Youn Yuh-Jung

Die 74-Jährige ist die erste Schauspielerin Koreas, die einen Oscar gewonnen hat, im vergangenen Jahr. Der Weg dahin war voller Schlaglöcher, aber Youn Yuh-Jung verlor nie die Orientierung. Ihre neueste Serie „Pachinko“ ist wieder auf Oscar-Kurs. Wir trafen eine Legende in Los Angeles.

Sie wird von allen amerikanisiert nur YJ genannt, da ist sie ganz pragmatisch, bevor sich einer am Namen verstottert. Überhaupt hat die zarte Frau, die seit mehr als 50 Jahren im Filmgeschäft erfolgreich ist, eine klare Art. An diesem Morgen in einem Hotel in Hollywood trägt sie ein schlichtes beigefarbenes Kleid, weiße Strickjacke und Lederslipper. Das habe sie seit Jahrzehnten. Dass sie auch als StilIkone in Korea verehrt wird, ist ihr irgendwie fremd. Nun, wenn man sie am Abend vorher bei der Apple-TV-Weltpremiere der epischen koreanischen Familiensaga „Pachinko“ im schwarzen Satinkleid mit Oversized Jacket über den filigranen Schultern gesehen hat und auch jetzt, so frisch und lässig nach der sehr langen Party-nacht, dann kann man das Image schon nachvollziehen. Aber YJ ist überhaupt eine bemerkenswerte Frau. Das Drehbuch zu „Pachinko“ basiert auf dem Bestseller der New Yorkerin Min Jin Lee. Der deutsche Titel „Ein einfaches Leben“ ist irreführend. Einfach war für die Hauptfigur Sunja gar nichts. YJ spielt sie als Großmutter eindringlich beeindruckend. Vielleicht spielte ihre eigene Erfahrung mit.

YJ, wie viel Sunja steckt in Ihnen?

Zum Glück war ich zu dieser Zeit noch nicht geboren. Aber meine Mutter sagte immer wieder, dass sie ihre Sprache verloren hat. Sie konnte in der Öffentlichkeit nur Japanisch sprechen, nicht Koreanisch. An diese Zeit erinnert sie sich genau, und an den Hunger im Zweiten Weltkrieg, weil die Rationierung der Mahlzeiten sehr klein war. Für sie war es also eine Tragödie.

Die Generation des letzten Jahrhunderts hat viel Leid erfahren. Und doch wiederholen sich Krieg und Verfolgung.

Ich habe von meiner Mutter gelernt. Es ist eine Art Wissen aus zweiter Hand. 1945 wurden wir unabhängig von Japan, aber 1950 begann der Koreakrieg. Sie hat all diese Zeiten durchlitten.

Woher kommt die Kraft, das auszuhalten?

Aus meiner Perspektive als Frau habe ich festgestellt, dass die Kraft zu einem kommt, woher auch immer, wenn man Kinder hat. Natürlich kann ich meine nicht mit der meiner Mutter vergleichen.

 

 

Ein Schlüsselsatz bei „Pachinko“ lautet: „Wenn du dich anders entschieden hättest, wie würde dein Leben aussehen?“ Haben Sie je Entscheidungen bedauert?

Als ich geschieden wurde, habe ich gedacht, ich hätte mich auch für die andere Option entscheiden können. Vielleicht hätte ich ein besseres Leben gehabt und hätte mich nicht so abmühen müssen (lacht). Ja, die Wahl zu haben ist interessant. Es ist ein wichtiges Wort. Sind Sie zur Stärke erzogen worden wie Sunja? Ich stelle mich immer der Realität. Mein Vater starb, als ich 9 Jahre alt war, und natürlich war meine Mutter zu dieser Zeit nur eine glücklich verheiratete Hausfrau, dann kam plötzlich der Krieg und sie versuchte, Arbeit zu finden. Aber zu dieser Zeit gab es keine Arbeit für Frauen. Klugerweise fand sie heraus, dass Schulkrankenschwestern gesucht wurden. Sie besuchte ein Semester lang eine medizinische Schule und bewarb sich. Auf diese Weise hat sie uns drei Schwestern großgezogen. Ich habe also aus der Erfahrung gelernt, dass meine Mutter so hart für uns gearbeitet hat. Und nachdem ich festgestellt hatte, dass es mit meiner Ehe nicht klappen würde, habe ich darüber nachgedacht. Warum habe ich geheiratet? Hätte ich eine bessere Entscheidung treffen können, einen besseren Mann.

Und?

