Nepalesische Webkunst ist ein vom Aussterben bedrohtes Handwerk. Gegen alle Widrigkeiten gründete ein deutsch-mongolisches Ehepaar eine Kaschmir-Weberei in Kathmandu. Die Decken gehören zum Feinsten, was man mit Geld kaufen kann. Auch menschlich gesehen. Heike Blümner reiste hin, Thomas Meyer fotografierte.
Die Gipfelstürmer

Es gibt viele Möglichkeiten, sich der nepalesischen Weberei Altai-Himalaya zu nähern, zum Beispiel auf Socken. So will es Christopher Giercke, ein Mann, den man sich nicht ausdenken kann. Der 74-jährige Deutsche trägt gern lila Strümpfe und eine schwarze oder eierschalenfarbene Uniform bestehend aus Kniebundhosen und Frack. Dazu einen Fedora aus gefilztem Kaschmir und Nerz des Londoner Hutmachers Lock & Co. Zusammen mit seiner mongolischen Frau Enkhe gründete er 1997 die Manufaktur in Kathmandu. Seit Kurzem hat ihr gemeinsamer Sohn D’Artagnan die Geschäftsführung übernommen, aber der Master of Ceremony ist immer noch er: „Schuhe ausziehen“, befiehlt er nach Ankunft auf dem Gelände.

Enkhe und Christopher Giercke in Kathmandu im November 2021

Der steinerne Pfad und die Pagode liegen auf dem Gelände der Manufaktur. Hier erzählt Christopher Giercke Besuchern vom Anspruch der Manufaktur
Wohlgemerkt befinden wir uns draußen, und vor uns liegt ein steinerner, vielleicht 20 Meter langer Pfad, der zur Halle der Weber und Weberinnen führt. Über ihn sollen wir am laufen, um zu spüren, dass jeder Stein von unterschiedlicher Beschaffenheit ist. Der Pfad gleiche einem Flussbett, sei eine Allegorie auf die Vielfältigkeit aller Individuen und solle daran erinnern, dass sie alle unterschiedlich zu behandeln seien. „Ich bin der dicke Stein dort“, fügt Giercke an und lacht sein charakteristisches Lachen, das an Ernie aus der Sesamstraße erinnert. Ähnlich spielerisch haben wir gelernt:
Bei Altai-Himalaya ist das Weben kostbarer Decken, Kissen und Schals, vornehmlich aus Kaschmir, auch eine philosophische Angelegenheit.
„Das Prinzip ist Qualität, die an Kunst grenzen kann“, so der Unternehmensgründer. Und tatsächlich: Die Decken, die dieses Atelier verlassen, sind in Optik und Farbgebung so besonders, dass man sie auch gerahmt an die Wand hängen könnte. Ob das jemand macht, ist fraglich, denn dazu gesellt sich eine Haptik, irgendwo zwischen fest und anschmiegsam, die den körperlichen Kontakt einfordert.

Handgewebte Decken aus Kaschmir für Hermès
Gierckes Kunden sind europäische Luxusmarken, allen voran das französische Haus Hermès, sowie international renommierte Architekten und einige wenige Privatkunden. Sie liefern die Designs, das Atelier setzt sie in Handarbeit um. In Kathmandu ist auch der Berliner Innenarchitekt Gisbert Pöppler, der die Entstehung einer eigenen kleinen Reihe von Decken und eines Bettüberwurfes verfolgt: „Wenn wir uns für eine Manufaktur entscheiden, schauen wir sie uns vor Ort immer an, um zu verstehen, was die da genau machen. Danach kann man viel besser zusammenarbeiten.“ Was machen die da bei Altai-Himalaya genau?
Schon die Fahrt durch Kathmandu, die ihren Namen eigentlich nicht verdient, weil man mindestens so oft im Stau steht wie sich fortbewegt, gleicht streckenweise einem überfordernden Besuch im Autokino:






Szenen einer Großstadt voller Widersprüche: Blick von oben auf Kathmandu und auf das Gewimmel in den Straßen. Die Tempelanlagen von Patan und die Bodnath Stupa gehören zu den historischen Sehenswürdigkeiten der Stadt
Man blickt durch die Fensterscheiben auf eine Szene mit großem menschlichem Aufgebot, von der man nicht weiß, wovon sie handelt und wohin sie führt. Klar ist nur: Der Plot ist kompliziert. In diesem Setting von außerhalb kommend ein Unternehmen zu etablieren, erscheint mehr als nur herausfordernd. Da wäre zunächst die gesellschaftliche und politische Gemengelage in einem der ärmsten Länder der Welt, das im Zuge der Globalisierung auf Mechanisierung setzt und die kulturelle Tradition und das alte Handwerk dabei zurücklässt. Der Beruf des Webers, Spinners, Ziegelbrenners oder Holzschnitzers – historisch vor allem von der kleinen Volksgruppe der Newari ausgeführt – hat über die Jahrzehnte an Ansehen verloren, und die Bezahlung dieser Fachkräfte ist schlecht: „Ich fand es degradierend, wie die Handwerker behandelt wurden, und ich dachte mir: Jetzt dreht man das mal um“, so Giercke.
Nepal war nie kolonialisiert, erst vor rund 70 Jahren öffnete sich das Land für Ausländer. Seitdem werden tausend Jahre im Zeitraffer nachgeholt, und man versucht, eine ehedem feudalistische Gesellschaft mit mittelalterlichen Zügen an die sich rasch wandelnde Gegenwart anzuschließen – mit polarisierenden Ergebnissen. Dass rund um die Gründung von Altai-Himalaya im Jahr 1996 ein zehnjähriger Bürgerkrieg in Nepal ausbrach, ist nur ein weiterer vieler Handlungsstränge, die sich in der Geschichte des Unternehmens parallel entfalten: „Die Maoisten haben auch mich bedroht, aber wir exportieren ausschließlich, und ich halte mich aus der Politik raus, unterstütze Schulen und Krankenhäuser im Land. Deshalb lassen sie mich in Ruhe.“ Als die Rebellen dann doch irgendwann an den Werkstoren standen, seien es die Handwerkerinnen und Handwerker gewesen, die sie vor Ort zum Essen einluden. „Ich musste mich da gar nicht einmischen“, so Giercke. Die Arbeitsbedingungen, berichteten seine Mitarbeiter den Maoisten, seien doch so, wie man es sich nur wünschen könne, mit überdurchschnittlichen Löhnen, Aufstiegschancen, Freizeitangeboten und medizinischer Versorgung. Da zogen sie wieder ab. Die Revolution, sie hatte schon leise stattgefunden.
Letztlich jedoch ist der Erfolg der Manufaktur, die inzwischen mehrere Millionen Euro pro Jahr umsetzt, vor allem eines: eine Liebesgeschichte. Zu Nepal und seinen Menschen, zur Mongolei, zum Handwerk und den schönen Künsten – vor allem aber zwischen Christopher und seiner Frau Enkhe. Die 46-Jährige ist nach außen hin der ruhigere Teil dieser Partnerschaft. Was womöglich auch nur bedingt etwas über sie aussagt, denn in Gegenwart ihres Mannes ergibt sich immer eine unvermeidliche Gewichtung zwischen ihm, dem Performer, und dem Rest der Anwesenden, dem gut unterhaltenen Publikum.

