DER ARCHITEKT

„MEINE ARBEIT IST ANTI-ELITÄR“

Mit Andy Warhol wurde er bekannt, Gisele Bündchen wollte ein Haus von ihm, im Dresdner Zwinger hat er den neuen Porzellanflügel gebaut: Peter Marino ist einer der berühmtesten Architekten der Welt. Sven Michaelsen erzählte er von seiner Kindheit, seiner Prägung durch Warhol und seiner Liebe zur Kunst

Er kommt in den Raum mit der Dynamik eines Mannes, der keine Zeit hat, aber in dieser Zeit viel erreichen will. An diesem Vormittag führt Peter Marino eine Besuchergruppe durch sein Kunstmuseum in Southampton auf Long Island. Vor einem menschlichen Skelett, dem man eine Rockerjacke umgehängt hat, bleibt er stehen. „Fällt Ihnen etwas auf?“, fragt er. „Ja“, antwortet eine Besucherin, „Sie haben die gleiche Jacke an.“ Marino lächelt zufrieden. „Es ist meine Jacke. Ich habe mehrere davon. Sie stehen vor einer Skulptur des österreichischen Künstlers Erwin Wurm, der Name lautet‚ Peter Marino in 100 Jahren‘.“ Warum neben dem Skelett ein Handbesen und eine Flasche mit Sprühreiniger zu sehen sind, fragt die Besucherin. „Erwin war mal bei mir zu Hause“, antwortet Marino. „Seither weiß er, dass ich einen Putzfimmel habe.“

Mister Marino, Sie konnten bis zu Ihrem siebten Lebensjahr Ihre Beine nur unter Schmerzen bewegen. Hat diese Behinderung Ihr Weltgefühl geformt?

Sie hat zumindest meine Augen geformt. Wer tagsüber viele Stunden im Bett verbringen muss, entwickelt eine überscharfe Wahrnehmung für die Gegenstände, die ihn umgeben. Diese Intensität des Blicks ist die Grundlage für das, was ich tue. Meine Frau Jane ist Kostümbildnerin. Wenn wir von einer Dinner-Einladung nach Hause kommen, fragt sie mich: „Ist dir das Kleid der Gastgeberin aufgefallen?“ Meine Antwort lautet jedes Mal: „Nein.“ Im Gegenzug frage ich sie: „Hast du gesehen, dass der Eckschrank ein Unikat des italienischen Jugendstildesigners Carlo Bugatti ist?“ Unnötig zu sagen, dass ihr das entgangen ist. Wer ein übergenaues Auge für das eine hat, ist nahezu blind für alles andere.

Woran merken Sie das im Alltag?

Ich hatte im März Corona. Der Arzt fragte: „Verlieren Sie Ihren Geruchs- oder Geschmackssinn?“ Ich antwortete: „Doktor, wie soll ich das wissen? Sie kennen mich seit 30 Jahren – ich hatte nie einen Geruchs- oder Geschmackssinn.“ Meine Tochter Isabelle könnte eine Sommelière sein. Sie kann an Geschmack und Geruch eines Weins feststellen, aus welcher Traube er wo gewonnen wurde. Mein Talent beginnt und endet beim Visuellen.

Wie hieß die Krankheit, die Sie als Kind hatten?

Die Details sind sehr unerfreulich. Die Krankheit heißt Morbus Perthes. Wegen Durchblutungsstörungen stirbt das Knochengewebe im Hüftkopf ab. Um die Schmerzen in Beinen und Hüfte ertragen zu können, entwickelt man Schonhinken. Ihr Gehirn sagt ständig: Am besten ist, du bewegst dich gar nicht!

Waren Sie ein unglückliches Kind?

Es gab ein Gefühl, das oft stärker war als mein Unglück: Herausgehobenheit. Dass sich so viele Ärzte und Krankenschwestern um mich kümmerten, bestärkte mich in diesem Gefühl. Andererseits kreiste mein Denken um die Frage: Was habe ich bloß getan, dass ich der eine Kranke unter 20.000 Gesunden bin? Warum kann ich kein Durchschnittsmensch sein? Meine frühe Kindheit spielte zwischen diesen beiden Polen.