Ich bin jedenfalls reifer geworden. Denn zu meiner Zeit in Korea, in den 60er-Jahren, dachte man, verheiratet zu sein ist die Erfüllung. Eine glückliche Ehe war unser Ziel. Aber am Ende war ich geschieden.

Wie war das?

Ich musste zwei Jungs großziehen, aber wusste nicht, was ich tun sollte, denn ich hatte keine andere Karriere als die Schauspielerei. Als ich anfing, wurde ich recht schnell berühmt, also dachte ich, ich sei bereits ein großer Star. Als ich nach der Scheidung nach Korea zurückkehrte, nachdem ich neun Jahre lang in den USA gelebt hatte, versuchte ich, einen Job zu finden, aber mein Name war längst verblasst. Eines Tages schlug ein jüngerer Regieassistent vor: „YJ ist aus den Staaten zurückgekommen, das wäre doch eine Rolle für sie“. Aber der Senior-Regisseur sagte: „Nein, das ist eine zu kleine Rolle für sie; das macht sie nicht. Du kennst sie und ihre Karriere nicht. Sie war einmal sehr berühmt. Aber ruf sie an, man weiß ja nie.“ Der Assistent war schockiert, als ich dann antwortete: „Ich mache es. Ich brauche das Geld.“

 

Youn Yuh-Jung

War das ein Problem, dass Sie geschieden waren?

Es war ein großes Problem. Im asiatischen Kulturverständnis lässt man sich nicht scheiden. Du musst leiden. Es ist deine Verpflichtung, bei der Familie zu sein und so weiter. Ich fand heraus, dass alle Zuschauer oder hochrangigen Männer in den Sendern sagten: „Sie ist geschieden, sie kann nicht in die Öffentlichkeit gehen; nein, ihr könnt sie nicht einstellen.“ Das wusste ich damals nicht, aber ich habe überhaupt keine Rollen bekommen.

Was haben Sie gemacht?

Eine Freundin, eine sehr berühmte Drehbuchautorin, sagte: „Du kannst nicht in die Öffentlichkeit, bis sie deine Scheidung vergessen hat.“ Also überlegte ich, zurück in die Staaten zu gehen, da ich dort damals noch ein Haus hatte. Aber ich hätte nur als Kassiererin arbeiten können, weil ich kein Englisch konnte. Und auch nicht tippen, um Sekretärin zu sein. Also okay, Kassiererin. 2,75 Dollar Lohn. Ich erinnere mich genau an den Betrag. Schütteln Sie nicht so den Kopf, ich spreche von vor 40 Jahren!

Klar!

Also habe ich gerechnet, ob ich davon die Hypothek für das Haus bezahlen kann, aber die Freundin sagte: „Du gehörst hierher! Du hast schon genug Zeit verloren. Du warst damals ein aufsteigender Stern, und die Entscheidung, zu heiraten, war dumm. Du kannst dir aber deinen Namen zurückholen. Ich bin sicher, du schaffst das.“ Ich war skeptisch: Will ich das? Habe ich Talent? Und sie sagte: „Du hast eine Gabe!“

Sie hat recht behalten.

Man ist nicht man selbst, wenn man mit etwas zu kämpfen hat. Ich finde meine schauspielerische Leistung immer noch nicht so toll, aber sie hat mich wirklich ermutigt, und so fragte ich, ob sie mich einbauen könnte in ihre Scripts. Sie antwortet, das sei keine gute Idee, man könnte es als Freundschaftsdienst missverstehen „Fang einfach von unten an.“ Ich blieb skeptisch, ein Jahr passierte auch nichts, niemand stellte mich ein, und schließlich sagte sie: „Okay, du spielst in meinen Serien mit.“ Ich habe dann sehr hart gearbeitet, weil ich ihrem Ruf nicht schaden wollte. Wo ich ging und stand, habe ich Dialoge gelernt, beim Wäschewaschen, Bügeln, Tischdecken.

Die Botschaft von „Pachinko“ ist ja auch, nie aufzugeben. Als Ihnen die Rolle der älteren Sunja angeboten wurde, war das eine Art Déjà-vu?

Anders. Als ich das Drehbuch zum ersten Mal las, fühlte ich mich irgendwie sofort mit dieser Sunja verbunden. Also habe ich als Erstes den Roman besorgt und versucht, die Figur zu verstehen. Habe ihre Stärke bewundert. Ihre Entschlossenheit zu überleben, ihre Ehrlichkeit haben mich berührt. Damals, vor etwa hundert Jahren, hätte sie sich für Hansu entscheiden können, der ihr ein leichtes Leben anbot.