Enkhe und Christopher Gierke als junges Paar
Dass zwischen den beiden eine besondere Energie fließt und sie zusammenlaufen wie Kette und Schuss, ist jedenfalls nicht zu übersehen. Ihre durch Herkunft und Altersunterschied bedingte unwahrscheinliche, fast 30-jährige Partnerschaft wirkt wie ein komplexes Gewebe: verschlungen, teilweise unglaublich, aber im Resultat zwingend.
Als sie Ende der 90er-Jahre die Weberei in der Garage nach klassischer Start-up-Manier mit zwei Webern, der Nanny in der Fertigung, dem Fahrer als Färbermeister und Enkhe als Designerin gründeten, waren sie eine Familie mit zwei kleinen Söhnen – eine weitere Tochter sollte folgen –, die zwischen der Mongolei, Kathmandu, Europa und einer Vielzahl von Projekten pendelte. Bis dahin verfügten beide vor allem über ein Roman-würdiges Leben, kaum finanzielle Mittel, aber dafür eine weitere Idee. Nämlich, Kaschmirdecken per Hand in Kathmandu weben zu lassen und in Europa zu verkaufen: „Ich wusste vor 25 Jahren nichts über Weben und Spinnen, aber ich habe Tastgefühl, ich habe Geschmack“, so Christopher.
Vor allem aber auch Chuzpe. Er flog nach Paris und traf sich mit Henri d’Origny, Design-Legende bei Hermès, und sagte zu ihm: „Schauen Sie, die Decken, die Sie verkaufen, sind ein bisschen langweilig. Ich könnte etwas sehr Schönes für Sie herstellen. Und er antwortete: ,Okay, Sie haben eine große Klappe, aber legen Sie mal los.’“ Gesagt, getan, die handgewebten Decken waren in Europa schnell ausverkauft. „Von da an ging es ab wie eine Rakete. Wir hatten Hermès, Yves Saint Laurent kaufte für seine Haute Couture, und Donna Karan kam sofort vorbei. Der Tenor war: ,Etwas passiert am Himalaya, es gibt da diesen verrückten Deutschen.‘ Sie kamen entweder, um mich zu treffen oder für meine wunderschöne Frau“, sagt er und lacht. Der Erfolg habe dazu geführt, dass man heute „auch in menschlicher Hinsicht die schönste Manufaktur Nepals“ sei.
Dieser verheißungsvolle Ort ist der Garage längst entwachsen und liegt nun in Budhanilkantha, einem Vorort am nördlichen Rand von Kathmandu, wo sich der Himalaja zu grünen Hügeln ausschleicht. Dutzende Quellen entspringen in dieser Gegend, eine leichte Brise weht von den Bergen. Ganz in der Nähe der Manufaktur liegt der Hindugott Wischnu aus schwarzem Basalt in einem Teich auf einem Bett von versteinerten Wasserschlangen.

Blick auf das Gelände der Manufaktur Altai-Himalaya mit den zwei Hauptgebäude und der Kantine



