut und des Kummers in meiner Realität. Deshalb sehe ich es nicht als eine Flucht. Ich betrachte es vielmehr als ein Spiel, bei dem es darum geht, inwieweit ich die Realität und die Erfahrungen dieser Figur durch meine eigenen Gefühle übersetzen kann. Wenn ich angefangen hätte, mich von meinem realen Leben zu trennen, um die Figuren zu formen, wäre ich wohl nicht der, der ich heute bin. Wenn ich eine Figur verkörpere, tauche ich völlig in sie ein. Wenn es vorbei ist, denke ich, es ist eine parallele Beziehung, in der ich die Figur wieder objektiviere und dabei überlege, was ich mitnehmen und was ich wegwerfen kann.
Sie sind Schauspieler, aber auch Produzent und Regisseur. Weil Sie damit mehr Macht haben?
Regisseur. Weil Sie damit mehr Macht haben? Ich fühle mehr Verantwortung als Macht. Aber ich habe das Gefühl, dass ich als Regisseur am meisten Spaß habe.
Können Sie immer tun, was Sie wollen?
Die Antwort ist unterschiedlich, je nachdem, ob Sie Jung Woo-Sung als Person oder Jung Woo-Sung als Schauspieler fragen. In gewisser Weise habe ich die meiste Zeit meines Lebens als Schauspieler gelebt, mit nichts angefangen und dann so viel aus meiner Tätigkeit als Schauspieler gewonnen. Wenn man den Schauspieler Jung Woo-Sung fragen würde, ob er glücklich ist, würde die Antwort Ja lauten. Glücklich und frei. Aber bei Jung Woo-Sung als Individuum bin ich mir nicht sicher, ob die Antwort dieselbe ist, weil er viel für den Job des Schauspielers Jung Woo-Sung aufgeben musste. Vor allem Anonymität.

Wie gehen Sie mit Ihren Fans um?
Ich versuche mein Bestes, aber normalerweise engagiere ich mich zum Beispiel in den sozialen Medien, wenn es wichtige Ereignisse gibt, weil ich ein bisschen faul bin.
Ältere werden in Korea sehr respektiert. Ist Alter etwas, worüber Sie nachdenken?
Ich denke, ich gehe nicht mehr so viel aus (lacht). In Korea leben wir nach konfuzianischen Benimmregeln, sie können aber zu einer Form von Macht werden. Ältere Menschen sollten geehrt werden, aber junge Menschen sollten auch respektiert werden. Nur weil man viele Methoden im Umgang mit der heutigen Generation hat, heißt das nicht, dass man weise ist. Eine kluge Kommunikation hängt davon ab, wie ich meine Erfahrungen mit der heutigen Generation teile. Das gilt auch, wenn ich am Set bin. Jeder Schauspieler ist Herr über sein eigenes Leben. Und ihre Erfahrungen sind es, die ihre Ausdrucksweise prägen. Deshalb betrachte ich auch die Jüngeren als gleichwertige Kollegen und als Menschen, von denen man lernen kann. Ich halte es nicht für richtig, eine Meinung als falsch zu bezeichnen, selbst wenn sie sich von meinem Verständnis unterscheidet.
Gefällt es Ihnen, ein großer Star zu sein?
Ja, natürlich (lacht). Aber ich wäre ein Narr, wenn ich mich auf den Glamour und Ruhm versteifen würde. Das ist nur ein Aspekt meines Seins. Es liegt an mir, wie ich mich definiere.
Was wäre das noch? Ein schöner Mann, ein erstaunlicher Mann?
Jung Woo-Sung. Einfach nur Jung Woo-Sung.