Dass aber ihre Ehre verletzt hätte, als Geliebte statt Ehefrau. Sie hat sich die Freiheit genommen, den schweren Weg zu wählen. So wie Sie selbst ja letztendlich auch. Würden Sie jungen Frauen heute raten, dass sie stets ihren eigenen Idealen folgen sollen, egal zu welchem Preis?

Nein. Ich bin weise genug, um jüngeren Generationen keine Ratschläge zu geben. In Korea und in Asien generell schauen sie zwar zu den älteren Menschen auf. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass jeder in einer unterschiedlichen Situation ist, nicht mit demselben Problem konfrontiert wird wie ich.

Eine ungewöhnliche Haltung, oder?

Offenbar. Mir wird oft gesagt, dass viele der jüngeren Generation zu mir aufschauen und ich ihnen eine Botschaft mitgeben solle. Ich sage dann, ich bin nicht der Papst, also habe ich keine Botschaft.

Sunjas Vater spielt eine wichtige Rolle, weil er seine Tochter nicht zu einer devoten Person erzogen, sondern sie bestärkt und beschützt hat. Welchen Respekt Frauen gegenüber haben Sie Ihren beiden Söhnen beigebracht?

Ich habe ihnen gar nichts beigebracht. Was ich bedauere. Aber als ich wieder anfing zu arbeiten, hatte ich kein Geld für Babysitter. Also musste mein erstes Kind auf mein zweites aufpassen. Ich konnte auch nicht kochen, während ich arbeitete. Es war kein Nine-to-five-Job. Vor zehn Jahren ungefähr habe ich zu meinem Sohn gesagt: „Es tut mir so leid, dass du kein selbst gekochtes Essen vermisst. Weil Mami nie für dich gekocht hat.“ Daraufhin erwiderte er: „Deshalb sind wir alle so dünn, das ist schon okay.“

 

Das erinnert mich an Ihre Dankesrede beim Oscar, als Sie Ihre Söhne ansprachen: „Das ist das Ergebnis, warum Mami so hart gearbeitet hat.“

Ja, ich habe wirklich hart gearbeitet.

Womöglich war das für Ihre Kinder gar nicht so schlimm. Entschuldigen Frauen sich zu viel für ihr Handeln?

Ich kann mich nicht für mein Bedauern entschuldigen. Und es ist einfach so, dass, obwohl sie beide dasselbe Blut haben, mein erster Sohn wie ich ist und mein zweiter Sohn ganz anders. Nach der Scheidung fehlte ihm besonders die Vaterfigur, deswegen interessierte er sich sehr dafür, was Männer so taten. Und sei es Bauarbeitern beim Trinken zuzugucken. Ich konnte das nicht leiden, doch es tat mir auch sehr leid, dass wir keinen Mann im Haus hatten. Aber das Leben ist eine Mauer, die man immer wieder überwinden muss.

Als Sie den Oscar für „Minari“ bekamen, war das ein Yes!-Moment für Sie?

Ich war in dem Moment nicht ich selbst, also weiß ich es nicht. Meine Freundin Lee In-Ah hatte vorher zu mir gesagt: „Du solltest eine Rede vorbereiten, du könntest gewinnen.“ Ich antwortete: „Zähle die Hühner nicht, bevor sie geschlüpft sind.“ Das ist ein koreanisches Sprichwort. Also habe ich mich nicht vorbereitet und fühlte mich dumm, als ich auf die Bühne ging.

Ihr Auftritt war bei der ansonsten trockenen Verleihung unter Covid-Bedingungen allerdings ein Highlight, zumal Sie Ihren Laudator Brad Pitt, der als Executive Producer an „Minari“ beteiligt war und etwas abseits stand, so lustig angingen.

Die Geschichte dahinter ist folgende: In Korea ist es üblich, dass die Produzenten während der Dreharbeiten das Set besuchen. Ich hatte also immer wieder gefragt: „Warum kommt Brad Pitt nie?“, und sie sagten: „Weil er Brad Pitt ist.“ Und auf der Bühne war ich dann so verwirrt, dass ich rief: „Brad Pitt, schön Sie endlich kennenzulernen. Wo waren Sie?“

Die Zuschauer hatten endlich was zu lachen.

Ich bin sicher, er war schockiert. Warum sollte diese alte koreanische Dame ihn rufen!

