Kölnschnack

Neue Liebe

Manche Leute haben auf ihren Autos so einen Wurmaufkleber, und wenn ich früher an Ampeln stand, starrte ich da drauf und dachte: Was ist das? Lang, dünn, spillerig, sieht nach nix aus, wer klebt sich so was aufs Auto, ist das eine Geheimsekte? Jetzt weiß ich: ja. Ist es. Die Sekte Sylt. Die Insel ist lang, dürr und ziemlich formlos, und die Fans tragen sie auch in Hamburg und Düsseldorf rum. Bochumer fahren nicht nach Sylt. Die fahren nach Domburg in den Niederlanden.

Sylt war für mich: Sansibar, Champagner, Augstein, Raddatz, Porsche, Rantum, Keitum, Westerland, gelbe Jacken, Fischbuden, teure Villen, keine Oper, kurzum, Sylt braucht man nicht. Das ist was für Schickeriamillionäre.

Ich war das erste Mal auf der Insel mit 66 Jahren. Ich hatte den Auftrag bekommen, von dem jeder Bücherliebhaber träumt: für ein neu gebautes Luxushotel an der Südspitze, das „Budersand“, eine Bibliothek für die Hotelgäste einzurichten. Hab ich gemacht, und als alle Bücherkisten geschickt wurden, bin ich angereist, um die Regale ordentlich zu bestücken. Erst mal nur: Bücher, Kartons, Regale. Blick aufs Meer: Schön, ja, aber die Nordsee kannte ich schon von Borkum, Amrum und Föhr. Grau halt, wild bewegt. Erste Spaziergänge. Was für eine Luft! Wie lang ist denn dieser Strand? Das hört ja nie auf! Man kann Stunden gehen und trifft kaum jemanden hier unten, am allerletzten dünnen Ende. Dann fing ich an zu erkunden, zu Fuß, per Fahrrad, Auto, Bus. Und siehe: Es war gut. Nur in Westerland ein paar Hochhäuser, ansonsten ist das 19. Jahrhundert noch zu finden. Sogar das 18., die Reetdächer schmiegen sich wie schlafende Bären in die Dünen, und ich schlief auch seit Langem wieder tief und brummelnd wie ein Bär. Loslassen. Gut durchgelüftet wieder leicht werden. Das ist eben auch Sylt. Und siehe da: Keine Schickeria in der berühmten „Sansibar“, keine weißen Tischtücher, guter Wein, leckere Pfannkuchen, die alte Schickeria ist tot, die neue Schickeria kenn ich gar nicht, aufgespritzte Frauen sehen ja in der ganzen Welt eh gleich aus.

Stück für Stück habe ich mir dieses Sylt erliebt. Habe eine Literaturwoche im Herbst gegründet, immer gut besucht, erstaunlich nette Menschen, und in diesem Jahr 2021 mache ich zum allerersten Mal in meinem bald 80-jährigen Leben einen ganz privaten Sommerurlaub auf Sylt, im August, in einem eigens dafür gemieteten Haus. So kann’s gehen.

Elke Heidenreich, deutsche Autorin und Journalistin
Text
Elke Heidenreich