1953 besuchte der amerikanische Schriftsteller John Steinbeck den Ort an der Amalfiküste und schrieb einen Essay, der Spuren hinterließ. Heike Blümner und Fotograf Roberto Salomone begaben sich nun auf die Spuren Steinbecks.
Zurück in Positano
Einführung von Francesco Sersale, Hotel „Le Sirenuse“
Beginnen wir in der Gegenwart. Was in Positano, wo selbst die Sonne darauf aus ist, das Zeitgefühl außer Kraft zu setzen, keine leichte Aufgabe ist. Foschia bedeutet Nebel, ist aber auch eine Lichtstimmung bei großer Hitze, bei der Meer und Horizont, Schiffe und Umrisse der Felsen in sanftem Dunst die Konturen verlieren und miteinander zu verschmelzen scheinen. Es ist das visuelle Pendant zu zwei Gläsern Wein am Mittag. Ursache und Wirkung, gestern, heute und morgen gehen ineinander über.
Um dem Ungefähren nicht gleich von Anfang an zum Opfer zu fallen, erkundet man Positano, die vertikale Stadt, am besten zu Fuß: Neun Kirchen – für jeden Stadtteil eine – sowie sechs Priester stehen für die 3000 Einwohner bereit. Schmale Gassen mit unzähligen steilen Treppen verbinden die steinernen Häuser, die nach einem nicht zu ergründeten System einst in die grünen Hänge der Amalfi-Steilküste übereinander gesteckt wurden.
Giovanni Cuccaro ist Personal Trainer im Hotel „Le Sirenuse” und von hier. Ein 42-jähriger Mann mit Muskeln, Manieren und Instinkt. Im knappen Sportoutfit mit azurblauen Sneakern sowie einer breiten um den Kopf gewickelten Bandana federt er geräuschlos die Stufen hinauf und merkt schon vor mir, wann mein Atem knapp wird. Dann hält er – ganz Gentleman – abrupt inne, dreht sich um und breitet die Arme aus: „Die Aussicht“, bemerkt er knapp – selbst, wenn der Blick nur auf ein paar abgewetzte Steintreppen fällt. Hauptsache kein Gesichtsverlust für die Besucherin aus der horizontalen Stadt Berlin.
Meistens jedoch gehorcht die Aussicht aufs Wort: In den Buchten schillert das Meer in allen erdenklichen Blautönen. Die Boote tanzen auf den Wellen und dieses Szenario wird eingerahmt von vom Salzwasserwind abgeschmirgelten Häusern und Kirchen in Sandtönen, in Hellblau, Apricot und Pink. Und obwohl die Küste gewaltig und felsig ist, ist alles an diesem Ort kurvig und sinnlich: Die Bucht, die Straßen, die Fensterbögen und selbst die Treppengeländer. Positano zu verfallen, passiert im wahrsten Sinne des Wortes im Vorbeigehen. Jeden Tag, bei vielen Besuchern aufs Neue.
Meistens jedoch gehorcht die Aussicht aufs Wort: In den Buchten schillert das Meer in allen erdenklichen Blautönen.
Einer von ihnen war der amerikanische Schriftsteller John Steinbeck. Der Literaturnobelpreisträger sowie Autor von Werken wie „Jenseits von Eden“ kam Anfang der 50er-Jahre hier her. Er war jedoch nicht der Erste, der in dem abgelegenen Fischerort eine temporäre Muse fand. Manche kamen freiwillig, wie der Schweizer Futurist Gilbert Clavel, der einen der drei Leuchttürme Positanos bereits 1919 nach seinen Vorstellungen umbaute. Auch Picasso und Le Corbusier waren zu dieser Zeit hier unterwegs, aber auch weniger bekannte Maler wie der Düsseldorfer Karli Sohn-Rethel, der mit expressionistischen Strandszenen und Studien der Fischermänner sein Hauptwerk schuf. Während des Nationalsozialismus suchten bemerkenswert viele Exilanten hier Zuflucht, darunter die Schriftsteller Stefan Andres und Armin Wegner. Nach dem Krieg kamen die Amerikaner und Amerikanerinnen: Patricia Highsmith zum Beispiel ließ sich angeblich am Strand von Positano zu ihrer Figur Tom Ripley aus ihrem bekanntesten Roman „Der talentierte Mr. Ripley“ inspirieren.
Niemand jedoch hat mit seiner Arbeit hier vermutlich so einen Nachklang hinterlassen wie Steinbeck, der mit seinem Reise-Essay „Positano“ den Ort auf die Weltkarte der Traumziele setzte – lange Zeit bevor Instagram dafür zuständig wurde.