Sie wollten als Maler Karriere machen. Was ließ Sie Architekt werden?

Wegen meiner Krankheit waren meine Augen mein Leben. Ich fing schon mit drei Jahren zu zeichnen an, und meine Kunstlehrer an der Cornell-Universität in New York bescheinigten mir ein gutes Auge beim Malen. Aber dann habe ich Ende der 60er-Jahre Künstler wie Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg, Jasper Johns, Cy Twombly, Frank Stella und Andy Warhol in ihren Ateliers besucht. Die Kreativität dieser Leute explodierte gerade, und ich ahnte, als Maler würde ich immer nur zweite Wahl sein. Mittelmäßigkeit war aber nicht mein Ziel.

 In der Architektur herrschte gerade lähmende Langeweile. In diesem Stillstand sah ich meine Chance. Also wurde ich Architekt.

Als Andy Warhol mit seiner Factory umzog, suchte er einen Architekten für die neuen Räume. Wie kam ein Niemand wie Sie an diesen Auftrag?

Ich hatte viele Wochenenden in der Factory verbracht, weil sie ein Labor für das Neue war. Eingeführt hat mich eine junge Dame namens Pat Hackett. Sie transkribierte die Tonbänder, auf denen Warhol seinen Alltag festhielt, und wurde später die Ghostwriterin seiner berühmt-berüchtigten Tagebücher. Warhol hatte gehört, ich sei Architekt, und da er geizige Seiten hatte, bekam ich den Auftrag. Er wusste, Neulinge sind billig zu haben. Wären Sie mein Biograf, müsste ich die Geschichte natürlich so erzählen, dass Warhols genialischer Weitblick ihn erkennen ließ, welch riesiges Talent und Karrierehunger in mir steckten.

Wie viel zahlte er Ihnen?

Er wies einen Assistenten an, mir 150 Dollar für Spesen und Auslagen auszuhändigen. Statt eines Honorars gab er mir Bilder. Ein Warhol war damals keine unerschwingliche Kostbarkeit wie heute. Ein arrivierter Architekt hätte ihn ein Vielfaches gekostet.

Waren Sie damals Warholianer?

Nicht von Anfang an. Die Geschichte ist sehr, sehr peinlich, aber ich erzähle sie trotzdem: Als ich Mitte der 60er-Jahre in der Factory erstmals Bilder von Warhol sah, sagte ich entgeistert zu ihm: „Sorry, Andy, aber deine Bilder sind belangloser Mist.“ Er guckte mich auf seine schüchtern-linkische Art an und erwiderte: „Findest du? Also mir gefallen sie ganz gut.“ Heute bin ich ein nicht ganz unbedeutender Warhol-Sammler. Ich hoffe, das macht die Geschichte ein bisschen weniger peinlich.

Haben Sie die Warhols wieder verkauft, die Sie als Honorar bekamen?

Einen, viele Jahre später.

Warum?

Von dem Erlös habe ich mein erstes Apartment in Manhattan gekauft.

1974 kaufte Warhol ein 1902 erbautes Haus mit vier Etagen im Herzen der New Yorker Upper East Side. Vier Jahre später beauftragte er Sie mit der Umgestaltung. Wie lautete sein Briefing?

Andys Geburtsname war Andrew Warhola. Seine Eltern waren Einwanderer aus einem ärmlichen Dorf in den Karpaten, die kaum Englisch sprachen und in der Arbeiterstadt Pittsburgh in einer Zweizimmerwohnung ohne Warmwasser und Toilette lebten. Deswegen war Andy fasziniert von altem amerikanischem Reichtum und Antiquitäten. Seine Schüchternheit verbot ihm aber, zu sagen, er wolle wohnen wie ein Großbürger um 1900. Stattdessen fuhren wir nach Long Island und schauten uns die um die Jahrhundertwende errichteten Villen von Milliardären wie William Francis du Pont Jr. an. Am Ende der Tour sagte Andy: So in der Art soll es bei mir aussehen.

