Fürs Wohl

Gute Flasche, leere Flasche

Aus Bordeaux kommen Weltklasse-Weine. Sie auf diesem Niveau zu halten, ist eine Mission. Heike Blümner besuchte die Châteaux Rauzon-Ségla und Canon, um zu erfahren, wie das gelingt.

Im Spannungsfeld von Know-how und Intuition, von Analytik und Metaphysik, entsteht hochklassiger Wein. Deshalb ist Nicolas Audebert nicht nur Winzer, nein, er sieht sich auch als Zeitreisender im Geiste. Gestern, morgen und den sich ständig wandelnden Moment in der Gegenwart muss er bedenken. Und das stimmt philosophisch: „Wir haben einen Fuß in der Vergangenheit und einen in der Zukunft. Es ist eine Welt, wo man niemals ankommt, ein permanenter Neustart.“

Der Winzer und CEO Nicolas Audebert (Mitte) bei der Arbeit mit seinen Kollegen

In der realen Welt ist er derweil ziemlich gut angekommen: Der 47-Jährige ist der CEO vier namhafter Châteaux: Canon und Berliquet in Saint-Émilion, Domaine de L’Ile auf der winzigen provenzalischen Insel Porquerolles und Château Rauzan-Ségla in Margaux, Bordeaux. Auf Rauzan-Ségla, einem Schlösschen aus dem 17. Jahrhundert, sitzen wir an einem ordinären Mittwochmorgen in extravagantem Ambiente vor dem Kamin im Salon, der sich durch überschwängliche Ausstattung auszeichnet: antike Sofas, Sessel und Kissen, sowie Teppiche, Tischchen, Bronzen, Porzellanfiguren und Vasen mit Blumensträußen. Die dominierende Farbe ist Rot in allen Schattierungen, die Wände sind mit Seide bespannt und der vorherrschende Stoff ist ornamentaler Brokat.

Kleinod in Bordeaux: Château Rauzan-Ségla in Margaux

Verantwortlich für dieses Einrichtungsspektakel ist der amerikanische Architekt Peter Marino – und das ist kein Zufall. Denn Marino ist für viele Projekte bei Chanel verantwortlich und Chanel, genauer gesagt die für ihre Diskretion bekannte Eigentümerfamilie, ist der Besitzer der vier Kleinode, denen Audebert vorsteht. Keines von Ihnen ist öffentlich zugänglich, Diskretion steht auch hier im Vordergrund.

Warum macht Chanel in Wein? Nun, die Frage könnte auch lauten: warum nicht?

Kostspielige Alkoholika von Champagner bis Cognac sind Luxusprodukte. So basiert ein Teil des Imperiums der Konkurrenz, dem Luxuskonzern LVMH, auf diesen Produkten. Chanel verfolgt jedoch mit seinem Engagement einen anderen Ansatz. Die Marke hält sich im Hintergrund, die Verquickung zwischen dem Traditionshaus und den Weingütern ist keine große öffentliche Sache.

Man sieht den Aufwand, der hier betrieben wird. Für den makellosen Zustand von Land und historischen Gebäuden, deren Ausstattung, die Gerätschaften und die insgesamt 200 Mitarbeiter muss man erst sehr viel Geld in die Hand nehmen, um danach auf höchstem Niveau zu liefern. Nach schnellem Profit sieht es jedenfalls nicht aus. Eher nach langfristiger Investition.

„Es sind zwei verschiedene Schulen und keine ist richtig oder falsch“, erklärt Audebert über das Interesse von Luxushäusern am Wein. „LVMH ist ein Unternehmen, das Luxusmarken mit exzellenten Geschäftsmodellen verbindet. Chanel ist ein historisches Familienunternehmen. Niemand mischt sich in die Art und Weise ein, wie wir hier Wein machen. Wir haben die hundertprozentige Freiheit, ihn so zu machen, wie wir wollen. Es gibt einen unglaublichen Respekt für unsere Arbeit.“

Hier, im Weinbau gehe es in erster Linie um den Erhalt von kulturellem Erbe, dem das Haus sich verpflichtet fühle.

Malerische Knochenarbeit auf den Parzellen des Château Canon: Auch der Weinbau unterliegt den Gesetzen der Landwirtschaft

Ähnlich wie bei den hoch spezialisierten Metiers wie Klöppeln oder Federkunst für die Haute Couture. Nur, dass es sich in Bordeaux um ein im wahrsten Sinne des Wortes bodenständigeres Geschäft handelt: „Letztlich ist es Landwirtschaft“, sagt Audebert. Allerdings in begünstigter Lage. Bordeaux mit seinen 120.000 Hektar Land ist eines der größten und bekanntesten Weinanbaugebiete der Welt und Saint-Émilion oder Margaux sind darin gewissermaßen die Haute Couture unter den Gemeinden: weltbekannt, stilistisch einzigartig und sehr teuer. 1994 übernahm das Unternehmen Rauzon-Ségla, 1996 Canon und 2017 Berliqué – je in keinem guten Zustand.