1953 erschien das Stück im Magazin Harper’s Bazaar, geprägt von widerstrebendem Enthusiasmus, überschattet von einem Zwiespalt, den viele Reisende kennen. Man möchte in vorausschauender Eifersucht seine neugefundene Liebe für sich behalten und doch sein Glück in die Welt hinausposaunen: „Fast immer, wenn man einen Ort entdeckt, der so wunderschön ist wie Positano, ist der Impuls, ihn zu verheimlichen.“ Doch ein paar Zeilen später beruhigt der Autor sich selbst: Es gebe „nicht die geringste Chance“, dass es hier je touristisch im unangenehmen Sinne zugehen könnte. Elegante Damen würden zu einem „Waschlappen im Pfadfindercamp“ zusammenfallen, würden sie versuchen zur Cocktailstunde die Treppen hinaufzusteigen. Außerdem seien die Einwohner zufrieden mit dem Wenigen, das sie hätten: „Für ein bisschen Geld bewegen die sich nicht.“
Heute lässt sich feststellen: Steinbeck lag falsch. Denn nun müsste er jeden Sommer das einstige Fischerdorf mit Schwärmen von Menschen teilen, die hier von Fähren und Bussen für ein paar Stunden ausgespuckt werden und sich in den engen Gassen rund um den Hafen mit ihren Selfiesticks fast verkeilen. Dort entfaltet sich das Drama des globalisierten Reisens: Begehrlichkeiten und Klischees werden bildlich über die sozialen Netzwerke geweckt, denen dann hinterhergehastet wird, um sie mit den eigenen Bildern und Posts zu affirmieren. Für das Wesen von Foschia, dem Diffusen, bleibt da kein Raum. Im Gegenzug fließt reichlich Geld – auch aus den Taschen eleganter und wohlhabender Damen und Herren, die keinerlei Problem damit zu haben scheinen, für ein, zwei Gläschen Falanghina oder Biancolella Treppen zu steigen. So gibt es wohl keine Familie in Positano, die vom Touristenboom nicht auf die ein oder andere Weise profitiert hätte. Von mangelnder Geschäftstüchtigkeit keine Spur.
Andererseits – wer wirklich hinschaut, wird feststellen, dass die Aura des fast schon rätselhaft Exquisiten und Besonderem Positano erhalten geblieben ist.
Wie ein Versprechen, dass das Leben hier nicht nur leichter und schöner aussieht, sondern tatsächlich auch ist.
Um zu ergründen, warum das so ist, kann man sich an Steinbecks Werk festhalten wie an den Geländern längs der Treppen. Seine schriftstellerische Sezierung des Ortes und die Faszination für ihn, macht er an den Menschen fest, die er dort traf: Einheimische, selbstverständlich. Aber auch Zugereiste, die hier ein neues Zuhause fanden. „Nach nur wenigen Tagen wurde uns klar, was Positanos wichtigster Rohstoff ist – Charaktere“, stellte er fest. Das gilt auch knapp siebzig Jahre später und wer etwas über den Ort erfahren möchte, sollte sich mit den Menschen hier an einen Tisch setzen.
Zum Beispiel auf der Terrasse des Hotel „Le Sirenuse“ zum Frühstück mit der Familie Sersale: Gestärkte, pistazienfarbene Tischdecke, weiße, schmiedeeiserne Stühle, feines Porzellan, schwarzer Tee und Spiegeleier. Seit 70 Jahren betreiben die Sersales das Haus. „Makellos und cool“, urteilte Steinbeck, der damals bereits hier übernachtete. Dem Schriftsteller folgte ein bis heute nicht abreißender Strom glamouröser Gäste. Energetisch gesehen, stemmt sich das pompeiirote Gebäude mit den weißen Balkons und den dunkelgrünen Fensterläden, das zum Teil aus dem 17. Jahrhundert stammt, gegen das profane Treiben in den unteren Teilen des Ortes zur Hochsaison: „Kultur war schon immer eine elitäre Angelegenheit“, sagt Carla Sersale. „Das kulturelle Niveau in den 50er-Jahren war nicht höher. Es waren nur weniger Leute unterwegs.“
Die Familie Sersale sind die Eigentümer des Hotel „Le Sirenuse“. Antonio und Carla leiten das Hotel, die Söhne Francesco, Direktor für Marketing und Kommunikation und Aldo, Gastronomieleiter, werden in nächster Generation übernehmen.
Hier, im Le Sirenuse, schwebt es sich jedenfalls ganz wunderbar in einer Blase des Erhabenen. Heute leiten Antonio und seine Frau Carla das Haus. Deren Söhne Francesco und Aldo laufen sich seit Kurzem, nach Jahren in England und den USA, für ihre künftige Führungsrolle warm und sind Spezialisten für kulinarische Konzepte und Marketing. Auf sie wird die Aufgabe zukommen, das Hotel nicht nur als Haus, sondern auch als eine exklusive Marke zu etablieren. Eine assoziierte Duftlinie, „L’Eau d’Italie“, gibt es bereits und seit 2013 auch das Modelabel „Emporio Sirenuse“, das ästhetische Traditionen mediterranen Stils aufgreift, mit anderen ethnischen Einflüssen mixt, sie zeitgenössisch interpretiert und das sich weit über Positano hinaus verkauft. Das aktuelle große Projekt ist ein Beachclub weiter küstenaufwärts.
Worauf muss man achten, wenn man eine Legende in eine Marke überführt? „Es ist schwierig“, sagt Francesco. „Man muss lernen ‚nein‘ zu sagen. Viele tolle Leute kommen mit ihren Ideen auf uns zu, aber es geht darum, strategisch zu sein, womit man nach vorne geht. Wir entscheiden uns schlussendlich immer für das, was unser Angebot, das Erlebnis und die Marke verbessert.“ So klingt das 21. Jahrhundert.