War das Warhol-Haus Ihre Eintrittskarte in die Welt der Glitterati und des Geldadels?

Nein, denn bis zu Andys Tod 1987 haben sein Haus weniger als 15 Menschen gesehen. Er ging zwar jeden Abend aus, lud aber niemanden zu sich ein. Der Werbeeffekt für mich war also gleich null. Trotzdem ist Andy die entscheidende Figur meines Lebens. Durch ihn und seinen Manager Fred Hughes lernte ich die Leute kennen, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Die Liste reicht von den Rothschilds und Gettys bis zu den Agnellis. Man trifft diese Leute nicht auf der Straße.

Was haben Sie für die Agnellis entworfen?

Gianni Agnelli suchte einen Architekten für ein neues Haus. Da meine Eltern aus Süditalien kommen, spreche ich Italienisch. Mein Rivale bei dem Projekt war mein berühmter Kollege Richard Meier. Er spricht kein Italienisch. Muss ich Ihnen sagen, wem Gianni den Zuschlag gab?

Was würde Warhol über das Jahr 2021 sagen?

Er würde riesige Leinwände mit Covid-Viren bemalen, in vielen verschiedenen Popfarben, jeweils in Vierer-Auflagen. Die Bilder würden ihm aus den Händen gerissen werden. Andy war der Papst des Pop. Seine Nachfahren heißen Damien Hirst, Jeff Koons und Tom Sachs. Jeder von ihnen geht bis heute in Andys Fußspuren.

Sie auch?

Ja, Andy hat Schluss gemacht mit der hirnrissigen Trennung zwischen Kunst und Kommerz. Wenn Journalisten bemängeln, meine Bauten seien kommerziell, sage ich: „Unter welchem Stein haben Sie die letzten 50 Jahre gelebt?“ Meine Arbeiten sind anti-elitär, weder abstrakt noch intellektuell. Das ist Andys Pop-Erbe.

Kein zweiter Architekt hat so viele Flagship-Stores für Modeunternehmen entworfen wie Sie. Wie ist diese Affinität entstanden?

Am Anfang standen Furcht und Ablehnung. Ich bin in Queens in einer Familie groß geworden, die zur unteren Mittelschicht gehörte. Seit ich zehn war, nahm meine Mutter mich mit zu Einkaufsbummeln in die großen Kaufhäuser in Manhattan. 1959 waren Macy’s, Bloomingdale’s, Saks Fifth Avenue und Bergdorf Goodman düstere, mit Waren überfüllte Käfige, in denen ich Platzangst bekam. Was für meine Mutter der Höhepunkt der Woche war, löste bei mir klaustrophobische Anfälle aus. Wenn die 42 Flagship-Stores, die ich seit 1986 konzipiert habe, ein gemeinsames Merkmal aufweisen, dann natürliches Licht und verschwenderischer Platz.

Modedesigner sind oft Primadonnen. Wie oft gibt es Streit bei der Gestaltung eines Flagship-Stores?

Ich habe noch keinen erlebt, der mir nicht beim ersten Gespräch sagte: „Ich möchte, dass Sie einen leeren, weißen Galerieraum bauen. Die Kleidung, die ich entwerfe, ist Kunst. Nichts soll von ihr ablenken.“ Ich tue dann so, als würde ich interessiert lauschen. Innerlich schaue ich auf die Uhr. Ich führe es auf mein fortgeschrittenes Alter zurück, dass ich oft nicht zuhöre, wenn Leute von ihren grandiosen Ideen erzählen. Die meisten dieser fabelhaften Einfälle kenne ich schon seit 30 Jahren.

Zu Ihren Kunden zählen Calvin Klein, Donna Karan, Giorgio Armani, Ermenegildo Zegna, Louis Vuitton, Chanel, Fendi, Dior und Bulgari. Wie …

… Sie haben Valentino, Marc Jacobs und viele andere ausgelassen. Und was Sie vielleicht nicht wissen: Als Bernard Arnault am 7. Januar dieses Jahres Tiffany & Co. kaufte, rief er mich am 8. Januar morgens um neun an und sagte: „Peter, du hast einen zusätzlichen Job.“

 

Wie kann derselbe Architekt für konkurrierende Firmen arbeiten?