Es war perfekte Stand-up-Comedy. Aber noch wichtiger ist ja, dass Sie als erste Koreanerin überhaupt einen Oscar bekommen haben.

Es schien, als hätte ganz Korea gehofft, dass das passieren würde. Ich fühlte mich wie eine Olympionikin, hatte das Gefühl, dass ich das gewinnen muss.

Koreanische Filme und Schauspieler erfahren jetzt viel mehr Respekt und Anerkennung, oder?

Nun, ich denke, der Regisseur Bong Joon-ho hatte im Jahr zuvor an die Tür geklopft mit dem Regiepreis für „Parasite“. Koreaner lieben Dramen und Filme, wir haben eine lange Tradition darin. Und dann kam plötzlich Bong Joon-ho, und wir bekamen Aufmerksamkeit in der ganzen Welt.

„Pachinko“ dürfte auch Preise abräumen. Über Sunja heißt es: Durch sie wird eine Familie Bestand haben. Ist das auch Ihre Agenda?

Ich denke schon. Als eine Frau, als Mutter, ja.

 

Pachinko/APPLE TV +

Haben Sie Enkelkinder? Einen wie Solomon im Film?

Er ist erst sechs.

Solomon ist in der Serie das erzählerische Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Der Schauspieler Jin Ha hat dazu gesagt: „Wir sind das Ergebnis der Erfahrungen und Entscheidungen derjenigen, die vor uns kamen.“ Der Titel bezieht sich auf das populäre Glücksspiel Pachinko, eine Art FlipperAutomat. Haben Sie es je gespielt?

Nein, nie. Aber wenn man den Knopf drückt oder dreht, weiß man nie, wo man landen wird. So ist das Leben.

Was ist mit dem Satz: „Es ist zu viel, mit Hass zu leben.“ Stimmen Sie zu?

Wer Hass im Herzen hat, wird daran leiden. Also vergesse ich ihn einfach. Gefühle sind sehr empfindlich, aber in allen Büchern steht, dass man nett sein und seinen Feind lieben soll oder solche Dinge, doch es ist sehr schwer, das zu tun. Das muss man erst lernen. Ich kann nicht verzeihen, aber ich versuche, nicht daran zu denken.

Was den Umgang mit Ungerechtigkeit angeht, so mussten die Koreaner im Laufe der Geschichte viel ertragen und taten es auch.

Vielleicht haben wir nicht die Kraft, uns zu wehren, aber es gibt ein Wort, „Han“, das bedeutet, dass man nicht nachtragend ist. Wenn Koreaner wirklich leiden, singen sie. Es ist kein fröhliches Singen, aber bei aller Bitterkeit im Sinne von Charlie Chaplin, der sagte: „Das Leben ist aus der Nähe betrachtet eine Tragödie, aber auf lange Sicht eine Komödie.“ Auch deshalb lieben die Koreaner Dramen und Filme. Das ist eine Art, die Welt zu ertragen.

 

In einer berührenden Szene fragt Sunja, die mit ihrem Mann die Heimat verlassen musste und nach Osaka gezogen ist, ihre Schwägerin Kyunghee, wann der Heimwehschmerz weggehe, und Kyunghee antwortet: „Niemals.“

Nie. Niemals. Deshalb war ich sehr beeindruckt von der Arbeit unserer Drehbuchautorin Soo Hugh, denn im Buch kehrt Sunja nie nach Korea zurück. Aber Soo fügte die Szene ein, in der Sunja mit ihrem Sohn nach Korea fährt und sie lange am Wasser steht.

Man muss im Leben Kreise schließen, oder? Haben Sie noch Träume?

Nein. Ich bin ein realistischer und praktischer Mensch. Natürlich, als junge Schauspielerin hatte ich Träume, aber ich bin so oft betrogen worden. Als ich vielleicht 60 war, habe ich mir versprochen: „Von jetzt an werde ich nur noch für Menschen arbeiten, die ich mag. Nicht für die Rolle.“ Ich bin nicht mehr so ehrgeizig.

Von der Designerin Miuccia Prada stammt der Satz: „Träumen hat keinen Sinn, weil ein Traum nie wahr wird. Es ist besser, einen Wunsch zu haben.“

Ja, das ist ein besserer Weg. Aber ich habe nicht einmal einen Wunsch (lacht). Ich genieße einfach den Moment.

 

Die erste Staffel von „Pachinko“ läuft auf Apple TV

Pachinko/APPLE TV +

Fotograf
Peter Ash Lee/The New York Times/Redux/Laif (2); Apple TV+
Interview
Inga Griese