Je mehr Substanz da ist desto feinfühliger muss Evolution geplant sein. 58 Zimmer gibt es und eine Art von Eleganz, die man nicht planen oder konstruieren kann. Unangestrengt und trotzdem voller Tiefe: Alte Gemälde, historisches Mobiliar, nah- und fernöstliche Kunstwerke, mediterrane Verspieltheit, lokales Handwerk, üppige Pflanzen sowie ausgewählte zeitgenössische Kunstwerke von Rita Ackermann, Alex Israel oder Martin Creed, der mit seiner „Don’t Worry”-Neoninstallation der Hausbar ihren Namen gab. Eine Art innenarchitektonisches Foschia, ein Gesamtkunstwerk.
Die pompeiirote Fassade von „Le Sirenuse“. Das Gebäude stammt teilweise aus dem 17. Jahrhundert
Aber: „Wenn Sie in ein Museum gehen wollen, gehen Sie in ein Museum. Kommen Sie hier her, wenn Sie einen lebendigen Organismus erleben wollen“, so Antonio.
Die Familie Sersale ist von neapolitanischem Adel. Im Zweiten Weltkrieg – so die Familiengeschichte – verkauften sie einen Großteil ihres Immobilienbesitzes dort und vergruben das Geld im Garten, was sich nicht als die beste Anlagestrategie entpuppte. Was übrig blieb, war unter anderem das Haus in Positano, wohin die Geschwister Paolo, Aldo und Anna und später auch Franco zogen. 1951 öffneten sie das private Familienanwesen für Gäste und bauten es über die Jahrzehnte immer wieder um und aus. Ästhetisch wurde es vor allem durch Franco geprägt, einem weltgewandten, kunstverständigen Globetrotter, der es mit einer Mischung aus Erbstücken und Kunstschätzen aus aller Welt einrichtete. Das Wesen dieses Hauses wird jedoch letztlich nicht von Dingen, sondern von Menschen bestimmt. Von den Besitzern und vor allem auch vom Personal, das hier teilweise ebenfalls seit Generationen arbeitet: „In einem Familienunternehmen findet Interaktion statt. Und das ist es, was die Leute an uns lieben“, sagt Antonio. Das Team in „Le Sirenuse“ sehe seinen Beruf als Berufung.
Wenn dieses Hotel der kulturelle und gesellschaftliche Resonanzkörper von Positano ist, dann ist der winzige Hafen und die Bucht zu Füßen des Hotels der Bauch des Ortes.
Hier legen die Fähren nach Capri und Sorrent von einer brutalistischen kleinen Betonhalbinsel ab. Boote bringen Menschen zu den umliegenden Buchten oder zu den Yachten und Superyachten, die weiter draußen vor Anker liegen. Am Strand stecken blau-weiß gestreifte Sonnenschirme über den Liegen, die man mieten kann, die Einheimischen haben ihren eigenen Bereich – ohne Mobiliar, aber dafür kostenlos. Es ist ein Gewirr von Bewegung, Farben und Geräuschen, von Plätschern, Motorensurren und Kindergeschrei. Verschwunden von dieser Szenerie sind die Menschen, die der Amalfiküste einst zu Weltruhm verhalfen und Projektionsfläche für exotische Wirtschaftswunderfantasien waren: Die Fischer. Diese „Veteranen der Muße“, wie Stefan Andres in seinem ebenfalls mit „Positano“ betitelten Erzählband von 1957 beschreibt, „hockten auf den Mauern und lagen auf Treppenstufen, schwiegen, gähnten und entließen mit dem Rauch ihrer Zigaretten kurze Sätze in die Dämmerung, und dies so, als wären ihre Worte selber Tabakwölkchen.“
Tatsächlich war das Fischen ein Knochenjob. Und wer morgens um vier raus aufs Meer fährt – damals noch mit nichts als Harpunen und dem eigenen scharfen Blick bewaffnet – ist womöglich kein Veteran der Muße, sondern am Nachmittag einfach nur erschöpft. Heute nutzt einem die beste Ausrüstung mitunter wenig, da das industrielle Fischen weiter draußen auch an dieser Küste die Bestände dezimiert hat. Die „Caprifischer“ sind heute wirklich nur noch ein Schlager. Noch zu Steinbecks Zeiten lebten 200 Fischer in Positano und fast die gesamte Ökonomie des Ortes lief über ihre Arbeit. Heute sind es nur noch drei und der Beruf ist noch akuter vom Aussterben bedroht als der Fang selbst.