Wie kann ein Klaviervirtuose gleichzeitig mit Bach, Mozart und Beethoven brillieren? Ganz einfach, er wechselt die Notenblätter. Ich stelle mir jedes Modeunternehmen als einen Menschen mit einmaligem Charakter vor. Nachdem ich diesen Charakter studiert habe, entscheide ich, wie die Hülle auszusehen hat, die zu ihm passt. Auf diese Weise entstehen lauter Unikate.

Wie viele Mitarbeiter beschäftigt Ihre Firma?

160. In unserem Büro in Manhattan gibt es für jeden Kunden einen separaten war room. Andernfalls würde es zu Konfusionen kommen.

Bei Chanel hatten Sie es mit Karl Lagerfeld zu tun. Wie kamen „Kaiser Karl“ und der „Ledergott des Luxus“, wie Sie genannt werden, miteinander aus?

Karl hat mich total eingeschüchtert. Er war der scharfsinnigste und gebildetste Couturier, für den ich je gearbeitet habe. Ich habe auch ein paar Bücher in meinem Leben gelesen, aber er
gab mir das Gefühl, einer Bibliothek gegenüberzusitzen. Das Demütigende war: Er konnte sich auch noch merken, was er gelesen hatte! Nie werde ich vergessen, wie ich ihm mal Entwürfe für einen neuen Chanel-Shop vorlegte. Er sah mich durch seine Sonnenbrille an und sagte, meine Zeichnungen erinnerten ihn an den vor 60 Jahren verstorbenen schwedischen Architekten – und dann kam ein Name, den ich noch nie gehört hatte. Einerseits schämte ich mich bis auf die Knochen, anderseits dachte ich, wie soll ich jeden schwedischen Architekten der Jahrhundertwende kennen? Wissen Sie, wie Karl in Frankreich genannt wurde?

Nein.

La Mitraillette, die Maschinenpistole. Er sprach dreimal so schnell wie ich. Schon das gab einem das Gefühl, nicht ganz so intelligent zu sein wie er. Gott hatte einen guten Tag, als er einen Schnelldenker wie Karl auf die Menschheit losließ. Heute gibt es zu viele Computer und zu wenig Charaktere wie ihn.

Warum bezeichnen Sie sich als Architekten, „der aus dem Werbebudget einer Firma bezahlt wird“?

Als ich meine Firma gründete, waren die Kosten für Räume und Personal gewaltig, die Einnahmen minimal. Während des Studiums hatte mir niemand beigebracht, wie man eine Firma führt und dabei Gewinn macht. Eines Tages nahm mich ein Kunde beiseite und sagte: „Peter, obwohl du immer gefragter wirst, nimmst du Honorare wie ein Wald-und-Wiesen-Architekt, der in Minnesota eine Halle für Nutzvieh entwerfen soll. Werde sehr, sehr teuer, und du wirst sehen, die Leute rennen dir die Bude ein.“ Er hatte recht. 1984 wurde Familie Wertheimer mein Kunde, die Eigentümer von Chanel. 1994 kam Bernard Arnault mit seiner LVMH-Gruppe hinzu. Obwohl wir von Milliardären sprechen, gab es ein Problem: Als die Finanzkontrolleure meine Honorarrechnungen sahen, verlangten sie, mich abzulösen. Erst als sie begriffen, dass meine Flagship-Stores Zigtausende neue Kunden anlockten, hörten sie auf, über meine Preise zu meckern. Um es in der Sprache dieser Anzugträger zu sagen: Peter Marino zu beschäftigen stellt einen finanziellen Mehrwert dar.

Boon The Shop in Seoul.
Chanel Boutique in Tokio.
Treppenhaus der Dior-Boutique in Seoul.
Flügel für die Porzellansammlung im Zwinger in Dresden.
Louis Vuitton Flagship Store in Paris.

