FOLGE 1

LERNEN VON AFRIKA

Sie haben ihr Zuhause aufgegeben, nur behalten, was in ein Auto passt und investieren ihr gesamtes Geld in ein Projekt mit ungewissem Ausgang. Ein Jahr lang reisen die Journalistin und Lyrikerin Annika Ruge und der Bestseller-Autor Michel Ruge mit ihrer einjährigen Tochter Jaguar quer durch Afrika. Sie suchen: Die Berührung mit den Menschen eines unerkannten Kontinents. Den Kontakt zu Gesellschaften mit unverstelltem Zugang zum kollektiven Gedächtnis und den Visionären für ein unabhängiges Afrika, das sich nichts mehr nehmen lässt, aber der Welt etwas zu geben hat – Ideen und Visionen für eine lebenswerte Zukunft in allen Zivilisationen.

Eine risikohaltige Unternehmung. Die Erforschung eines unbekannten Gebiets mit ungewissem Ausgang und das Heraustreten aus dem geschützten Alltagsbereich. So erklärt sich der Begriff Abenteuer. Das Charmante daran: Er entstammt dem lateinischen Wort advenire und das wiederum bedeutet Ankommen. Was unser Projekt My Teacher Africa ganz gut beschreibt, denn wir geben unser altes Leben, unser Zuhause, unser soziales Umfeld und alles Gewohnte auf, mit dem Ziel anzukommen. Nicht, dass wir unser altes Leben im Herzen von St. Pauli nicht geliebt hätten. Die kleine Treppe, die direkt in unsere Küche führte, und die Michel mit dem Kunstprojekt „Meine kleine Treppe auf St. Pauli“ in eine Sehenswürdigkeit verwandelt hat und die Menschen aus ganz Deutschland in unser Atelier führte. Diesen kleinen Raum, in dem ein Besteller geschrieben wurde (Michels erste Autobiographie „Bordsteinkönig – meine wilde Jugend auf St. Pauli“) und der sich auf wundersame Weise vergrößert hat, wenn wir Black Tie-Parties veranstaltet haben und in dem wir neben vielen Reportagen und Artikeln unsere wöchentliche Kolumne für Hamburgs größte Stadtzeitung geschrieben haben. Und in dem wir die erste Hängematte für unsere Tochter Jaguar aufgehängt haben, in der sie friedlich schlummernd schaukelte, wenn wir für zwölf Gäste in unserer winzigen Küche gekocht haben.

Gerade, weil wir dieses Leben so lieben – das Zusammensein mit anderen Menschen, den Trubel eines offenen Hauses, das liebevolle und das hitzige Gespräch, die Lebenslust und den Genuss – hatten wir das Gefühl, dass wir uns aufmachen müssen. Damit genau das, das Leben wie es gemeint ist – analog, direkt, hier und jetzt – auch in Zukunft stattfinden kann. Und so möchten wir nicht nur physisch am Kap der Guten Hoffnung ankommen, denn dorthin führt uns die Reise im Geländewagen von Hamburg aus quer durch Afrika. Sondern auch im Kopf und im Herzen; metaphysisch sozusagen. Ankommen an Orten, die uns mehr über das Eingebettetsein in das große Ganze erzählen. Menschen und Kulturen, Traditionen und Mythen, Praktisches und Philosophisches, Kreatives und Künstlerisches – eben alles, was vom Sein erzählt und vom Leben darin. Zurückkehren an die Wiege der Menschheit, um wie die Kinder noch einmal alles zu erlernen.

Das Afrika der Gegenwart

Apropos Kind. Dass wir unsere einjährige Tochter mitnehmen, hat zu gemischten Reaktionen geführt, manchmal sogar zu offener Ablehnung. Viel zu gefährlich sei das, ja nahezu unverantwortlich. Wir waren überrascht, manchmal sogar regelrecht erschrocken über das Bild von Afrika, dem wir hier und da begegnet sind und dem mit Sätzen wie: „Die werden Euch für ein paar Dollar ausrauben!“ Ausdruck verliehen wurde (O-Ton!). Auch vom „Wilden“ war da noch die Rede und immer wieder von Gefahr, die zu konkretisieren auf Nachfrage nicht möglich war. Es zeigt: Das Bild von Afrika und über die Afrikaner ist teilweise noch diffus; gefärbt von den Bildern, die Hilfsorganisationen uns in die Köpfe gepflanzt haben. Von Armut, Hunger und Hilflosigkeit. Die Schönheit Afrikas hingegen wird meist auf die Natur reduziert, klebt an der Serengeti-Romantik von Heinz Sielmann-Dokumentationen aus längst vergangenen Zeiten. Doch wie sieht das moderne Afrika aus? Was zeichnet den Kontinent in der Gegenwart aus? Wie tradieren einige der ältesten Kulturen der Welt ihre Herkunft und welche Visionen haben die Menschen, welche Ziele und Wünsche? Wie unterscheiden sie sich von denen unseres Kulturkreises und gibt es möglicherweise Wege und Ideen, von denen wir etwas lernen können? Es heißt, Afrika sei der Kontinent der Zukunft. Und meist ist damit das Wirtschaftswachstum gemeint, der Umsatz von Waren und Geld, die Entstehung neuer Märkte. Auch hier herrschen in der Diskussion Allgemeinplätze, ist von China die Rede, das Afrika längst aufgekauft hat. Wird Afrika über den Umweg des Handelns anderer Nationen auf dem Kontinent erfasst. Doch was ist Afrika abzüglich aller Fremdeinwirkungen und -vorstellungen? Was ist, wenn wir uns den 58 Ländern und rund eineinhalb Milliarden Menschen unvoreingenommen nähern?