Das 10.000 Quadratmeter große Anwesen befindet sich auf einem terrassenartig angelegten Grundstück hinter weiß getünchten Mauern. Dazu gehören zwei ebenso strahlend weiße, mehrstöckige Backsteinhäuser, auf deren Flachdächern bunte buddhistische Gebetsfahnen im Wind flattern, sowie eine Werkshalle, vor der sich englischer Rasen ausbreitet und auf dem eine hölzernen Pagode steht: „Alles gesteckt, ich erlaube keinen Leim oder Nagel.“ Die firmeneigene Rosenzucht in Tontöpfen säumt die Häuser, und an einer Wand ranken „die hängenden Gärten von Christopher“, eine je nach Jahreszeit wechselnde Blütenpracht.
Am Fuß des Ensembles liegt eine überdachte, an den Seiten offene Küche und Kantine, wo die Mahlzeiten des Tages gekocht und von den heute 160 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gemeinsam verzehrt werden. Dal Baht heißt das regionale Gericht, das hier auf den Tisch kommt und das es in so vielen Versionen wie nepalesische Familien gibt und ab dem späten Frühstück gegessen wird. Linsen, Reis und gekochtes oder eingelegtes Gemüse werden dazu in kleinen Portionen im Rund auf dem Teller serviert. Gegessen wird auf Gongschlag wie in der Schule an langen Holztischen.
In einer Stadt, die einem staubigen Wimmelbild gleicht, fühlt es sich auf diesem Gelände an wie auf einer Insel, an der die nervösen Vibrationen Kathmandus abprallen.
Das Kaschmir, das hier verarbeitet wird, kommt aus der Mongolei. Ungefähr 6.000 Tonnen exportiert das Land pro Jahr. Die Ziegenwolle ist kein unproblematischer Rohstoff. Seit Kaschmirprodukte auch bei großen Bekleidungsketten zu billigen Preisen angeboten werden, ist die Nachfrage nach der weichen Naturfaser ins Unermessliche gestiegen und die Versteppung von Flächen ein Umweltproblem. Es bedeutet auch, dass Kaschmir nicht gleich Kaschmir ist. Die modischen Großanbieter mischen, bleichen und färben die Wolle, was auch dazu führt, dass die Kategorie „Kaschmir“ ungefähr so viel über die Wertigkeit eines Kleidungsstückes aussagt wie die Kategorie „Fleisch“ über eine Frikadelle.
Die Wolle, die bei Altai-Himalaya verwebt wird, gehört zum Besten, was die mongolischen Nomaden zu bieten haben: „Wir arbeiten ganz bewusst mit Kooperativen zusammen, die auf Umweltschutz achten“, so Christopher Giercke. Wichtig sei dabei, dass die Zusammenstellung der Herden auf den jeweiligen Boden abgestimmt sei, dass also verschiedene Tierarten eine Fläche begrasen und sie so im natürlichen Gleichgewicht halten. Danach gilt bei der Faser: Je feiner und länger, desto kostbarer, und da das Garn in Kathmandu per Hand verarbeitet wird, sind besonders lange Fasern ausschließlich in Naturfarben gefragt. Sieben bis zehn Tonnen davon landen pro Jahr in der Manufaktur zur Weiterverarbeitung, also zum Spinnen, Weben und Färben.



Auf der Jagd nach der feinsten Kaschmirwolle: Die Kaschmirwolle von Altai-Himalaya stammt aus nachhaltiger Produktion
Enkhtseteseg, gennant Enkhe Giercke, ist Mongolin und hatte mit Kaschmir zunächst nichts zu tun. Ihr Vater war Krankenwagenfahrer und auf Notfalleinsätze in den entlegensten Gebieten des Landes ohne Straßen oder Flughäfen spezialisiert. Bei seinen Fahrten orientierte er sich an den Sternen, „ein Steppen-Segler“, wie sie sagt. Ihre Mutter arbeitete als Russischlehrerin, später dann im Außenministerium.

Enkhe Giercke am Tag ihrer Hochzeit
Geboren 1975, wächst sie in der Spät- und Endphase der Sozialistischen Mongolischen Volksrepublik auf: „Es wurde erwartet, dass man sich anpasst, und das war nicht leicht für mich. Ich war neugierig und energiegeladen und sprach Dinge aus, die man nicht sagen durfte, weil ich spürte, dass etwas nicht stimmte.“ Zum Beispiel wusste sie, dass die „Murmeln“, die ihre Eltern besaßen, ein Tabuthema waren. Sie durfte nur damit spielen, wenn sie allein war, denn tatsächlich waren es die Edelsteine der traditionellen Kopfbedeckung ihres Großvaters, die seinen aristokratischen Rang definierten. „Jeder wusste, dass er als der letzte Graf aus der Linie des jüngsten Bruders von Dschingis Khan stammte“, erzählt sie. Aber weil seine Abstammung als nicht regimekonform gilt, musste er seinen offiziellen Lebenslauf fälschen und sich als Kind von Nomaden ausgeben.
Bis sie in die Schule kommt, lebt Enkhe bei den Großeltern, die Sommer verbringt sie bei ihrer weitläufigen Verwandtschaft auf dem Land wie ein Nomadenkind. Zur Einschulung holen sie ihre Eltern zurück nach Ulan-Bator, wo sie als Teenager den Kollaps des Sozialismus erlebt und eigene Strategien entwickelt, um in dieser brüchigen Zeit durchzukommen. So entwickelt sie einen Trick, der bald von anderen Kindern und Jugendlichen der Stadt aufgegriffen wird, um an knappe Waren wie Brot heranzukommen. Kurz vor Öffnung eines Ladens springt sie auf einen der Männer, die sich an den langen Schlangen vorbeidrängeln: „Wir waren wie Affen auf ihren Rücken“, sagt sie und lacht.
Nach der Schule möchte sie Lehrerin werden und jobbt, gerade 18 Jahre alt, in einem Hotel nahe der Hauptstadt als Kellnerin, wo sich zu dieser Zeit eine französische Filmcrew einquartiert hatte. Der Produzent des Films: Christopher Giercke – fast 30 Jahre älter als sie. Er findet sie „abenteuerlich und interessant“. Ihre Strategie: „Ich ignorierte ihn.“
Umgekehrt würde es vielleicht plausibler klingen, aber wenn es eine Kategorie im Leben der Gierckes gibt, die bis heute nicht bedient wird, dann die des Naheliegenden. Auch geografisch gesehen.