Sie entwerfen Läden für so unterschiedliche kulturelle Milieus wie Shanghai, Moskau, Palm Springs und Paris. Welchen Einfluss haben länderspezifische Statistiken und Kundenbefragungen auf Ihre Arbeit?

Null. Ich bin zu erfahren, um mir irgendeinen Scheiß von 32-jährigen Marketing-Schnullis in billigen Anzügen anzuhören. Wenn so ein aufgeblasener Typ vor mir steht und loslegt, sage ich: „Soso, Sie wissen also, was die Kundschaft will. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, was Sie anhaben? Sie kapieren von Mode so viel wie ich von Astrophysik.“ Das ist meine Art, „what the fuck“ zu sagen. Es gibt in meinem Metier nur ein unumstößliches Gesetz: Die Leute wissen erst, was sie wollen, wenn sie es sehen.

Was ist entscheidender für das Image: die Fashion- Show oder der Look des Flagship-Stores?

Die Show erreicht durch das Internet mehr Menschen, andererseits sind sich die Schauen der Firmen sehr viel ähnlicher, als die meisten denken. Die allure einer Marke soll Düfte und Schönheitsprodukte verkaufen. Einen Flagship- Store zu betreten heißt, aus der Gewöhnlichkeit des Alltags in eine schillernde Welt der Sehnsüchte und Träume entführt zu werden. Für eine Modenschau gilt das Gleiche. Schauen Sie sich diese unfassbar schönen Models mit ihren perfekten Körpern an. Auch nach 40 Jahren in der Modewelt werde ich nicht müde, sie bewundernd anzuschauen, und mich zu fragen, wo solche Menschen wohl herkommen. Danke, Gott, dass du Frauen erschaffen hast!

Was sagen Sie den Menschen, die den Besuch von Luxusboutiquen scheuen, weil sie sie als einschüchternd empfinden?

Studien besagen, dass 70 von 100 Befragten dieses Gefühl haben. Deshalb fordern die Clowns vom Marketing ständig, ich solle doch bitte Läden entwerfen, die einladender sind. Meine Antwort lautet: Ihr wollt die Leute nicht einschüchtern? Großartige Idee, dann senkt die Preise um 50 Prozent.

Ein Glaubenssatz von Ihnen lautet: „Dark rooms are for sex, light rooms are for shopping.“ Was ist bei der Gestaltung von Boutiquen noch zu beachten?

Wenn ich vor den Umkleiden ein Sofa sehe, ruft eine Stimme in mir: Fehler! Dort warten meist Männer auf ihre Frauen, und von Männern weiß man, dass sie Sessel bevorzugen. Ein Sofa macht sie nervös, weil es die Gefahr birgt, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Männer sind beim Shoppen genervt genug. Auch noch mit Fremden Konversation machen zu müssen wäre ihnen ein Greuel. Und: 90 Prozent aller Kunden bewegen sich nach dem Reinkommen nach rechts, weil sie Rechtshänder sind.

Werden die Corona-Pandemie und die menschen- gemachte Klimakrise zu einer neuen Konsummoral führen?

Ich könnte jetzt behaupten, wir gehen auf eine neue Einfachheit zu, aber da bewegt man sich auf dünnem Eis. Meiner Erfahrung nach gibt es alle fünf bis sieben Jahre einen Umschwung, aber wer vorausgesagt hat, wie er aussehen wird, hat sich jedes Mal furchtbar blamiert.

Gibt es Figuren, an denen Sie sich orientieren?

Wenn ich wissen will, wohin die Reise geht, sehe ich mir Modenschauen an. Die guten Couturiers erspüren den Geist einer Zeit wie wärmegeleitete Raketen. Sie können ihre Witterungen aber nicht in Worten ausdrücken. Sie entwerfen Kleidung als Metaphern für das, was sie prophezeien.

Zur Logik der Mode gehört, dass alles und jeder früher oder später aus der Mode gerät. Fürchten Sie, irgendwann nicht mehr en vogue zu sein?