 Ein Château in feinster Lage zu besitzen, ist das eine, es zu halten und an die nächste Generation weiterzureichen, ist etwas völlig anderes: „Wie es zu dem Engagement kam, ist letztlich eine typische Bordeaux-Geschichte“, erzählt Hélène Perromat.

 

Die 30-Jährige ist auch ein typisches Gewächs der Region: Winzertochter und von hier. Sie ist auch die Pressevertreterin für die Anwesen und das ist ein Gewinn, denn sie kennt jeden Stein und jede Geschichte. Dass Weingüter in solchen Lagen überhaupt zum Verkauf stünden, habe damit zu tun, dass oft nach mehreren Generationen eine Familie das Gut nicht mehr halten könne, weil die nächste Generation andere Interessen verfolge, oder die übernehmenden Kinder es nicht schafften, weitere Erben auszuzahlen, erzählt sie. Die Konsequenz sei dann nicht selten Aufgabe und schlimmer noch Verfall. Nicht nur der von Gebäuden und Ländereien, sondern vor allem auch von Tradition und Know-How.

Als Chanel vor knapp 30 Jahren Rauzon-Ségla übernahm, war das traditionsreiche Weingut, das seit dem späten 17. Jahrhundert an dieser Stelle steht, jedenfalls nur noch ein Schatten seiner selbst: das Anwesen baufällig, die 70 Hektar Land ungepflegt und teilweise löchrig. „Wir haben historische Ländereien, fantastische Terroirs, aber wir mussten es restrukturieren: Stein für Stein, Rebe für Rebe“, so Audebert. Es muss ein riesiger Kraftakt gewesen sein, alles auf den Standard zu heben, der hier heute herrscht: Die blitzblanken Produktionsanlagen und das nostalgische Schloss, dessen Erscheinung Instagram-Gold wäre, aber von innen nicht fotografiert werden darf, sind dabei nur die Visitenkarte. Dem ambitionierten Winzer und seinem Team geht es vor allem um die Erweckung des alten Wein-Geistes, der Essenz des jeweiligen Gutsstils mit modernen Mitteln: „Wir haben eine Obsession für Qualität und Präzision.“

Perfekte Visitenkarte: Blick in die Produktionsanlagen und in die Bücherei von Château Rauzan-Ségla

Den Rauzon-Stil zu erreichen, ist ein wenig wie Schach spielen, weil so viele Faktoren mitbedacht werden müssen: Er ergibt sich aus einem Patchwork-Teppich von fünf Terrassen und 98 Parzellen, die wiederum 21 verschiedene Böden haben und auf denen vornehmlich Cabernet Sauvignon und Merlot angebaut wird. Vor fünf Jahren wurde auf biologische Landwirtschaft umgestellt, kommendes Jahr findet die Zertifizierung statt. Auch der Klimawandel mischt mit. Er mache sich nicht unbedingt in konstant steigenden Temperaturen bemerkbar, sagt Audebert, sondern in einer ungewöhnlichen Anhäufung extremer Wetterereignisse, auf die reagiert werden müsse. Und selbst wenn all das berücksichtigt wird:

 

„Man kann die beste Küche und die besten Zutaten haben. Wenn man nicht weiß, wie man kocht, nützt das alles gar nichts.“

 

A table: Jean Baptiste Depons kocht in Berliquet

2015, als er anfing, schraubte er als Erstes am Rezept: Er setzte die Ernte bei Rauzon-Ségla und Canon wegen der höheren Temperaturen etwas früher an als es bisher hier üblich war. „Die Leute sagten wir sind verrückt“, sagt Perromat und lacht. Als James Suckling, einer der weltweit berühmtesten Weinjournalisten, den Canon-Jahrgang 2015 zum „Besten Wein der Welt“ erklärte, sagten die Leute nichts mehr. Heute, erzählt Audebert, orientieren sich die Anderen an ihm: „Es ist wie beim Pferderennen. Der Tag, die Stunde, die Sekunde zählt.“ Ähnlich akribisch geht es danach im Keller zu, bis der neue Jahrgang dann im kleinen Team komponiert und in die Flaschen abgefüllt wird.

Und wie schmeckt er nun der Rauzon-Ségla-Wein? In der Gutsküche sind am Nachmittag bereits riesige Steinpilze zu besichtigen, die der Chefkoch für alle vier Chateaux, Jean Baptiste Depons unter einer Eiche gefunden hat. Sie kommen heute Abend auf den Tisch, haben gewissermaßen das Casting bestanden, denn „hier wird das Essen nach dem Wein ausgewählt und nicht umgekehrt“, sagt er.