Intelligent und wagemutig: Enkhe Giercke als junge Frau

Ein Mann, den man sich nicht ausdenken kann: Christopher Giercke
Bis zu dem Moment, an dem er seine zukünftige Frau trifft, hat Christopher bereits auf vier Kontinenten gelebt, ist unter anderem dem chilenischen Putsch unter Pinochet knapp entkommen, hat bei Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“ mitgearbeitet, den amerikanischen Punkmusiker Johnny Thunders gemanagt, die chinesischen Behörden mit einem Dokumentarfilm über Tibet geärgert und hat in einer biografischen Randnotiz in einem Film von Alexander Kluge und Edgar Reitz mit einer „schönen, blonden Frau geschlafen“. Aber: „Sexstar war nicht mein Ding. Die Szene ist ziemlich peinlich, nur ganz kurz, und die Lampe fällt auch noch vom Tisch.“
Enkhe wiederum hat die Mongolei bis dahin nur einmal für ein Sommercamp am Schwarzen Meer verlassen, weiß aber in diesem Fall trotzdem ganz genau, was sie will: nicht Christopher. Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, das sich einige Monate hinziehen soll: „Wenn er ankam, wechselte ich die Richtung. Ich dachte, vielleicht ist er ein Agent, der mich anwerben will. So wurde es uns damals beigebracht. Über sexuelle Attraktion wurde jedenfalls nicht gesprochen. Nur Prostituierte ließen sich mit Ausländern ein.“
Er gibt sich vorerst geschlagen und fährt zurück nach Paris, wo er zu dieser Zeit lebt. Als die Crew einige Monate später anlässlich eines weiteren Films in die Mongolei zurückkehrt, soll Enkhe als Übersetzerin angestellt werden – ein Angebot, das sie amüsiert, da sie keine Fremdsprache spricht. Sie werde schon auf dem Set lernen, heißt es. Und so willigt sie ein, und nach einigen weiteren Umdrehungen bricht sich die Anziehungskraft zwischen den beiden filmreif in einem Gewittersturm Bahn. Christopher mietet in der Nähe des Sets den Altarraum eines zerstörten Klosters. Dort leben sie für die verbleibende Drehzeit und unterhalten sich mithilfe eines Wörterbuchs.
Auch an dieser Stelle könnte die Geschichte enden, aber: „Er ging zurück nach Frankreich, und ich realisierte, dass ich mich verliebt hatte“, erzählt Enkhe. „Ich dachte, es würde sich beruhigen, aber das tat es nicht.“ Und er fragt sich: „Was ist denn mit mir los? Natürlich hatte ich zuvor schon mit anderen Frauen zusammengelebt, aber das hier war etwas anderes.“ Seine Frau sei „ein großes Wagnis eingegangen“, und „hätte sie nicht diese Charakterstärke, Intelligenz und Eigenständigkeit wäre die Beziehung unmöglich gewesen“. So aber heiraten die beiden im August 1995.

Enkhe und Christopher Giercke 1995 am Tag ihrer Hochzeit mit ihrem ältesten Sohn Ich Tenger
Milde ausgedrückt, kam das nicht so gut an: „Die Eltern, ach, die ganze Mongolei war schockiert“, sagt Christopher. Es klingt nicht als würde ihm das gar nicht gefallen. Sie ziehen nach Paris und verbringen zunächst nur die Winter in Nepal, sammeln Geld bei den Freunden in Europa ein und unterstützen damit unter anderem das ursprünglich von Bergsteigerlegende Sir Edmund Hillarys Stiftung gebaute Krankenhaus in der Bergregion Solukhumbu, knapp 300 Kilometer nordöstlich von Kathmandu. Bis heute gibt es in der Gegend immer was zu tun: ein Waschhaus, Toiletten, Unterstützung für das Kloster und die Schule.
Mit der Weberei Altai-Himalaya gestalten sie sich dann ihr eigenes Utopia selbst:
„Hier wird nach unseren Regeln gelebt und gearbeitet. Man kann sich nicht auf Grund seines ethnischen Hintergrunds in seine eigene Ecke verziehen. Wenn man das Gelände verlässt, kann jeder machen, was er will, aber hier erwarten wir es anders“, erklärt Enkhe den Anspruch. „Es dauerte lange bis das durchsickerte.“
Besonders auf die Frauen, die in der Manufaktur arbeiten, wird geachtet. In der traditionellen nepalesischen Gesellschaft stehen sie an letzter Stelle: „Es hat mich geärgert, dass die Typen die Mädchen vor sich her schubsen“, so Enkhe. Es werden die Regeln bei Essen in Angriff genommen, wo traditionell Männer am Tisch und Frauen auf dem Boden sitzen und sich mit den Resten einer Mahlzeit zufriedengeben müssen: „Zwei, drei Jahre habe ich mich jeden Tag alleine an den Tisch gesetzt und Christopher servierte mir mein Essen, bevor er sich selbst etwas nahm und sich zu mir setzte. Das fanden sie schockierend.“ Doch nach und nach lösen sich auch diese Hierarchien. Heute essen alle zusammen, es haben sich sogar Paare aus unterschiedlichen Ethnien zusammengefunden und Freundschaften gebildet.
Ein handwerkliches Produkt von höchster Qualität – ob aus Nepal oder anderswo her – braucht eine sinnliche Eigenheit, die aus der Kraft des Ortes und des Individuums schöpft. Im dritten Stock eines der beiden Häuser bei Altai-Himalaya sitzen ein gutes Dutzend Spinnerinnen auf ausladenden Holzsesseln, die mit weißen Baumwollkissen ausgelegt sind. Manche haben die Beine schräg angewinkelt, andere sie auf bunt geflochtene Plastikhocker ausgestreckt. Ihre Körper wirken entspannt, die Spinnräder surren und die Frauen ziehen Fäden im immer gleichen Rhythmus auf. Man kann es „Flow“ nennen oder als meditativ bezeichnen, mit Sicherheit ist es jedoch viel schwieriger, als es aussieht. Ungefähr 400 weitere Frauen spinnen für die Manufaktur zusätzlich in Heimarbeit:




Harmonische Hand: In diesem Raum spinnen die Frauen die Kaschmirwolle zu Garn
„Es ist fünfmal so teuer, das Garn per Hand als per Maschine spinnen zu lassen. Mit der Maschine würde es sogar gleichmäßiger werden, aber was wir wollen, ist die harmonische Hand, und die kommt mit einer gewissen Ungleichmäßigkeit wie ein Pinselstrich“, erklärt Christopher.
So hat jede Frau ihre eigene Signatur, für bestimmte Projekte werden dann auch bestimmte Spinnerinnen eingesetzt, beispielsweise wenn es darum geht, besonders feine Fäden für einen Schal zu spinnen.
Der Architekt und Interiordesigner Gisbert Pöppler verfolgt vor Ort die Produktion seiner Entwürfe. Es handelt sich um Einzelstücke für seine Kunden. Während der Konzeptionsphase stand stets die Frage im Raum, was technisch möglich ist. Und die Antwort lautete bei Altai-Himalaya: viel! Skizzen und Proben wurden von Kathmandu nach Berlin hin- und zurückgeschickt, der deutsche Ingenieur und technische Leiter Rainer Schmidt schaute in Pöpplers Büro persönlich vorbei, der junge Chef D’Artagnan Giercke in der Manufaktur bei jedem anstehenden Produktionsschritt. Denn auch das liegt im Wesen hochwertigen Handwerks, dass es stets über sich hinauswachsen will. Für den finalen Entwurf des Architekten muss eine Spinnerin drei bis vier Monate Garn spinnen. Ein überdimensionierter Webstuhl mit 2600 Kettfäden wurde von einem Weber und einem Tischler gebaut. Sieben Menschen weben danach fünf Tage daran.



Der Berliner Architekt Gisbert Pöppler mit einem Sample seines Bettüberwurfes. Am Ende des Produktionsprozesses trocknet die Decke auf der Leine
Dieses Ausnahmestück ist ein Bettüberwurf im Format 3,20 Meter mal 3,20 Meter. Er kommt in drei Gelbtönen und Lila und wiegt 600 Gramm pro Quadratmeter. „Es ging mir um eine Schwere, die sich auf dem Bett von selbst glattzieht“, sagt Pöppler. Am Ende werden gute sechs Kilo darauf liegen – darunter schläft es sich vermutlich wie unter einer Therapiedecke. Das überdimensionale Stück ist Double Face beziehungsweise zweilagig, was bedeutet, dass in einem Webgang sowohl die Vorder- und Rückseite simultan per Hand gewebt werden. Eine der Herausforderungen dabei ist es, dass die unterschiedlich farbigen Seiten nicht auf die jeweils andere Seite durchschimmern, sondern „jede Seite für sich eine Brillanz hat“, so Pöppler.
40 Weber und Weberinnen arbeiten in einer hellen Halle, einzeln oder zu mehreren an einem Webstuhl. Das Gerät wird teilweise in der Region eingesammelt und aufgearbeitet: „Vieles davon kaufe ich als Ramsch“, so Christopher. „Die Nepali schmeißen die Webstühle weg, weil sie keinen Gebrauch mehr dafür haben. Ich zahle ihnen dann wenigstens den Holzwert.“ Die eigentliche Aufwertung erfolgt dann aber ideell und persönlich. Ihm sei es wichtig, all seinen Handwerkerinnen und Handwerkern den Stolz auf ihre Fähigkeiten zurückzugeben: „Ich höre ihnen zu, was sie brauchen, und bezahle sie anständig.“ Bei Neueinstellungen trifft er sie gern in der Pagode im Garten und erzählt ihnen von den historischen Errungenschaften und dem hohen Anspruch des nepalesischen Handwerks: „Die haben das in sich, wir müssen das ja nicht erfinden, sondern nur aus ihnen herauskitzeln.“
Wie bei den Spinnerinnen herrscht auch in der Halle der Weber diese besondere Atmosphäre zwischen Konzentration und Kontemplation. Die Webstühle sind blau angemalt, bunte Wimpel reichen von einem zum nächsten. Auf dem Boden stehen Säcke mit Wolle, farbiges Garn hängt an Stangen. Es ist ein fröhlicher Ort, an dem das dekorative Durcheinander in Wirklichkeit Teil eines ausgeklügelten Systems ist.
Mit dem europäischen Blick ist es jedenfalls verlockend den Ort und die Arbeit zu romantisieren. Dabei ist das, was hier passiert eine Mischung aus technischem und künstlerischem Feingefühl und Ingenieurskunst. Allein die Lochkarten für die Webstühle zu entwickeln, kann bis zu drei Monate dauern.






Zwischen Konzentration und Kontemplation wird in der Halle der Weber und Weberinnen gearbeitet. Der überdimensionale Webstuhl mit dem gelben Farblauf wurde extra für den Entwurf von Gisbert Pöpplers Bettüberwurf gebaut
Pöpplers zweiter Entwurf, eine dunkelblaue Decke mit großen Kreisen in Weiß und einem helleren Blauton ist eine besondere Herausforderung für die Färbe Abteilung. Die befindet sich draußen hinter einem der Häuser unter einem Dach. Die Decke, ursprünglich in Naturweiß gewebt, muss drei händische Tauchgänge absolvieren, das heißt zwei Männer tauchen das kostbare Kaschmirgewebe an einer Stange dreimal in einen brodelnden Kessel. Mit jedem Durchgang wird die Farbe dunkler und erhält einen Verlauf. Die helleren Kreise entstehen, in dem die entsprechenden Bereiche mit einer Holzschablone so abgeklemmt werden, dass kein Färbemittel hineinlaufen kann. Diese Technik wurde hier entwickelt und vorher 130-mal an Probestücken geübt. Von den 130 Tauchgängen waren nur 30 erfolgreich. Nun aber, wo es ernst wird, sitzt die Schablone, und alles klappt hervorragend. Das Resultat – nach Endfertigung, wo unter anderem die Kanten umnäht werden – ist erhebend: „Wir haben Farbe nach Pantone ausgesucht, und sie werden in der Wolle noch ausdrucksstärker“, sagt Pöppler und strahlt mit seiner Decke um die Wette.







