SYLT CALLING

Raureife Zeiten auch auf der Insel

Sylt zwischen den Jahren ist kalt, friedlich und still. Wie einen das niemals endende Licht im Sommer umarmt, so macht es nun die Dunkelheit.

Eiskalt hat es uns erwischt. Herrlich war das! Man kann ja viel gedanklich sortieren, wenn man sich auf die Natur einlässt. Und ein idealer Ort dafür ist sicher Sylt. Gerade um diese Jahreszeit, in der nicht die Leichtigkeit des Seins am Strand liegt, sondern das raue Wesen des Nordens uns unter Beobachtung hält, zugleich aber die Sinne schärft für Heimeligkeit.

Vom großen Weihnachtssgefühl ganz abgesehen, auch wenn wir in diesem Jahr auf die geschätzte Gemeinschaft und den Segen von Pastor Chinnow in der Friesenkapelle verzichtet haben. Pure Vernunft, das Virus unserer Tage hat keinen Respekt vor Idylle, auch wenn die Situation hier oben keinesfalls angespannt ist. Wir waren dankbar, als große Familie zusammen sein zu können, das war quasi unser Gottesdienst, mit Glockengeläut aus der Sonos Box, ungeniertem Gesang und rührenden Vorträgen der Enkelchen. Besinnlich ist nicht ganz das Begleitwort unserer Sippe. Unseres ist: froh.

Eiskalt erwischt zu werden, ist ein Umstand, den wir wir negativ konnotiert haben. Verständlich, wenn man etwa an Blitzeis denkt. Oder die rutschenden Leute zwischen den grünen Sturmfiguren am Westerländer Bahnhofsvorplatz beobachtet. Oder wenn etwas so unvorbereitet kommt, wie die nun schon bald zwei Jahre andauernde Pandemie.

 

Wobei man sich schon wundern kann, dass manche Zeitgenossen dieser weltweiten Herausforderung noch immer mit der gleichen Haltung begegnen, als wäre Frühjahr 2020, damals, als es noch keine Impfung, keine Medikamente, keine Antworten gab. Als man plötzlich entdeckte, dass es zum selbstverständlich gewordenen Glück gehörte, dass mehrere Generationen keine kollektiv bedrohlichen Umstände und Restriktionen mehr kennen. Als man noch dachte, dass man auch Kinder in prekären Verhältnissen am besten schützt, wenn man sie zuhause einsperrt, als ungetestete Pfleger als besser galten als gar keine Pfleger. Diese Themen.

Doch hier ist Frieden, die Gedanken treiben ab vom Nachrichtenstrom. Es ist noch früh, ganz langsam hebt sich der Tag am Horizont, Harrys Leuchtehalsband blinkt aus der gefrorenen Heide, er ist kaum höher als die Pflanzen, es ist friedlich und still, der kleine Leuchtturm, hinter dem der unerschütterliche Strand liegt, hat noch sein Nachtlicht an, man kann gar nicht so tief einatmen, wie die Luft gut ist. Doch womöglich würde die Lunge sich erschrecken. Ist schon verdammt kalt. Wie wahres Leben halt.

Ying und Yang.

Auch wenn dieser Morgen wie der zuvor und der am Tag danach ganz unwirklich ist. So viel Sonne! Es weihnachtet, die Insel ist noch bei sich, noch nicht tiefergelegt vom Ansturm, den die Autozüge vom dritten Weihnachtstag an heranzuckeln wie in jedem Jahr. Auch oder gerade diesem. Feuerwerk ist hier eh keine Tradition. Aber die Tischknaller und Bienen gehen gut. Ich muss an Peter Kliem denken, den Chef vom Roten Kliff. Was für ausgelassene Abende haben Generationen dort schon verbracht, es wäre jetzt sein Saison-Augenblick. Der notwendige Schluck, um weitermachen zu können.

