Unterwegs

AUFGESATTELT

Die Insel im tosenden Meer mit den unbeugsamen Menschen: Seit 40 Jahren macht Philip Cassier Urlaub auf Sylt. Zum Jubiläum hat er sich aufs Rad gesetzt.
Jetzt würde er gern öfter herkommen.

Der Narkosearzt zog die Spritze mit jenem nüchternen Gesichtsausdruck auf, den erst die Erinnerung zu einem Grinsen verklärt. Dem Mann vor ihm auf dem OP-Tisch war gar nicht wohl – wer lässt sich schon gern künstlich ausknocken? „Okay“, sagte der Doktor in seinem grünen Kittel: „Wovon wollen Sie träumen, wo wollen Sie hin?“ Nach kurzem Stutzen – die Frage hatte er noch nie gehört – krächzte der Patient: „Nach Sylt bitte!“ – „Alles klar“, sagte der Arzt, „das klappt.“ Dann stand ich am Strand, das Meer toste hinter meinem Brustbein, ich zitterte vor Glück.

Seit 48 Jahren bin ich zu Gast auf der Erde, seit knapp 40 immer mal wieder auf der Insel. Und wenn es wirklich drauf ankommt, wünsche ich mich spontan dorthin; eine Vorliebe, die ich mit vielen Landsleuten teile; irgendwoher muss der Ruf ja kommen, die Insel in Deutschland überhaupt zu sein. Ob Sylt zur Bundesrepublik gehört, ist umstritten, es ist eine ganze Welt. Deshalb kann ich auch nur lächeln, wenn irgendwelche Genoss:innen gerade versuchen, die „Idee von Sylt“ zu zerstören, indem sie sich in die 9-Euro-Züge setzen und eine Spur von möglichst vielen leeren Bierdosen hinterlassen. Ihr seid wirklich putzig, möchte man denen zurufen: Menschen, die auf Inseln leben, gehören zum Unbeugsamsten, was die Spezies zu bieten hat, am Ende habt ihr so viel Chancen, zu gewinnen, wie Kickers Emden bei Real Madrid.

 

Das allein erklärt schon, warum es ohne Sylt für mich nicht geht. Natürlich ist da das Meer, das Salz in der Luft, der Wind, die Heide, die Heckenrosen, aber immer sind da auch die Leute, die dort leben, die haben eine Sogwirkung, gegen die ich mich nicht wehren kann und mag. Eine Radtour wollte ich deshalb schon lange mal wieder unternehmen, um zuzusehen, was so läuft, und mich ein wenig zu erinnern.

Als Startpunkt wähle ich den Ort, der mit Klischees überladen ist wie kein anderer, ich wähle Kampen. Ich habe da nie hingehört, Team Westerland, ganz eindeutig, von allem Finanziellen mal ab war der Ortskantor ein Freund meines Vaters. Diesmal aber ist es das „Hotel Rungholt“, fast direkt hinter den Dünen, roter Backstein, aber kein Reet, nicht das schönste Haus am Platze, aber mit Mordsblick und eines, in dem bald die vierte Generation übernehmen wird. „Ja, ja, die Insel der Reichen und Schönen“, sagt der Besitzer Dirk Erdmann und lacht zweieinhalb Sekunden lang. Mehr hat er zu diesem Thema nicht beizutragen. Er ist ein Mann von knapp 60 Jahren mit vollem Haar und Claus-Kleber-Augenpartie, das schafft Vertrauen, und wenn er beim Frühstück ein paar leere Teller auf einem Tisch sieht, dann nimmt er sie halt mit.

Als Mitglied des Gemeinderats hat er in den vergangenen 30 Jahren erlebt, was es zu erleben gab. Er weiß um die Preise in seinem Heimatort, aber Stereotype mag er nicht: „Wir haben hier normale Gäste, die meisten kommen seit Jahren. Und die meisten, die bei uns arbeiten, tun es schon sehr lange.“ Als vor gut zwei Jahren der Lockdown kam, ging Dirk Erdmannn zur Bank. Als niemand mehr wusste, was werden sollte, wollte er seinen Mitarbeitern den vollen Lohn zahlen, wo sie ja schon keine Trinkgelder mehr hatten. Ansonsten, so sagt er es, habe es auf der Insel immer schon ganz unterschiedliche Gäste gegeben

von Fünf-Sterne-plus bis Camping, und für alle sei hier Platz.