In drei Tauchgängen wird Pöpplers Decke gefärbt. Die Holzkreise verbinden ein Reinlaufen der Farbe. Zum Schluss kommt die Decke in die Endfertigung

Die Decke wird auf die Leine zum Trocknen gehängt
Nachdem die Decke auf einer Leine im Wind getrocknet ist, stehen er, die Gierckes, ein paar Freunde und Mitarbeiter auf dem Rasen vor der Pagode und ziehen sie wie ein Sprungtuch auf. Da ist es, „das Gefühl des Erfolgs“, so Christopher. „Es stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Jeder hat etwas Entscheidendes dazu beigetragen.“ Das schlägt sich auch im Preis nieder – in diesem Fall liegt er im niedrigen vierstelligen Bereich. Den Wert macht auch etwas Unbezahlbares aus:
„Man spürt, wie das Objekt entstanden ist“, so Giercke. „Menschliche Qualitäten fließen da rein, man kann sie spüren. Diese Art Decken beschützen und behüten dich.“
Um die Metaphysik des Handwerks im Zusammenspiel mit der Natur zu erleben, steigen wir einige Tage später in eine Propellermaschine und fliegen nach Phaplu in Solukhumbu, der Region, in der die Gierckes sich seit je sozial engagieren und viel Zeit verbringen. In dem winzigen Dorf auf 2500 Meter Höhe, dessen kleine Hauptstraße auch für die Kulisse für einen Western hinhalten könnte, steht auf einer Anhöhe das „Happy House“, das die ästhetischen, wenn nicht gar spirituellen Prinzipien von Altai-Himalaya in Gastfreundschaft übersetzt.
Das Haus aus Naturstein ist von hohen Pinienbäumen umgeben, in denen die Raben krächzen. Die Fensterrahmen außen und die Wände und Decken des großen Ess- und Aufenthaltsraums sind in leuchtenden Farben mit traditionell tibetisch-buddhistischen Symbolen und Gottheiten von Tempelmalern gestaltet – ein weiteres gefährdetes Handwerk. Überall im Haus liegen die schweren, bunten Decken und Kissen aus der Manufaktur: auf Sofas, Sesseln und Stühlen und natürlich auf den Betten. Es ist ein Ambiente, das den Gast umarmt beziehungsweise berührt – selbst wenn man schon lange wieder abgereist ist.
Graf Guido Monzini, der 1973 die erste italienische Expedition auf den Mount Everest leitet, baute das Haus nach seiner Expedition zusammen mit den Oberhäuptern einer einflussreichen Großfamilie des Sherpa-Clans, Ang Tawa Lama und seinem Sohn Rinzin Pasang. Sie nennen es „Hotel Del Sherpa“, und es liegt abseits der bekannten Bergsteigerrouten. Straßen gibt es hier damals nicht. Dennoch entwickelt es sich bald zu einem Fixpunkt für Sir Edmund Hillary und dessen internationalen Freundeskreis. Hillary selbst lebt über Monate dort und koordiniert die Hilfsaktionen seiner Himalaya-Trust-Stiftung. Er ist es auch, der dem „Happy House“ seinen heutigen Namen gibt. Der italienische Graf verstirbt bald, und im Zuge des Bürgerkriegs Ende der 90er-Jahre muss die Familie Lama aus Nepal nach New York fliehen. Rinzin Pasang bittet Christopher Giercke, sich um das Haus zu kümmern.
2017 kehrte Rinzins heute 30-jähriger Sohn Ang Tshering aus dem Exil zurück und baute das Haus, das heute über zehn Gästezimmer verfügt, nach den Prinzipien von Regionalität und Nachhaltigkeit um – irgendwo zwischen Chalet, Salon und Abenteuerspielplatz. Im Garten steht ein langer, weißer Holztisch, an dem Dutzende Menschen Platz haben und an dessen Kopf bei unserem Besuch Christopher Giercke sitzt und die Parade des Personals abnimmt wie ein beschwingter Regent: „Zum Wohl, allerseits! Die gute Nachricht ist, der Flughafen macht dicht, und es gibt keinen Weg hier raus.“
Das stimmt leider nicht und wahrscheinlich spricht er den Toast nicht zum ersten Mal aus, denn wer hier Platz nimmt, will unbedingt bleiben. Klar ist jedenfalls: Das „Happy House“ ist auch sein Revier. Einer der weißen Labradore, der um den Tisch herumstreicht, markiert es in Abwesenheit und hört auf den Namen Christopher. Wer ihn so genannt hat? „Ich natürlich“, sagt Giercke und lacht sein Ernie-Lachen.