Salvatore O’ Fratillo ist einer der Letzten, der noch täglich die Netze auswirft. Der 78-jährige steht an einem ungewöhnlich verhangenen Tag am Kai und möchte sich zum Gespräch nicht setzen. Lieber steht er, richtet den Blick ins Unbestimmte und lässt Erinnerungen und Eingebungen aufwallen wie die Gezeiten. Mit „ich bin immer glücklich, weil ich auf dem Meer aufgewachsen bin“, setzt er gleich zu Anfang den Ton und blickt dabei gravitätisch in die Ferne. Sein Vater und Großvater waren bereits Fischer und seit er fünf Jahre alt war, stach er jeden Tag in See. Bis heute, obwohl er an vielen Tagen und zum Leidwesen seiner Frau nur so viele Fische aus dem Meer zieht, dass er den Diesel gerade so bezahlen kann: „Jeden Tag ist sie sauer auf mich“, sagt er und öffnet die Handflächen gen Himmel. Aber er müsse tun, was er tun müsse. Zu seiner Frau sage er deshalb stets: „Du lackierst Dir die Nägel, malst Dir die Lippen an. Frage ich dich, was das soll? Kümmere dich um deinen Kram, ich kümmere mich um meinen.“
Fast ein dreiviertel Jahrhundert auf dem Meer haben den alten Mann mit den wachen Augen anscheinend auf eine Bewusstseinsebene gehoben, für die Menschen mit zivilisationsnäheren Berufen bereit sind, viel Geld in Sinnsuche zu investieren. Der Mann, der sich noch an die Zeiten erinnern kann als Steinbeck („sehr netter Mann, sehr leidenschaftlich an Positano interessiert“) an dieser Stelle unterwegs war, ist kein Nostalgiker, sondern wirkt vollkommen gegenwärtig und jung für sein Alter. „Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass die Menschen nicht besser werden“, resümiert er. „Sie lernen nichts dazu. Sie verlieren den Sinn in ihrem Leben, weil sie Geld und Status hinterherjagen. Wenn man morgens aufwacht und die Sonne scheint, und man denkt: ‚Ich bin lebendig und ich fühle mich so gut!‘ – das ist der wahre Reichtum.“ Dann wendet er sich mir zu, schaut mich durchdringend an und legt noch eine Schippe drauf: „Wir sind nichts. Wir sind weniger als der Sand am Strand.“ Und während man innerlich zu Staub zerfällt, lächelt er und fügt leise hinzu: „Wenn ich so mit den Leuten hier spreche, denken sie, ich bin verrückt.“
In Wahrheit jedoch ist das Verrückte, dass hier in Positano, an einem der höchsten Punkte des Dorfes, dem Friedhof, ein ähnlicher Spirit regiert. Friedhofswärter Carlo Rispoli ist zwar erst 55 Jahre alt, funkt aber auf einer ähnlichen Wellenlänge wie sein Kollege im Geiste auf Meeresspiegelhöhe. Auch sein Vater war der Friedhofswärter vor ihm, auch er wuchs gewissermaßen auf dem Friedhof auf, ging von Kind auf bei der anfallenden Arbeit zur Hand.
Umringt von Toten, was lehrt einem das über das Leben? „Ah“, sagt er und lächelt erfreut: „Darüber könnte ich stundenlang reden!“ Allerdings schickt er vorweg sei er „kein Philosoph im klassischen Sinne“, sondern „jemand, der philosophische Konzepte auf sein Leben anwendet.“ Das allein ist – nicht nur für einen Friedhofswärter – bereits eine denkwürdige Differenzierung.
Kräftig, mit dunklen Locken und warmen Augen steht auch Rispoli lieber vor der Friedhofskapelle in der Sonne anstatt sich zu setzen und deklariert: „Dieser Ort beeinflusst jeden Aspekt meines Lebens und er hat mich gelehrt, dass man glücklich sein muss im Leben. Ich bin glücklich. Und ich mag mich selbst auf eine gesunde Art und Weise. Es gibt nichts, worüber ich mich beschweren müsste.“ Wichtig sei zu wissen, wer man sei und sich damit anzufreunden.
Der Friedhof in Positano ist ein Ort, auf den sich in der Stadt alle einigen können. Mehr noch: Man ist sehr stolz auf ihn. Was gut ist, denn früher oder später landet jeder Bewohner ohnehin dort. Er liegt auf einem Hügel mit Ausblick, für die Immobilienmakler vermutlich töten würden. Dicht an dicht drängen sich hier Grabsteine und kleine Mausoleen. Auf Grund der Lage gegen die Felsen kann der Friedhof nicht wachsen und so werden als Regel nach sieben Jahren die Überbleibsel der Beerdigten ausgegraben und unter der Kapelle versenkt, um Platz für Neuzugänge zu machen. Offizielle Aufgabe des Friedhofswärters ist es, die gesamte Anlage zu pflegen, inoffiziell ist Rispoli auch als Trauerbegleiter aktiv: „Je mehr ich zuhöre, desto mehr kann ich helfen“, lautet sein Motto.
Einen besonderen Platz auf dem Friedhof und in der Dorfmythologie nimmt das Grab von Essad Bey ein, „dem Moslem“, der 1942 verstarb und durch die Wirren des Zweiten Weltkriegs in Positano gelandet war. Berühmt ist „der Moslem“ auch, weil Paolo Sersale von „Le Sirenuse“ ihn posthum ausgraben und sein Grab gen Mekka ausrichten ließ: „Er wurde 28 Grad abweichend vom Kurs beerdigt“, schreibt Steinbeck. „In einer Seefahrerstadt war das etwas Unerhörtes.“
Was Steinbeck jedoch übersah und was nicht viele Leute wissen, ist, dass es sich bei „dem Moslem“ Essad Bey alias Kurban Said, geborener Lew Abramowitsch Nussimbaum, um einen der wichtigsten Orientalisten, Publizisten und Schriftsteller der Weimarer Republik handelte. Unter anderem schrieb er eine vielbeachtete Biographie über den Propheten Mohammed und 1937, nachdem er in Deutschland bereits mit Publikationsverbot versehen war, den Bestseller-Liebesroman „Ali und Nino“. Geboren 1905 in Baku und tatsächlich jüdisch russischer Abstammung, ist er einer der schillerndsten Intellektuellen jener Epoche. In Berlin, wo er zwölf Jahre lebte, erinnert in der Charlottenburger Fasanenstraße eine Gedenktafel an ihn. 2005 brachte der amerikanische Historiker Tom Reiss eine Biographie heraus, die Beyds schwindelerregende Reisen und Fluchten über fast alle Kontinente nachzeichnet. Hier in Positano zementiert sein Grab einen recht verkürzten Mythos vom Muslim, wie sein Biograf säuerlich anmerkte.