Kampener Institution: Dirk Erdmann leitet das „Hotel Rungholt“ in dritter Generation

Bei der Erkundung auf dem Rad spielt das Wetter mit – kein Sturm, leichte Bewölkung, 16 Grad. Auf mich wartet ein E-Bike von Nordseerad, Westerland, gefertigt von Riese & Müller in Frankfurt, 26 Kilo – und als der Chef Torsten Ibers es vorbeibringt, sagt er: „Verlass dich drauf, wenn du das erlebt hast, willst du nie wieder was anderes.“ Große Worte für einen Insulaner, aber dann wiederum hat er 30 Jahre lang in der Küche der „Sansibar“ gestanden, 3500 Teller im Sommer, und jeder musste gut sein, das gibt es in Deutschland nur einmal. Was das heißt, weiß nur, wer es durchgemacht hat, und wer es durchgemacht hat, hat kein großes Maul mehr.

Als ich den Sattel in Besitz nehme, tut es mir fast leid, wie sehr der ganze Fahrradhype der vergangenen Jahre an mir vorbeiging. Zu der Zeit, in der ich mich mit der Materie wirklich beschäftigt hatte, hieß der Tour-de-France-Sieger im Deutsch der Sportreporter „Berner Ino“, ich freute mich, dass Franzosen eben Berner statt Werner hießen, so groß war der Unterschied also nicht. Ansonsten bin ich seit den Siegen Bernard Hinaults in meiner Wahlheimat Berlin auf dem Rad diverse Male dem Tod von der Schippe gesprungen, sodass ich seit Jahren bei dem Thema kaum mehr mitreden kann.

Nun aber macht sich von der ersten Minute an Behaglichkeit breit. Klar, das Teil ist schwer, aber das ist ein Cadillac auch, und wer cruisen will, der braucht Gewicht. Ich trete rein, die Heidelandschaft vor der „Sturmhaube“ zieht vorbei wie ein ruhiger Fluss, und ich schwöre mir in einem Anfall von Grandiosität, auf den Elektroantrieb zu verzichten, wofür renne ich denn sonst morgens durch die Stadt? Also nur flink links abgebogen in den Dünenweg und losgezischt in Richtung Süden. Ist ja auch alles gar kein Problem, Rückenwind, Meeresrauschen, gute 20 Stundenkilometer, heute wird einiges von den 230 Kilometern Radweg auf der Insel entdeckt.

Am Rantumer Hafen
Figur vor der Sansibar
Am Morsumer Kliff
Schäfer mit Schafherde
Am Rantumer Hafen
Am Rantumer Hafen

Rechter Hand steht eine Backsteinkirche mit goldenem Kreuz auf dem Dach – und mir tut mein Fotografenkollege Johannes Arlt leid. Er hat den Auftrag, um Gottes willen keine Postkartenmotive abzuliefern, das wird ein Höllenjob. Wenningstedt, Nordseeklinik, mein alter Hometurf auf der Insel. Plötzlich ist er da, der Elfjährige, der den ganzen Tag Beachball mit seiner Mutter am Strand spielen wollte, das Klacken des Gummiballs auf dem Holzschläger war seine Urlaubsmusik, beide einte die Aussicht, auch an diesem Abend wieder in List in „Scampi Knobi“ zu baden. Fünf Mark fünfzig die Portion, ganz links in der Fischbude stand der Chef, machte am Telefon dicke Geschäfte, und wer sich von ihm mit dem Fischmesser ein Marmeladenbrot schmieren ließ, weil er kein Getier aus der See mochte, dem schenkte er’s.

Ein Jahr später war die Mutter gestorben, und ich lernte, dass Abschied zum Leben gehört wie Ankunft. Die Scampi kosteten jetzt sechs Mark, aber weg wollte ich trotzdem nicht, um nichts in der Welt. Es half nur natürlich nichts, in Hannover wartete das Gymnasium, ein Gedanke, bei dem ich noch im Jahr 2022 schneller fahre. Westerland also, der Siebzigerjahre-Betonriegel am Strand, in dem es sich teurer als an manchen Stellen Kampens wohnt, weil es diesen Blick aufs Meer nur hier gibt. Es ist nicht alles schön auf Sylt, wie könnte es das sein, deshalb rasch weiter zur Friedrichstraße, der ebenfalls leicht verbauten Lebensader mit dem Kaufhaus H. B. Jensen

Äjtschbiehdschensen

Es ist ordentlich was los, wer zehn Minuten an der Kreuzung steht und zuhört, der hat sie alle im Ohr, die deutschen Regionen: „Oh Mensch, Rooooobatt, jetz mach hinne, ick hab nich ewig Zeit!“ – Berlin. „Guck ma, Klaus, dat Bänkschen da, dat is doch herrlisch!“ – Rheinland. „Geh weider, Schorsch, a Hoibe derf’s scho’ sei!“ – Bayern. Urlaubssound – und wo andernorts in der Republik nur zu oft diese „Also, wenn das Essen jetzt nicht kommt, dann geb’ ich kein Trinkgeld, das ist mal Fakt!“-Atmosphäre wabert, hat hier am Ende noch jedes Mal vor allem heitere Gelassenheit geherrscht, ganz so, als ob die Besucher tatsächlich kämen, um sich zu entspannen.