Das Happy House (beyulexperiences.com) liegt in Phaplu, knapp 300 Kilometer nordöstlich von Kathmandu und empfängt seit jeher Gäste aus der ganzen Welt. Auch hier hat man sich dem Erhalt des traditionellen Handwerks verschrieben. In den Zimmern liegen die Decken und Kissen aus der Manufaktur der Gierckes
Er selbst bezeichnet sich nur halb scherzend als „Komponist, Dirigent und Diktator“. Jedenfalls ist er kein Mann der zweiten Reihe. Auch in der ersten würde es ihm vermutlich zu eng.
Seine Energie ist so groß wie sein Herz, seine Kontrolllust so groß wie seine Ungeduld:
Auf 3500 Meter Höhe saust er mit dem Mountainbike hinunter nach Phaplu, mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern spricht er so enthusiastisch wie mit beliebten Familienangehörigen. Gleichzeitig kann er über die fehlerhafte Eindeckung eines Mittagstisches in Rage geraten oder beim Aperitif einen seiner Gäste unmissverständlich auffordern, den synthetischen Anorak auszuziehen, weil der sein ästhetisches Empfinden stört.
Schon als Kind sind Scheinwerfer auf ihn gerichtet: In Filmen der DDR-Produktionsgesellschaft Defa tritt er als Kinderschauspieler auf. Sein Vater war Arzt und geht 1949 aus dem Westen in die DDR und 1961, kurz nach Mauerbau, mit der Familie und gefälschten Pässen wieder zurück. Sie ziehen nach Stade bei Hamburg, Christopher kommt aufs Internat in Hessen. Mit 15 Jahren kann er seine Eltern überzeugen, ihn in den Ferien allein verreisen zu lassen – zunächst nach Spanien und Marokko, ein Jahr später in den Irak und Jordanien, wo er kurz als israelischer Spion verhaftet und von Nomaden gefangen genommen wird, die ihn verkaufen wollen. Ihm gelingt die Flucht in letzter Minute.
Er spielt mit dem Gedanken, Journalist zu werden, aber bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ lehnt man seine jugendlichen Reiseberichte ab. In der Schule läuft es ebenfalls nicht: „Das, was mich interessierte, wurde dort nicht gelehrt.“ Was ihn interessierte? „Leben, nachdenken, Erfahrungen sammeln.“ Das treibt ihn unter anderem nach England, Südamerika, auf die Philippinen, nach Frankreich und in die USA.
Dort, in New York, lernt er in den späten 70er-Jahren den deutschen Ethnologen, Schamanismusforscher und späteren Leiter des Völkerkundemuseums in Zürich, Michael Oppitz, kennen, der ihn nach Nepal bringen wird. Oppitz hat den viereinhalbstündigen Dokumentarfilm „Schamanen im Blinden Land“ herausgebracht, den er am Fuße des Dhaulagiri-Massivs in Westnepal gedreht hat. Nun will er seinen Protagonisten diesen Film vorführen. Mit einem Bettlaken als Leinwand, einem Dieselgenerator für Strom und 20 Trägern für das restliche Gepäck machen sich „der große Gelehrte und der New Yorker Rock ’n‘ Roller“ auf den Weg. Was folgt, beschreibt Giercke als „das Überspiegelerlebnis wie bei Lewis Carroll und Alice im Wunderland“:
Menschen, die nicht wissen, was Elektrizität ist, geschweige denn je einen Film gesehen haben, blicken auf bewegte Bilder, in denen sie selbst zu sehen sind und auch noch sprechen.

Zum ersten Mal im Freiluft-Kino: Die Protagonisten des Films „Schamanen im Blinden Land“ sehen sich selbst zu

Mit dabei Kamerafrau Barbara Becker, nepalesische Helfer, Regisseur Michael Oppitz und Christopher Giercke (von links nach rechts)
Giercke beschließt, in Nepal zu bleiben und zieht zu Oppitz in einen baufälligen Rana-Palast in Kathmandu, der Treffpunkt für alle möglichen Gestalten und Abenteurer ist. Hier lebt auch der amerikanische Tibetologe Richard Kohn, der an der Übersetzung von Texten arbeitet, in denen es um „religiöse, tibetanische Rituale und geheime Prozesse zur Harmonisierung des Universums“ geht. Es seien „hohe esoterische und philosophische Doktrinen“, eigentlich ausschließlich bestimmt für „Eingeweihte“ mit entsprechender spiritueller Vorbildung. Für Andere seien sie unter Umständen „gefährlich“. Kohn, so erzählt es Giercke, sei letztlich „von seinem Wissen erdrückt worden“ und daran gestorben.
Vorerst jedoch drehen sie gemeinsam einen Film. „Lord of the Dance/Destroyer of Illusion“ beobachtet den aus Tibet geflüchteten Abt Trulshik Rinpoche, die 31. Reinkarnation des „Zerstörers der Illusion“, bei der rituellen Vorbereitung und Durchführung des Mani-Rimdu-Festes. Bei dieser Zeremonie werden die Mönche selbst zu Göttern, beziehungsweise treten zu ihnen auf einer Ebene in Kontakt, die dem Zuschauer visuell verschlossen bleiben muss. „Lord of the Dance“ läuft 1987 in den Kinos an, und die „New York Times“ schreibt damals, der Film sei „eine Art Anerkennung, dass eine Kamera besser dafür geeignet ist, die Außen- denn die Innenwelt festzuhalten.“
Im Außen geht es derweil schon um die nächste Frage: „Wie befreien wir Tibet?“ Zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin, der Filmemacherin Marie-Jaoul de Poncheville, dreht Giercke einen Film über die französische Tibetologin und Reiseschriftstellerin Alexandra David-Néel. Heimlich planen sie außerdem, einen Dokumentarfilm darüber zu drehen, wie es im ehemaligen Tibet nach der Besetzung durch die Chinesen aussieht. Während der Dreharbeiten werden sie offiziell von chinesischen Geheimdienstlern und dem Militär begleitet: „Wir haben trotzdem nebenbei gedreht, das haben die gar nicht mitbekommen.“ Als das Team ausreisen will, beschlagnahmt der chinesische Zoll dennoch das gesamte Filmmaterial und nimmt Giercke, der es nicht zurücklassen will, den Pass weg, sodass er in Peking festsitzt.
Daraufhin interveniert Frankreichs Präsident François Mitterrand – dessen Freundin Gierckes Lebensgefährtin Marie ist – angeblich mit den Worten: „Er ist ein kleiner Frauenheld, aber kein Spion.“ Schlussendlich darf er mit dem verbleibenden Material ausreisen, aus dem der Film „Lung Ta – The forgotten Tibet“ entsteht, der 1991 in Anwesenheit des Dalai-Lama in Paris Premiere hat und für diplomatische Verstimmungen sorgt. Das nächste Land für Gierckes Projekte ist nun die Mongolei, wo er seine Frau Enkhe kennenlernen wird.
Wie trägt man solch ein Unternehmen und diese Art von Energie in die Zukunft? Das ist nun die Aufgabe von D’Artagnan Giercke, 24 Jahre alt und der mittlere Sohn von Enkhe und Christopher, der bei Altai-Himalaya soeben die Leitung übernommen hat. Aufgewachsen ist er in Nepal und der Mongolei, mit dem Himalaya im Rücken und den mongolischen Weiten als Spielplatz, wo er Kapitän der Polo-Nationalmannschaft ist: „Ich liebe es, draußen zu sein. Ich brauche Bewegung, um glücklich zu sein.“ Den Feinschliff erhielt er als Jugendlicher auf einem englischen Internat.