 

Bon appetit: Das Essen wird hier zum Wein ausgesucht und nicht umgekehrt

Auf dem Menu an diesem Abend stehen die Jahrgänge 2016, 2005 und 2009. Natürlich schmecken Sie hervorragend, das kann auch der Laie bestätigen. Bessere Worte finden diejenigen, die sich Tag ein, Tag aus mit ihm beschäftigen: „Rauzon ist komplex, weich, blumig“, sagt Audebert. „Es sind hundert Farbtöne auf einer Palette.“ Und Canon?

Am nächsten Tag überqueren wir den breiten, träge dahinfließenden Fluss Gironde, dessen Wasser aus der Nähe klar und aus der Ferne trüb wirkt, weil der Boden so tonhaltig ist. Seine Farbpalette reicht von Braun bis Beige, am Ufer wachsen Schilf und Bäume, auf denen die Störche sitzen. Fast wähnt man sich am Nil und nicht in Südwestfrankreich.

 

Ton, Steine, Scherben: Am Flussufer der Gironde sieht es ein wenig aus wie am Nil

Luftlinie ist Rauzon-Segla von Canon und Berliquet nur 45 Kilometer entfernt, und dennoch eröffnet sich hier ein völlig anderer Charakter im Wein: “Rauzon-Ségla ist Poesie. Canon ist Skulptur”, beschreibt es Hélène Perromat. “Canon ist geradeheraus und gut ausgebildet. Ein Mann mit Feingefühl”, so Audebert. Unterschiedliche Charaktere, deren Wesen sich jedoch in der Polarität zum Gegenüber offenbart.

Canon mit seinen 20 Hektar ist kleiner, und das direkt daneben liegende Berliquet mit nur 9,5 Hektar viel kleiner als Rauzon-Ségla. Es werden vornehmlich Merlot und Cabernet Franc angebaut. Beide Güter liegen erhöht auf einem Kalksteinplateau, wirken leichter als auf der anderen Seite des Flusses. In Berliquet pflegt ein Gärtner-Team einen mediterranen Garten mit Rosen, Feigenbäumen und Kräutern, dessen Duft über die Reben weht. Zum Postkartendorf Saint-Émilion führt ein fünfminütiger Spaziergang. Man könnte ihn auch unterirdisch absolvieren, denn das Gebiet verbindet ein Konstrukt aus tiefen Höhlen und Gängen wie ein tiefschürfendes Geheimnis. Hier wird Wein gelagert, der über 100 Jahre alt ist.

In den Kellern der châteaux lagern die Weine wie ein gut gehütetes Geheimnis

Ein pfiffiger Weinjournalist war neulich in Canon zu Besuch, erzählt Hélène Perromat. Er sagte zu Audebert: „Sie erzählen immer, dass diese Weine wunderbar altern und nicht an Qualität verlieren, aber woher sollen wir das wissen, wenn sie nicht getrunken werden?“ Daraufhin nahm der Chef der Châteaux den Journalisten mit in den Keller von Canon und er durfte sich eine Flasche Wein aussuchen. Seine Wahl fiel auf einen 1926er Jahrgang. Das Team wurde versammelt, die Flasche unter Laborbedingungen behutsam geöffnet und dann durften alle von dem Schatz probieren: „Es war ein Traum“, schwärmt Perromat. „Wie eine Schüssel Früchte mit ein wenig Säure, frisch, leicht minzig und die Signatur des Hauses war auch nach 100 Jahren noch deutlich zu schmecken. Wir waren alle super beeindruckt.“

Eine vergleichbare Flasche kann heute nur noch auf einer Auktion ersteigert werden. Und danach wird sie meistens wieder in einem Keller versenkt. Die Region ist bekannt für den spekulativen Ansatz, mit dem ihr Wein gehandelt wird, zu Preisen, die teilweise nur bedingt nachvollziehbar sind. Aber der 2ème Cru Classé aus Rauzon-Ségla und Canon geht bereits bei 100 Euro die Flasche los – und das ist nicht zuletzt auch möglich, weil ein kulturell sensibler Partner wie Chanel dahintersteht:

 „Wir produzieren keinen Wein, um ihn im Keller einzusperren“, sagt Perromat. „Unser Motto ist: Eine gute Flasche ist eine leere Flasche.“

 

Es ist ein sehr französisches Plädoyer für den Genuss. Nicht den Exzess – sei es was die Mengen, noch den spekulativen Wert des Weines angeht: „Teilt die Flasche mit Freunden am Tisch“, fügt sie hinzu. Nur wenige Luxusprodukte bieten diese Option. Auch das spricht für den Erhalt dieser Kultur und Tradition.

Geteilte Freude ist doppelte Freude: Wein aus Berliquet schmeckt am besten ab zwei Personen aufwärts

Text
Heike Blümner