Doch das Rantum-Becken wartet, deshalb nicht verzagt und ohne Elektrohilfe das langsame Pärchen da vor dir überholt, Sportsfreund, weck den Berner Ino in dir, das ist super fürs Selbstvertrauen, und die beiden sind auch höchstens 20 Jahre älter als ich. Bald geht es nach Osten, Richtung Watt, das Spiel ändert sich, da bleibt nichts Nordsee-Ruppiges, da wird es gefühlt ganz still, und manchmal liebe ich das inzwischen noch mehr als den Betrieb der Westseite. Weit weg von den Untiefen des Lebens, wo sie uns nicht finden, liebe Lady Gaga, da will ich inzwischen sein, mein Alltag in Berlin ist laut genug. Auf das Beruhigende konnte ich mich sogar im Jahr 2020 verlassen: Dem ersten Lockdown entronnen, ging es im August im Lister Hafen und Teilen Westerlands endgültig zu wie am Baller-Baller-Ballermann, aber ich rollte auf den Deich Richtung Keitum und war beinahe allein. Diesmal ist das Gras neben dem Deich noch grüner, und irgendwie kommt es mir vor, als wären mehr Schafe und Lämmer da als beim letzten Besuch. Die Luft jedenfalls ist deodoriert mit den Hinterlassenschaften der Gesellen mit dem dicken Fell, und es riecht auch nach Wolle, nach schwerer, fettiger Faser, wie ich sie so mag. Auf Sylt ging es los mit dem Tweed und mir. Nicht wegen der Schafe, die mich hier freundlich anblöken: Mitte der Achtzigerjahre muss es gewesen sein, dass ich einen Mann mit eisgrauem, kurzem Haar und eisblauen Augen in einem Café sitzen sah. Er trug ein braunes Fischgrat-Jackett aus dem schottischen Material, las Zeitung mit einer schlichten runden Brille mit Stahlrahmen und sah dabei so aus, als ob er alles wisse, was es braucht, um durchs Leben zu kommen. Natürlich wollte ich auch so ein Sakko, aber mein Vater sagte, ich sei noch zu jung.

Mich erinnert die Geschichte immer daran, wie gern man sich als junger Mensch selbst betrügt – und wie sehr es dabei bleibt. Denn weder hatte oder habe ich eisblaue Augen, noch hatte oder habe ich eisgraues Haar. Trotzdem trage ich Tweed neben seinen guten Eigenschaften – luftdurchlässig und fast unzerstörbar – so gern, weil ich immer wirken wollte, wie der Mann von damals. Der Blouson heute ist von Sandro Dühnforth aus Hamburg. Ein echter Maßschneider, und als im Lockdown zwischendurch niemand mehr Interesse an Anzügen hatte, sattelte er auf Lässigeres um, das weniger Arbeit erforderte und deshalb günstiger zu haben ist. Etwas, das den Syltern in ihrem Pragmatismus gefallen dürfte.

Heute kann ich das Teil gebrauchen, denn inzwischen kommt der Wind gefühlt von vorn, eine Erkenntnis, die sich langsam in meinem Hirn einnistet und immer mehr ärgert. Es war noch jedes Mal so, von Norden nach Süden, da läuft’s von ganz allein, aber sobald die Richtung sich ändert, bin ich jedes Mal aufs Neue überrascht. Eine tolle Metapher für mein Dasein als solches nebenbei, aber es ist nicht so, dass diese philosophische Einsicht jetzt irgendetwas besser machen würde. Was also tun?