Nein. Zu wem gehen Sie, wenn Ihr Knie operiert werden muss: zu einem nervösen Neuling oder zu einem erfahrenen Arzt, der schon ein paar Hundert Knie erfolgreich operiert hat?

Zu Ihrer Handschrift als Architekt gehört, dass Sie für das Dekor Ihrer Flagship-Stores keine vorhandenen Kunstwerke aufkaufen, sondern Arbeiten bei Künstlern in Auftrag geben. Wie gehen Sie dabei vor?

Sobald ich weiß, wie ein Gebäude von mir aussehen soll, überlege ich, welcher Künstler eine passende Ästhetik hat. Mir kommt zugute, dass ich viele seit den Zeiten der Factory persönlich kenne. Sie vertrauen mir, ich vertraue ihnen. Die Liste der Leute, die Werke für mich geschaffen haben, reicht von James Turrell und Ólafur Elíasson über Sol LeWitt bis zu Tracey Emin und Damien Hirst. Mein Lerneffekt bei der Zusammenarbeit ist, dass ich von Künstlern nie das bekomme, was ich erwartet habe. Das Gleiche gilt hoffentlich für mich. Meine Ideen sollen mich selbst überraschen.

Welcher Künstler hat die beste Werbung für ein Gebäude geliefert?

Michelangelo. Sein Auftrag bei der Bemalung der Sixtinischen Kapelle lautete, den Glauben an Gott zu verkaufen. Diesen Job hat er mit beneidenswerter Perfektion erledigt.

Sehen Sie sich insgeheim selbst als Künstler?

Nein, die Kunst ist ihr eigener Zweck. Ich dagegen habe Auftraggeber, die von meinen Bauten auch so Profanes wie Toiletten und Notausgänge erwarten. Wenn Ideen zu Taten schrumpfen, sieht man, bei wem der Ehrgeiz größer ist als das Talent. Mein Stolz ist, zu können, was ich tue.

Sie sammeln seit Ende der 60er-Jahre Kunst. Vor drei Monaten haben Sie sich den Traum vieler Sammler erfüllt: ein eigenes Museum.

Mein Zweitwohnsitz ist Southampton auf Long Island. Vor ein paar Jahren fiel mir ein Gebäude aus dem Jahr 1895 auf, das als Bibliothek genutzt wurde. Ich habe es gekauft und zu einem Museum umgebaut. Wenn Sie an Freitagen oder Samstagen für 20 Dollar eine Führung mitmachen, kann es sein, dass ich Ihr Guide bin.

In Ihrem Museum zeigen Sie Arbeiten von Künstlern wie Jean-Michel Basquiat, Francesco Clemente, Georg Baselitz, Candida Höfer, Richard Deacon, Lucio Fontana, Diane Arbus, Andreas Gursky, Keith Haring, Robert Mapplethorpe, Richard Prince, Cindy Sherman, Richard Serra, Thomas Struth und Andy Warhol. Stimmt es, dass das nur ein Bruchteil Ihrer Sammlung ist?

Ja, ich kann nur 25 Prozent zeigen. Deshalb wechseln wir alle paar Monate die Exponate. Da Sie Journalist sind, interessiert Sie vielleicht, dass der Co-Direktor des Museums Bob Colacello ist, der frühere Chefredakteur von Andy Warhols Magazin „Interview“.

Jede Kunstsammlung ist auch ein Selbstporträt des Sammlers. Was sagt die Peter Marino Foundation über Peter Marino aus?

Dass der Mann eine Menge von Kunstgeschichte versteht, sich für unterschiedlichste Kulturen interessiert und einen katholischen Geschmack hat, der von Schönheitssucht bestimmt ist. Der Leiter eines Museums für moderne Kunst würde eine Bronzebüste aus der Renaissance auch dann nicht erkennen, wenn sie ihm auf den Kopf knallt. Warum müssen Museen so uniform sein? Mich langweilt das tödlich. Thematisch eng gefasste Sammlungen zeugen von engen Köpfen.