Ab wann werden Mythen zu Beton, die jede Form von Bewegung verhindern? Oder anders gefragt: Wie lässt sich die Zukunft in einer Stadt gestalten, deren Selbstverständnis so sehr von Vergangenheit und Gegenwart geprägt sind? In einem Aspekt ist Positano nämlich recht gewöhnlich, beziehungsweise es hat die gleichen Probleme wie viele andere populäre Reiseziele in Italien: Massentourismus, der saisonal die Stadt aus allen Nähten platzen lässt und eine Wirtschaft, die daran hängt. Selbst die Leute, die mit den Touristen ihr Geld verdienen, beschweren sich offen darüber. Über Busse, die auf den schmalen Straßen für Chaos sorgen und Menschenmengen, die einen ähnlichen Effekt in den unteren Gassen rund um den Hafen auslösen. Die Kehrseite davon wiederum ist der völlige Stillstand des öffentlichen Lebens von November bis April, wenn nach dem Abzug der letzten Gäste die Restaurants und Läden fast alle schließen und nicht wenige Bewohner die Stadt gleich ganz verlassen.
Wer also hat angesichts solcher fast schon schicksalshafter Kräfte eigentlich die Macht etwas zu bewegen? Zu Steinbecks Zeiten war es der Bürgermeister von Positano. „Marquis Paolo Sersale“, der Hotelier aus „Le Sirenuse“, „ein starker, attraktiver Mann um die 50, der sich wie ein Strandgutsammler kleidet und hart in seinem Job als Bürgermeister arbeitet.“ Und – als hätte man es nicht bereits geahnt: Sersale war „Archäologe, Philosoph und Verwalter.“ Außerdem – zumindest für kurze Zeit – Mitglied der kommunistischen Partei, dessen bester Freund, wie in den Geschichten von Don Camillo und Peppone, ein katholischer Priester war.
Historische Aufnahmen aus Positano und „Le Sirenuse“. Schon früh reiste der internationale Jet Set an diesen Ort, darunter auch Jackie Kennedy mit ihrem Sohn John
Als Bürgermeister dieser Epoche konnte er die Stadt nicht nur verwalten, sondern von Grund auf gestalten. Und Paolo Sersale tat genau das: Er sorgte dafür, dass Positano eine funktionierende Infrastruktur bekam mit Straßen und Kanalisation. „Mein Vater war ein Visionär“, sagt seine Tochter Marina. „Er sah das Potenzial des Ortes und tat alles dafür, dass die Dinge hier gut funktionierten und ihn in der Welt bekannt zu machen.“ Er lud einen einflussreichen Mix von Gästen ein, wie zum Beispiel den berühmten französischen Politiker Pierre Mendès France, aber auch britische Showsternchen. So setzte er Positano auf die Bucketlist des Nachkriegsjetset und alle kamen: von Jackie Kennedy über das Schauspielerpaar Taylor und Burton bis hin zu Prinzessin Gracia von Monaco und ihr Mann Prinz Rainier. Außerdem tat er etwas, an das in dieser gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbruchsphase kaum jemand sonst dachte: Er verabschiedete einen Bebauungsplan, wonach Neubauten nur in strengem Einklang mit den ästhetischen Vorgaben der historischen Gebäude errichtet werden durften und verhinderte so auch eine Überbebauung. Anders als in einigen anderen Städten entlang der Amalfiküste.
Dennoch: Die heutige Popularität des Ortes hat auch Paolo Sersale nicht vorhersehen können. Und die Probleme, die damit regelmäßig einhergehen, erst recht nicht. Die Sersales sind heute im Ort immer noch einflussreich, aber nicht mehr in der Politik aktiv. Aber als sie 2005 beschlossen „Le Sirenuse“ für die Wintersaison zu schließen, zogen die wenigen bis dahin noch tapfer gebliebenen Hoteliers nach. Ihr Verhältnis zu dem, was sich um sie herum abspielt, ist nun eher pragmatisch: „Wir können das globalisierte Reiseverhalten nicht verändern, deshalb sollten wir aufhören zu jammern, uns daran adaptieren und auch das Gute darin sehen. Zum Beispiel, dass es in ganz Positano kein schlechtes Restaurant gibt“, sagt Carla Sersale. Ihre Strategie gegen die Gewöhnlichkeit seit jeher: „Gastfreundschaft und bedeutungsvolle Kultur.“ Auf die Frage, wer denn nun im Ort Dinge bewegen kann, antwortet Antonio: „Die Leute mit den größten Familien.“ Davon gebe es drei bis vier. Er ist nicht der Einzige, der mir erklärt, dass Familien hier meist einheitlich nach außen hin auftreten. Auch zum Beispiel bei Wahlen einige man sich im Kollektiv für einen Kandidaten. Bei nur 3000 Einwohnern kann eine Großfamilie da einiges bewegen.