Rasch krame ich in meinem Kopf nach dem richtigen Zitat für die Situation, und – badabing! – da kommt auch schon Oscar Wilde mit dem Satz zu Hilfe geeilt, er könne allem widerstehen, nur der Versuchung nicht. Außerdem schmerzen die Oberschenkel und das kleine Teufelchen auf meiner Schulter säuselt mir ins Ohr, dass ich ja schließlich kein Berner Ino bin, der es für sein Selbstwertgefühl nötig hätte, gegen den Sturm zu strampeln. Also: Soll ich, soll ich nicht den ersten Elektrogang zuschalten? Nach reiflicher Abwägung aller Pros und Kontras schalte ich anderthalb Sekunden später lieber gleich mal auf die zweite Stufe – wenn schon, denn schon. Wirklich irre, denke ich, so leicht kann’s sein, die Sache rollt wieder. Ich fliege nach Keitum hinein, früher war das selbstredend keine Option, da bin ich sogar mal in 16 Grad kaltem Nordseewasser geschwommen. Heute ist dieses Backsteinziegeldisneyland für mich die reine Sehnsucht.

On the road vor dem Leuchtturm in Kampen und in Morsum

Am Morsumer Kliff

Wo sich in Berlin die Energie oft genug in ziel- und planloser Hektik entlädt, da sehe ich hier vor meinem inneren Auge eine Existenz vor mir, die sich wie ein geruhsames Dinner anfühlt, wenn der Tag sich sortiert hat und nichts mehr zu tun ist, außer etwas Gutes zu essen. Tolle Ecke, wirklich, also gleich noch weiter nach Morsum und zurück, das ist wie Keitum, nur weniger bekannt. Alles greift ineinander, so müssen sich die Herrschaften von Kraftwerk das gedacht haben, als sie hinter ihren Synthesizern von der Mensch-Maschine sangen.

Und weil alles gerade so sehr an seinem Platz ist, entscheide ich, lieber noch einmal ordentlich Tempo auf dem Weg nach Kampen zu machen, als mit halber Lunge nach List zu tuckern, wo mir Jürgen Gosch ganz bestimmt kein Marmeladenbrot mehr schenken wird. Die oberste Stufe gibt Schub wie bei einem Flugzeugstart, ich trete, was ich kann, gemeinsam sind mein Rad und ich stark, bergauf und Gegenwind macht gar nichts mehr, ich kratze konstant an 30 km/h. Liebe Autofahrer, die ihr im Sommer stundenweise auf den Zug aufs Festland wartet, kauft euch doch einfach ein E-Bike und kommt mit dem Personenzug. Das spart Benzin und Nerven.

 

Mit Raketengeschwindigkeit düse ich auf den Leuchtturm zu, das Ortsschild Kampen ist schon passiert, aber verdammt, ich will noch nicht ins Hotel. Nein, ich will noch einmal den Strönwai hoch, die Whiskymeile im Volksmund, erst Thomas Mann, dann Gunter Sachs, dann auch mal Bettina Wulff, aber in jedem Fall eine Straße, in der entscheidende Dinge passieren. Ins „Pony“ kann ich nicht, das bringe ich nicht übers Herz, was habe ich früher über den Popperschuppen gelästert und mich insgeheim dorthin gewünscht, zu all den Pausenhofqueens mit Kampen-Teint im Urlaub. Heute ist mit Nightlife eh nicht mehr viel, die Anwohner beschweren sich über den Lärm, und so lande ich für den Belohnungsdrink im „Odin“, ein Restaurant mit südafrikanischer Küche und Angestellten aus zwölf Nationen, wie der Betreiber Jörn Steffen versichert.

Muss ich mich grämen, weil ich inzwischen einen Reifegrad erreicht habe, der mich keine Weinschorle mehr bestellen lässt, sondern Holunderlimo? Gute Frage, nächste Frage – ist man Romantiker, wenn man sich zwischen all den Modeläden eine Buchhandlung wünscht? Müsste ich vielleicht mal mit Dirk Erdmann aus dem „Hotel Rungholt“ drüber sprechen, ist aber nicht entscheidend, denn dafür, einen perfekten Urlaub an einem perfekten Ort zu erwarten, bin ich dann vielleicht doch nicht deutsch genug.

Doch nun ist Feierabend, ich gehe ans Meer. Das Wasser rauscht, der Wind singt sein Lied, die salzige Luft füllt die Lunge, ich blicke zum Horizont. Bald ist da die Erdkrümmung, dahinter lauert so viel Ewigkeit, wie ich es mir eben vorstellen kann. Wenn es so weiterginge, denke ich, das Leben, das Universum und der ganze Rest, dann wäre es eigentlich ganz nett, doch unsterblich zu sein, aber selbst diese Insel kann eben nicht alles erledigen, und wer immer hinter alldem steckt, wird sich ganz bestimmt was dabei gedacht haben. Also bin ich lieber schnell mal dankbar, dass es Sylt gibt.

Text
Philip Cassier
Fotos
Johannes Arlt