Seit 2021 CEO bei Altai-Himalaya: D’Artagnan Giercke
Während sich die Eltern ihre Weltläufigkeit erarbeiten mussten, gehört D’Artagnan zu der Generation, für die Vernetzung und globales Denken der Ausgangspunkt ihres Lebens sind.
Von Haus aus kommt eine moderne Variante des Nomadentums dazu: „Ich hatte eine seltsame, aber schöne Kindheit, wo wir ermutigt wurden, nicht dem System zu folgen. Wir waren sehr privilegiert, weil wir gereist sind, viele unterschiedliche Leute kennengelernt haben und Teil verschiedener Gemeinschaften sind. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich in einem Land festhänge. Eigentlich gehöre ich zu keiner Kultur, aber kann mich an viele verschiedene Menschen anpassen“, beschreibt er sein Lebensgefühl.
Das alles hat auch Auswirkungen auf die Art, wie der Sohn das Familienunternehmen in die Zukunft führen möchte: kollaborativ und auf Teamwork bedacht, wie er sagt. D’Artagnan lebt in einem kleinen Apartment auf dem Dach der Manufaktur, und auf der angrenzenden Dachterrasse hat er eine mongolische Jurte als Wohnzimmer aufgebaut, wo er auch seine Freunde trifft. Dafür bleibt im Moment nicht viel Zeit. Das Unternehmen befindet sich in einer steilen Wachstumsphase. Immer mehr Menschen auf der Welt können sich teure Designerware leisten, gleichzeitig befindet sich das Luxusverständnis im Wandel. Das Besondere definiert sich nicht mehr nur über das Aussehen oder das Logo, sondern auch über die inneren Werte eines Produkts. Für D’Artagnan wird es darum gehen, diesen Anspruch an allumfassender Qualität quantitativ auszuloten.



D’Artagnan Giercke ist Kapitän der mongolischen Polonationalmannschaft. Auf dem Dach der Manufaktur in Nepal steht seine Jurte. Die Familie Giercke (hier auf einem Foto von 2015) betreibt außerdem ein Camp für Gäste in der Mongolei (genghiskhanretreat.com)
So wie das Thema seiner Eltern die große Geste und der Glaube an eine unternehmerische Vision war, ist nachhaltiges Wachstum nicht nur sein Thema, sondern auch das seiner Generation. Mehrere Dutzend neue Mitarbeiter, vor allem Weber und Weberinnen, hat der junge Chef in den vergangenen Monaten einstellen müssen, was nicht einfach ist, „es ist nicht gerade ein boomendes Handwerk. Ich muss Leute finden, die so fähig sind, dass wir sie ausbilden können.“ Dazu kommt, dass faire, nachhaltige Produktion einem dynamischen Prozess unterliegt. Was heute als wegweisend gilt, kann morgen schon wieder besser gemacht werden. Derzeit wird überlegt, wie man die gesamte Anlage, die nepalesischen Erdbebensicherheitsvorschriften entspricht, auf europäische Standards anheben kann. Unter Umständen müssen dazu Etagen von den Häusern bei laufendem Betrieb abgetragen werden und eine neue Halle auf einem angrenzenden Grundstück gebaut werden:
„Du kannst keinen Luxus produzieren unter Umständen, die das nicht reflektieren“, erklärt Christopher Giercke den Anspruch. Es klingt auch wie der Auftrag an seinen Sohn.
Die Eltern verbringen inzwischen viel Zeit in Berlin, D‘Artagnans jüngere Schwester Alegra geht dort zur Schule, sein älterer Bruder Ich Tenger arbeitet in Kathmandu als IT-Experte. Christopher und Enkhe sind in Nepal trotzdem auf gewisse Weise anwesend: „Meine Mutter hat die Fähigkeit, einen Schritt zurückzutreten. Sie ist nicht impulsiv, wartet immer auf den richtigen Moment und steht zu ihrer Meinung. Ich bewundere das.“ Über seinen Vater sagt er: „Christopher wird immer unser Direktor und spiritueller Guru sein und das letzte Wort bei der Qualität haben. Aber wir sollten weniger abhängig von der Energie einer Person sein. Sie muss noch mehr von der Basis kommen.“
Die Weberei Altai-Himalaya ist übrigens nach einem Tagebuch des russischen Malers, Forschers, Philosophen und Archäologen Nicholas Roerich benannt, der vor ungefähr 100 Jahren Hochasien bereiste. Er lieferte den Überbau für diese Weberei gleich mit: „Es ist unsere Aufgabe, kulturelle Traditionen für die jüngere Generation zu erschaffen, denn Kultur ermöglicht Frieden, Erfolg und bietet eine Lösung für schwierige soziale Probleme.“
Nach unserer Reise frage ich Christopher in Berlin, ob er jemals das Gefühl hatte, an seine eigenen Grenzen gestoßen zu sein: „Bin vom Pferd gefallen, brach imir ein paar Rippen und konnte nicht atmen. Das war nicht lustig.“ Aber der Spaß ist natürlich noch lange nicht vorbei. Wohin die Reise als Nächstes genau geht, ist noch nicht klar, aber nicht in den Ruhestand. Nepal wird ein Standbein bleiben – gerade bauen er und Enkhe außerhalb von Kathmandu ein neues Haus. Mit welchem Gefühl er auf sein bisheriges Leben zurückblickt? „Glück gehabt“, antwortet Christopher knapp. „Nachmachen sollte man das natürlich nicht.“ Wie auch. Aber anregen lassen sollte man sich schon: Ohne Zufall und Wagnis läuft es bestenfalls gleichmäßig. Beim Weben wie im Leben.