 

FOTO: WIM JANSEN Das Projekt My Teacher Africa beginnt auf St. Pauli, wo Michel geboren und aufgewachsen ist. Elbe und Hafen sind ein wesentlicher Teil des Viertels, das einst das größte Rotlichtviertel der Welt war.

Kein Leben ohne Utopie

Zum Glück gab es nicht nur die Schlaumeier und Bedenkenträger, sondern auch Jene, die sich spontan für My Teacher Africa begeistert haben. Und es gibt Felwine Sarr, den senegalesischen Ökonom und Musiker, der mit Afrotopia einen Weltbestseller geschrieben hat. Der Afrika im globalen Kontext ein Antlitz gibt, das uns freundlich aber bestimmt darauf aufmerksam macht, das wir eben nicht der Nabel der Welt sind. Uns daraufhin weist, dass der „Homo africanus kein Homo oeconomicus im strengen Sinn ist. Dass die Motive seiner Entscheidungen geprägt sind von Logiken der Ehre, der Umverteilung, der Subsistenz und der Gabe beziehungsweise Gegengabe.“ Er steht für ein Afrika, das sich seiner positiven Rolle im globalen Zusammenhang bewusst ist. Ein Afrika, das um seine Stärken weiß. Er sagt:

In der klassischen spanischen Reitweise wird einhändig geritten, damit die andere das Schwert führen kann. Da hier gerade keines zur Hand war, hat Michel kurzerhand zu einer Flasche unseres Lieblingschampagners gegriffen

„Uns fehlt heute jede Utopie. Wir wissen nicht, wo es hingehen soll und wie wir aus der technoindustriellen Situation herauskommen sollen, die unseren Lebensraum schädigt. Unserer ökologischen Krise kann Afrika ein Zivilisationsprojekt entgegensetzen, das nicht auf materiellen, sondern auf spirituellen Werten beruht.“ 

So waren wir überwältigt davon, wie viele Menschen es gibt, die verstehen, dass es zu allen Zeiten Utopien braucht, damit das Leben überleben kann. Vor dem Hintergrund, dass künstliche Intelligenzen Bücher schreiben und Symphonien komponieren, die Börse steuern und Informationen verteilen, ist diese Umkehrung, ist das Zivilisationsprojekt, von dem er spricht, vielleicht die wichtigste Aufgabe der Gegenwart. Viele in unserem Umfeld scheinen das zu spüren, denn sie haben My Teacher Africasofort als Chance verstanden, etwas in Bewegung zu setzen. Allen voran ein junger Mann, selbst Vater zweier Kinder, der in einem Vorort von Hamburg ein Autohaus leitet. Ihm brachten wir unser eigens für das Projekt gekaufte spanische Modell eines Land Rovers, Baujahr 1986, der sich bei näherer Betrachtung der Route technisch als nicht ganz gewachsen zeigte und den wir liebevoll „Belmondo“ getauft hatten. „Ob man da was machen kann?“, fragten wir ihn. Die Antwort von Nicola Geist war ein Kopfschütteln. Und dann: „Mit Belmondo werdet ihr es kaum bis Kapstadt schaffen. Aber mit einem neueren Modell ganz sicher.“ Und das war kein Verkaufsgespräch, denn My Teacher Africa und die Idee, neue Impulse für die Gestaltung einer lebenswerteren Zukunft für alle Menschen zu suchen, hatte sein Herz direkt und ohne Umweg durch den Verstand erreicht. Daher sind wir jetzt in einem fast nagelneuen Defender unterwegs, in den uns Nicola Geist und sein Team sogar einen Kühlschrank eingebaut haben, in dem wir ein paar Notfallmedikamente für unsere Tochter konstant temperiert durch zahlreiche Klimazonen transportieren können. Die hat uns unser Kinderarzt auf St. Pauli zusammen mit einem Behandlungsplan für alle möglichen Notfälle vom Spinnenbiss zum Knochenbruch im tiefsten Busch auf unserem Abschiedsfest in die Hand gedrückt – überzeugt davon, dass wir unserer Tochter mit diesem Abenteuer ein großes Geschenk machen. Die Besitzer eines alteingesessenen Bettengeschäfts in Hamburg-Blankenese haben uns Decken aus Kamelhaar für unser Dachzelt mitgebracht, denn sie wissen um den Vorteil natürlicher Materialien im Vergleich zu Schlafsäcken aus Funktionsfasern. Es war faszinierend zu erleben, wie sich unsere Partner quasi selbst dafür entschieden haben, sich mit der Idee von My Teacher Africa zu verbinden. Wir mussten keine Akquise-Gespräche führen und Sponsorenpakete schnüren, kein Storytelling betreiben und Konzepte für Marketingabteilungen schreiben. Kaum hatten wir die Tür aufgestoßen, traten die Menschen in unser Leben. Ihr Zuspruch, ihre Begeisterung und ihr Mut zum Mitmachen war der Wind unter den Flügeln, den wir brauchten, um tatsächlich in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen. Das Logo von My Teacher Africa zieren nämlich drei Wildgänse, die für uns die Verbindung zwischen Afrika und Europa auf wunderbare Weise symbolisieren.