Doch trotz aller Vorsichtsmassnahmen hat sich der ungebetene Gast Quarantäne in die geschlossene Gesellschaft eingeschlichen. Wie lange kann man das Auf und Zu aushalten? Auch diese Klub-Infrastruktur gehört wie die vielen guten Restaurants zum Zauber der Insel. Die Shiro Bar oder Möllers Anker oder Voigts in List, das vom Lanser Hof übernommen wird, man vermisst sie.

Der Mond hat wieder Sonne gespielt, so riesig und hell und merkwürdig golden war er. Da ist etwas mit diesem Ort, das uns zur Ruhe kommen lässt. Was im Juni das niemals endende Licht so verführerisch angeht, macht nun die Dunkelheit. Sie umarmt uns. Sie kommt früh und geht spät. Aber es ist eben die satte Nordseeinsel-Dunkelheit. Jedes erleuchtete Fenster, jede Lichterkette wird zu einem kleinen Zauber.

Und erst die Sterne da oben am klaren Himmel! Wieder so viele. Ich sehe in ihnen stets Hoffnung. Die Lesung am 28. Dezember mit Imke Wein im Gemeindehaus Kamphüs zu ihrem zauberhaften Buch über Kampener Typen als besonders zu beschützende Spezies musste wieder abgesagt werden, für den Sommer 2022 aber wird wieder selbstverständlich groß geplant, Kampener Literatursommer, Events, Krebsessen, Hippie-Party. Wir glauben dran.

Zwei Tage vor Weihnachten war das halbe Dorf auf den Beinen. Horst, betagter Kamerad der Freiwilligen Feuerwehr war seit dem Vorabend verschwunden. Ein Hubschrauber kreiste, jeder Garten wurde abgesucht, am Watt, am Strand. Eine eisige Nacht draußen? Dann kurz vor Mittag die Erlösung. Er wurde gefunden, bei Bewusstsein, er war in einen Versorgungsschacht gefallen. Alles weitere wird man sehen. „Ich schmök jetzt erstmal eine“, sagte der Wehrführer. Der gar nicht raucht. Die aufziehende Gänsehaut hatte nichts mit der Kälte zu tun.

Auf der Wiese Ecke Hauptstraße /Kurhausstraße in Kampen steht wie alle Jahre der schöne große Tannenbaum mit zweierlei Lichterketten, große und kleine Lichter, wie auch vorm Kamphüs. Der ganze Ort ist wieder so schön geschmückt, vor Wempe tauchen glühende Rehe aus einem Lichterwald aus. Die Häuschen Richtung Dorfkrug, da wo Agnona zu Panetone und Champagner geladen hatte, draußen versteht sich, zeichnen eine ideale Winterwelt. Die Lichterketten in dem Bäumchen vor dem Comolli-Laden sehen aus wie das Herz, das Asiaten gern mit den Armen formen, um wortlos ihre Liebe zu zeigen.

Ich liebe die beiden Bäume. Große und kleine Lichter, Familie.

Gleich neben der Tanne auf der Wiese steht das Testzelt, auch das inzwischen irritierend vertraut. Drinnen bollert ein dekorierter Heizlüfter, ein Karton mit Süßigkeiten steht für die Kinder bereit Ab sechs Jahren brauchen auch sie einen Nachweis im Restaurant. Aber was ist ein Test, wenn erst der einen köstlichen gemütlichen Besuch im Sansibar ermöglicht? Wilma, sechs, Hamburger Schulkind und Testprofi inzwischen, urteilt: „Das war der beste bisher.“ Cousine Josephine, 10 Jahre, Berliner Schulkind und ebenfalls Scheckhheft gepflegt, stimmt ihr zu. „Sehr angenehm, muss ich sagen.“ Was Kinder heute im Vokabular haben. Es nieselt wieder trüb. Aber das wird nicht so bleiben. Auf Ebbe folgt Flut. Auf Regen magischer Raureif.

Text und Bilder
Inga Griese