Bei mir sehen Sie ägyptische Kunst von 5000 vor Christus bis zu Werken aus dem vergangenen Jahr. Die Objekte kommen in einen Dialog miteinander und kommentieren sich gegenseitig. Nur so wird ein Museum von einem Totenhaus zu einer Quelle von Inspiration und Vergnügen.

Wie charakterisiert Ihre Frau den Sammler Peter Marino?

Ich sammle wie besessen alte Keramiken. Neulich entdeckte meine Frau unterm Bett ein paar Kisten und fragte, ob ich wisse, was es mit ihnen auf sich habe. Als ich kleinlaut antwortete, da seien Keramiken drin, für die ich keinen Platz mehr hätte, sagte sie: Du bist kein Sammler, du bist ein Hamsterer, du hortest!

Angenommen, Ihr Museum steht in Flammen. Welches Werk retten Sie?

Die Bronzen von Ferdinando Tacca aus dem 17. Jahrhundert. Die Werke von Anselm Kiefer zu retten wäre überflüssig. Er würde die Spuren lieben, die das Feuer auf seinen Arbeiten aus Blei hinterlässt, und sagen: Das bleibt bitte so!

Ist ein Museum, das den eigenen Namen trägt, die ultimative Ego-Trophäe?

Mir ist etwas anderes wichtiger: Niemand würde es wagen, die „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci zu übermalen, weil er das Bild für unmodern hält. In der Architektur ist es anders. Nach 30 Jahren wird ein Gebäude abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. Mit Museen wird respektvoller verfahren. Insofern sind sie ein Protest gegen Vergessen und Vergänglichkeit.

Architekten wie Frank Gehry, David Chipperfield oder der für Prada arbeitende Rem Koolhaas sind weltbekannt, dennoch würde es kaum jemand bemerken, wenn sie ein Lokal betreten. Bei Ihnen dagegen geht ein Raunen durch den Raum, und die Menschen fotografieren Sie. Wann haben Sie angefangen, sich wie eine Mischung aus Motorradrocker und Türsteher eines Fetisch- Clubs zu kleiden?

Ist „Kleider machen Leute“ nicht ein deutsches Sprichwort? Wer originelle Ideen verkauft, sollte nicht wie ein Busfahrer angezogen sein. Karl Lagerfeld sagte mal zu mir, er kenne nur drei Leute auf der Welt mit einem unverwechselbaren Look: Mao Tse-tung, ihn und mich. Mir würde noch Warhol mit seiner platinblonden Perücke einfallen. Meine Ledermontur ist keine Verkleidung, denn ich bin schon als Student Motorrad gefahren. Weil ich immer noch unter Klaustrophobie leide, kann ich in Autos nicht richtig atmen. Auf dem Motorrad versperrt nichts die Sicht zur Seite oder nach oben. Mit meiner Triumph Speed Triple 1050 S rumzufahren ist für mich wie eine Zen-Übung: Das Gedankenkarussell in meinem Kopf kommt endlich zum Stillstand.

Richtig, dass Sie nicht nur die Tattoos auf Ihrem Körper selbst entworfen haben, sondern auch Ihre Lederkleidung?

Ja, ich bin von großen Unternehmen angesprochen worden, ob ich nicht eine Modelinie unter meinem Namen auf den Markt bringen wolle. Aber warum sollte ich das tun? Ich habe keine Sehnsucht, jemandem zu begegnen, der so aussieht wie ich.

Was haben Sie an, wenn Sie mit Ihrer Frau auf dem Sofa Netflix-Serien schauen?

Meist Trainingskleidung von Under Armour. Ich mache oft Kraftübungen zu Hause und bin zu faul, mich umzuziehen.

Eine einträgliche Spezialität von Ihnen sind Villen für Stars und Superreiche wie David Geffen, Tom Brady und Gisele Bündchen. Wie gehen Sie bei der Planung dieser Multimillionen-Projekte vor?