Wenn so viele Kräfte am Ort zerren, bedeutet das wohl auch, dass der Einfluss des Bürgermeisters im Vergleich zu Paolo Sersales Zeiten an Grenzen stößt. Eine Instanz ist er in so einem kleinen Ort natürlich trotzdem. An diesem Abend wird das Ehepaar Sersale den aktuellen Amtsinhaber zum ersten Mal in ihrem Hotelrestaurant „La Sponda“ zum Abendessen treffen. Giuseppe Guida, so sein Name, wurde erst im September 2020 auf diesen Posten gewählt. Er ist 42 Jahre alt und vom Strandgutsammler-Look Paolo Sersales so weit entfernt wie ein perfekter Schwiegersohn: adrette Frisur, blaue Augen, frisch gebügeltes Hemd und ein jungenhaftes Gesicht.
Am Tag zuvor hatte er mich im Rathaus von Positano empfangen. An seinem wuchtigen Schreibtisch sitzend, hinter ihm Jesus am Kreuz und ein Foto von Präsident Sergio Mattarella, links davon die italienische und europäische Flagge, zur Rechten ein offenes bodentiefes Fenster mit Blick auf die Bucht. Guida stammt aus Positano, studierte an der Wirtschaftsuniversität Bocconi in Mailand und begann vor zehn Jahren, sich politisch zu engagieren: „Ich wurde Politiker, weil ich meine Stadt liebe“, sagt er. Und, noch so ein Satz, der hier in fast jedem Gespräch fällt: „Es ist meine Berufung.“ Noch ein Berufener. Nur, dass er Philosoph ist, sagt er nicht.
Bürgermeister eines touristischen Publikumslieblings während einer Pandemie zu sein, ist vermutlich dennoch nicht immer nur ein Traumjob und verschiebt die Prioritäten. Das Zuviel ist derzeit im Rathaus eher nicht das Thema, sondern eher das Zuwenig. Wichtig sei jetzt, „den ökonomischen Einschlag“, den die Pandemie hinterlassen habe, wieder auszugleichen oder sich um den Schutz der Saisonarbeiter zu kümmern. Und deshalb gibt es für Guida nur eine Richtung. Das wichtigste Merkmal der Einwohner von Positano sei Gastfreundschaft und Unternehmergeist. Und: „Sie schauen immer nach vorne.“ Was vorne in Zukunft los sein könnte? „Kultur ist wichtig“, sagt er und drückt mir zum Abschied eine Programmbroschüre in die Hand. Und, wie viele hier, würde er gerne die Besucher auch in der Wintersaison in den Ort holen. Bloß – wie bei vielen hier – scheint es wohl eher ein Wunsch zu sein, denn einen Plan dafür zu geben.
Giuseppe Guida und seine Herausforderin Gabriella Guida
Wenn die Steuerung des Tourismus’ in Positano sich als glitschig entpuppt, ist ein Ausweg vielleicht auch, den Gestaltungsschwerpunkt zumindest teilweise zu verlagern. Morgens zum Kaffee im Starßencafé „Li Galli“ treffe ich Gabriella Guida – nicht verwandt mit dem Bürgermeister: „Er ist ein netter Typ, aber er hat mit mir persönlich nichts zu tun“, sagt sie und strahlt mit ihrem offenen Gesicht mit dem Frühsommertag um die Wette. Die 38-jährige hat in Bologna und Venedig studiert und als Kuratorin gearbeitet. Jetzt leitet sie in dritter Generation das Hotel Pupetto an der Bucht von Fornillo. Außerdem hat sie zwei kleine Kinder, war zeitweilig alleinerziehend. 2020 gründete sie aus dem Stand mit einer handvoll junger Leute eine Partei mit dem super Namen „Super Positano“ und trat dann bei der Bürgermeisterwahl im vergangenen Jahr als erste Frau in der Geschichte der Stadt gegen ihren Namensvetter aus dem Nichts heraus an. Sie verlor mit nur 100 Stimmen Rückstand: „Die Leute hatten ein bisschen Angst vor der Revolution“, sagt sie und lacht. Doch habe sie es sogar geschafft, die verkrusteten Familienstrukturen im Hinblick auf das Wahlverhalten teilweise aufzubrechen, erzählt sie. Und auf die Frage, ob sie wieder antreten werde, sagt sie nur: „Na klar!“
Mit Gabriella Guida zu sprechen, ist anders als mit den Anderen hier zu reden. Das Bild, das sie zeichnet, ist weniger ätherisch und skizziert letztlich auch das Bild traditionell konservativer Strukturen, die gerade im Süden Italiens tief verwurzelt sind. Aber in Stein gemeißelt sind sie selbst hier nicht mehr. Auch da haben Globalisierung und soziale Medien ganze Arbeit geleistet.
Frauen sind für Gabriella ein wichtiges Thema: „In der Öffentlichkeit sind sie weitgehend unsichtbar“, sagt sie. Sie seien zwar für alle Bereiche des privaten Lebens zuständig, hätten in der Familie das Sagen, auch bei Geschäften, aber das werde immer wieder als Argument angeführt werde, dass sie nicht „auch noch“ an der Gestaltung des öffentlichen Lebens mitwirken sollten: „Es ist ein große Ausrede“, sagt sie, „und niemand spricht darüber“.
Wobei, jetzt tut sie es, sitzt in der Opposition im Rathaus und nimmt dabei wirklich kein Blatt vor den Mund: „Es gibt schon einige wenige Frauen in der Politik hier. Ich habe aber bei den Ratssitzungen noch nie ihre Stimme gehört.“ Die Liste der Themen, die hier vornehmlich Frauen und Kinder beträfen und nicht zur Sprache kämen, sei unendlich lang: Es gebe nur einen winzigen Kindergarten, für den mobilen Kinderarzt keinen ausgewiesenen Parkplatz und für den Platz vor der Schule, wo die Mütter auf ihre Kinder warten, scheint es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, einen gescheiten Sonnenschutz zu installieren. Derweil hätten die Teenager von Positano in den Wintermonaten „nichts zu tun“. Zu viele gingen außerdem zu früh von der Schule ab. Und eine Wohnung im Ort zu finden, sei so gut wie unmöglich. Das Entscheidende sei jedoch die mangelnde Repräsentation von Frauen – und Gesetze wären dabei bisher wenig hilfreich. Die gebe es teilweise schon. Zum Beispiel müssten eigentlich 40 Prozent aller Ratsmitglieder Frauen sein, woran sich niemand hält: „Wir brauchen Frauen, die das Sagen haben und viele Andere zur Aktion aufrufen.“ Gabriella Guida ist sich sicher, dass dann auch andere Dinge in Bewegung kämen, wie nachhaltigere Tourismuskonzepte.
Roberto Pontecorvo und seine Partnerin Imma Tralli
Im Nachbarort Praiano machen Roberto Pontecorvo und seine Partnerin Imma Tralli es vor. Der 31-jährige Roberto war 2017 einer von zwei ausgewählten Vertretern aus Italien auf dem „Obama Foundation Summit“, initiiert von der Obama-Stiftung in Chicago, die damals aus aller Welt visionäre junge Menschen zum Gipfeltreffen einlud. Imma, Kunsthistorikerin aus Matera, und Roberto, der Internationale Beziehungen studierte, trafen sich während ihrer Ausbildung in Brüssel, aber der Sog, danach an die Amalfiküste zurückzukehren, sei zu stark gewesen: „Hier ist es magisch und einzigartig“, sagt Roberto. Und, da sie nun hier seien, „kreieren wird das Umfeld, was uns gefällt, einfach selbst.“
Roberto ist Mitbegründer der non-profit-Organisation „Naturarte Praiano“, die Kunstprojekte im öffentlichen Raum unterstützt und zusammen mit seiner Partnerin hat er unlängst das „Marea Art Project“ gegründet, das diesen Winter startet. Für das Kunstprojekt werden Hausbesitzer in Praiano und Positano Kreativen aus allen Bereichen, von bildenden Künstlern über Architekten, Musikern bis hin zu Modedesignern in den Wintermonaten kostenlos Zimmer zur Verfügung stellen, damit sie hier arbeiten können: „Es braucht einen Austausch mit der Gemeinde. Die Amalfiküste wird wie eine Postkarte verkauft – und sie ist es in gewisser Weise auch, aber das ist nicht alles. Wir möchten eine neue Perspektive auf sie eröffnen“, sagt Roberto. Und die 30-jährige Imma fügt hinzu:
„Wir befinden uns auf fragilem Territorium. Langsamkeit muss wieder mehr respektiert werden. Für diese Hetze gibt es hier nicht die passende Infrastruktur. Wir brauchen mehr Reisende und weniger Touristen.“
Fahrt entlang der Küste mit Frank Carpegna, der zu allem und jeden eine Geschichte weiß
Die höchste Steigerung des Reisenden ist der Expat, eine englische Bezeichnung für Immigranten, die Freiwilligkeit und Weltläufigkeit impliziert. Ebenfalls im Straßencafé „Li Galli“ sitzt morgens Frank Carpegna, den hier viele nur Francesco nennen. Ursprünglich kommt er aus New York, in seiner Aussprache klingt davon noch eine vage Erinnerung nach. Seit 30 Jahren lebt er in Positano. Er sei der erste Amerikaner gewesen, der sich hier dauerhaft niedergelassen habe, erzählt er. Wir kommen schnell ins Gespräch, denn der 69-jährige trägt ein pinkes Sweatshirt, zu dem man ihm einfach komplementieren muss. Fünf Minuten später sitzen wir bereits an einem Tisch zusammen und am nächsten Tag beim Mittagessen in einer kleinen Glitzerbucht im Strandrestaurant „Da Adolfo“ – ein Ort, an dem sich vergessen lässt, dass es irgendwo da draußen noch eine andere Wirklichkeit gibt.