Ich schaue mir den Kunden an, als wäre er eine Modemarke, und analysiere seine Persönlichkeit. Sie müssen wissen, dass viele meiner Auftraggeber höchst unsicher sind, wenn es um Architektur und Design geht. Eins wissen diese Leute aber genau: Jeder Besucher wird vom Haus sofort Rückschlüsse auf den Charakter des Besitzers ziehen. Das macht die Sache so heikel. Manchmal finde ich mich als Psychologe wieder, der Menschen mit XXL-Ego ihre Komplexe ausreden muss. Auch darin bin ich ziemlich gut.

Wie beruhigen Sie Ihre Kunden?

Von ihrem ersten Haus erwarten die Leute, es müsse sie selbst zu hundert Prozent widerspiegeln. Sie fürchten, jeder Gestaltungsfehler würde den Besitzer fehlerhaft erscheinen lassen. Deshalb sage ich ihnen: Stellen Sie sich einfach vor, dies sei Ihr achtes Haus. Meiner Erfahrung nach werden Leute erst bei ihrem vierten oder fünften Haus locker. Es ist wie beim Sex: Das erste Mal ist meist ein Desaster, aber es wird mit der Zeit besser.

Wie erkunden Sie ästhetische Vorlieben ?

Nicht durch Gespräche. Worte helfen nicht, weil sie von jedem anders verstanden werden. Wenn jemand mir sagt, er möchte ein Haus mit moderner Ästhetik, sagt mir das gar nichts, denn unter „modern“ versteht jeder etwas anderes. Das Gleiche gilt für Begriffe wie „warm“ oder „gemütlich“. Ich habe Kunden, die Beton als warm und gemütlich empfinden. Meine Methode ist visuell: Ich fordere Kunden auf, aus Zeitschriften Bilder rauszureißen, die sie anziehen oder abstoßen. Mir werden zehnmal mehr Fotos von Sachen gezeigt, die jemand nicht will. Laien mag es verblüffen, aber man erfährt viel mehr über einen Menschen, wenn man weiß, was er nicht mag als umgekehrt. Indem ich Kunden zwinge, vorher ihre Hausaufgaben zu machen, erspare ich mir und ihnen kostbare Zeit. Je länger ich reden muss, desto höher ist am Ende mein Honorar.

Es heißt, Sie hätten einen Auftrag an Land gezogen, dessen Dimensionen alles übersteigt, was Sie je gemacht haben. Worum geht es?

Der aus Russland stammende Milliardär Dmitri Ribolowlew hat von der Onassis-Erbin Athina Onassis die Nutzungsrechte der griechischen Privatinsel Skorpios gekauft. Ribolowlew kam nach Southampton und erzählte mir beim Mittagessen von seinen Plänen für die Insel: Hotels, Luxusvillen, Sportanlagen, ein Yachthafen und ein Heliport. Für mich ist der Mann ein Geschenk Gottes. Erst wollte er nur, dass ich eine Villa für ihn entwerfe, die auf dem höchsten Punkt der Insel stehen soll. Als er mein Modell sah, wurde der Auftrag größer und größer und größer.

Wann soll das Projekt abgeschlossen sein?

Ribolowlew sagte, wenn alles bis zu meinem 75. Geburtstag fertig sei, würde er eine Geburtstagsparty für mich schmeißen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Bevor Sie fragen: Wir reden über das Jahr 2024.

Ihre Villa in Southampton ist von einem 49.000 Quadratmeter großen Park umgeben, der an Schönheit und Poesie schwer zu überbieten ist und für dessen Pflege Sie ein halbes Dutzend Gärtner beschäftigen. Bleibt Ihnen bei Ihrem Lebensstil überhaupt Zeit für Kontemplation, Muße, interesseloses Wohlgefallen?

Da sprechen Sie ein Problem von mir an. Meine Assistenten wissen exakt, welche Aufgaben ich heute in einem Jahr zwischen 15 und 18 Uhr zu erledigen habe. Ich selbst weiß noch nicht einmal, was nach diesem Interview auf meiner Agenda steht. Aber ich beklage mich nicht. Je größer die Leidenschaft, desto stärker die Getriebenheit, die sie in Menschen hervorruft.

Photographer
Martin Schoeller c/o Anke Degenhard
Assistance
Jan Erting & Marco Giannavola
Text
Sven Michaelsen