Ein Grund, warum Ausländer nach Positano zögen, schreibt Steinbeck sei, weil nichts an diesem Ort darauf aus sei die Gedanken zu stören. „Vorausgesetzt, man hat einen Gedanken.“ Bei Franks Gedanken und Geschichten wundert man sich, dass sie alle überhaupt in einem einzigen Kopf beziehungsweise Leben Platz haben. Sie reichen von seiner Kindheit im East Village („Ich habe die West Side Story gelebt“) über seine Zeit als erfolgreicher Investor an der Upper East Side, wo er unter anderem an der Patentierung des Magnetresonanztherapieverfahrens beteiligt war, bis hin zu einem seiner philosophischen Lieblingsthemen, „dem Konzept der Angst“ und wie man sie überwindet, um ein erfüllteres Leben zu führen.
Außerdem singt er gerne, und zwar am liebsten so lange bis alle anderen einstimmen. Wieso er nach Positano kam? „Weil ich Schönheit liebe und gerne dort bin, wo es schön ist.“ Die lange Antwort beinhaltet unter anderem Ausführungen über die „Energiefelder“, die sich hier kreuzten und von denen schon die Römer wussten, „eine spirituelle Essenz, die die gesamte Bucht von Salerno durchdringt.“ Und sie beinhaltet zahllose Geschichten wie die von der Frau, die Frank und sein Freundeskreis eines Abends an einer Straße aufgabelten, weil sie dort so verloren herumstand. Sie luden sie zum Essen ein. Dabei stellte sich heraus, dass sie Opernsängerin war, Liebeskummer und außerdem Geburtstag hatte. Sie sang so traurige Lieder auf dem Balkon, dass selbst am nächsten Tag die Nachbarschaft noch völlig mitgenommen war und an eine Erscheinung glaubte.
Vielleicht ist es auch das: Positano als Ort, wo die landschaftliche Harmonie den Rahmen bietet, um sich innerlich aufzuschaukeln und über sich hinauszuwachsen. Wo Biografien auf den Kopf gestellt werden. Wo ungeahnte und manchmal auch unerhörte Konstellationen möglich werden. Künstlerisch und zwischenmenschlich.
Tonangebend auch hier das Sirenuse-Umfeld, wo Paolo Sersale Mitte der 50er-Jahre während ihres Urlaubs eine Affäre mit Anne Mary Dent-Brocklehurst, einer adligen, britischen Offiziersgattin begann. Sie zog sich über mehre Sommer bis „la bellissima Annemarie“, wie ein Klatschmagazin sie nannte, einfach dort blieb, sich scheiden ließ und für einen nicht unerheblichen gesellschaftlichen Skandal sorgte.
Der einsetzende Tourismus nach dem Zweiten Weltkrieg brachte so nicht nur wirtschaftlich, sondern auch lebensanschaulich einiges in Bewegung. Der Künstler Paolo Sandulli, der sein Atelier in einem Leuchtturm in Praiano hat und dort malt, zeichnet und Büsten aus Ton anfertigt, die er als „Königinnen der Meere“ bezeichnet, erinnert sich an die Zeiten als die ersten jungen Frauen aus Skandinavien kamen: „Es war eine andere kulturelle Idee. Unseren Mädchen musste man Blumen mitbringen und sie umwerben. Diese Touristinnen waren viel nahbarer. Man konnte mit ihnen in Beziehung treten, man konnte ihnen nahe sein“, so der 72-jährige. „Es öffnete den Horizont.“
Der Künstler Paolo Sandulli hat sein öffentlich zugängliches Atelier in einem Leuchtturm in Praiano
Durch alle gesellschaftlichen Schichten fand eine Öffnung statt – bis heute. Der Fischer O’Fratillo zum Beispiel, der fließend Englisch spricht, war in erster Ehe mit einer englischen Touristin verheiratet, die er am Strand kennenlernte: „Wenn man die Sprachen und Kulturen mixt, wird das Leben manchmal schwierig“, sagt er. „Jeder muss etwas aufgeben, aber dafür gewinnt jeder auch etwas Neues hinzu.“ O’Fratillos erste Ehefrau verstarb früh und liegt nun bei Carlo Rispoli auf dem Friedhof. Der wiederum ist ebenfalls mit einer Engländerin verheiratet. Noch so ein Coup de Foudre. Sie kam schon Jahre als Besucherin und doch stand er eines Tages mit dem Koffer bei ihr vor der Tür: Er gehöre jetzt zu ihr. Und so ist es bis heute – seit über 20 Jahren.
Bevor nun die Nordeuropäerinnen ihre Koffer packen: Diese Drehbücher schreiben sich nicht von selbst. Viele von ihnen enden nach einem Sommer als erzählerischer Rohrkrepierer. Und die Bewegung geht auch in die andere Richtung, wenn vor allem italienische Männer die Chance nutzen, um mit einer ausländischen Frau den Absprung aus einem Ort zu schaffen, in dem jenseits des Tourismus wenig berufliche Chancen bestehen. Aber das an diesem Ort das Traditionelle, das Unkonventionelle und das Mutige Seite an Seite leben, erzeugt Spannung. „Schönheit und Begehren“ gehörten hier einfach zusammen, sagt der Künstler Santulli.
Steinbeck schaffte es, diese Beobachtung als gefühlsmäßiges Foschia auf den Punkt zu bringen: „Positano geht unter die Haut. Es wirkt nicht real, wenn du dort bist, und es wird verlockend real, wenn du gegangen bist.“ Ob Ort oder Mensch – besser lässt sich das Wesen der Leidenschaft nicht beschreiben. Auch nach 70 Jahren nicht.