 

Die Schönheit in allen Dingen

Wie die Wildgänse kommen auch wir in unserem natürlichen Gefieder; wir reisen ganz bewusst nicht in Funktionskleidung, denn wie es sich anfühlt, wenn Touristen in atmungsaktiver Allwetterklamotte am eigenen Zuhause vorbeiziehen, haben wir als Bewohner von St. Pauli allzu oft erlebt. Gleichsam feuchtigkeits- wie menschenabweisend wirkt der Auftritt in Mikroplastik, der den Eindruck erweckt, man müsse sich für die Umgebung wappnen oder gar rüsten. Überhaupt lasse man sich den Ausdruck Aus-Rüstung einmal ganz bewusst auf der Zunge zergehen.

Nicht ohne unsere Morgenmäntel – sie begleiten uns auf dem Weg von St. Pauli bis zum Kap der Guten Hoffnung und sind für uns Ausdruck von Freiheit wie für andere Menschen der Schlafanzug oder die Jogginghose.

Wenn Kleidung eine Funktion besitzt, dann die, dass sie dem Anderen gegenüber zumutbar ist. Dass sie den Respekt ausdrückt, den man als Gast in einem fremden Haus oder Land mitbringt und dass sie dem Anlass entsprechend gewählt wird. Wir sehen keinerlei Unterschied darin, ob wir nach Amsterdam oder Akkra fahren und passen unseren Kleidungsstil höchstens den klimatischen Bedingungen an.

My Teacher Africa ist also auch die Entdeckung der Schönheit. Und wer versucht, die Afrika ständig abzuquatschen, um weiter das Narrativ vom armen, gebeutelten und hilfebedürftigen Kontinent zu bedienen, der befeuert den Motor, der eine globale neokolonialistische Industrie am Laufen hält. Noch immer sind es zum Teil europäische Unternehmen, die einigen der indigenen Völker Afrikas deren traditionelle Stoffe liefern. Noch immer sind es unter menschenunwürdigen Umständen gewonnene Rohstoffe, die unsere technischen Geräte am Laufen halten. Also möge sein Handy wegschmeißen, wer sich daran stößt, dass wir auf der Fahrt unsere Talismänner aus Gold tragen. Oder glaubt hier wirklich jemand, dass die Afrikaner entlang der Goldküste keine eigene Kultur und Tradition in Bezug auf das Edelmetall besitzen? Sondern dass es legitim ist, hierzulande Schmuck aus ghanaischem Gold zu tragen, aber bitte nicht in Afrika, denn dort könnte es die Gefühle der Menschen verletzen? Diese leiden, sofern es sich nicht wie bei unseren Talismännern um fair gewonnenes Gold handelt, an der Verletzung ganz anderer Dinge. Nämlich der Würde. Ihr Raum zu geben, sie strahlen zu lassen – egal ob sie sich in einem Tanz oder einer Kette aus Federn oder Gold, einer innovativen Unternehmung, einem Bild, einer Schale aus Holz, einem Gebäude, einem Teppich, einem Lied oder einem Lachen ausdrückt, das ist der Kern unseres Abenteuers. Wir wollen lernen. Wer hier liest, kann mit uns lernen. Felwine Sarr sagt: „Die Zukunft ist jener Ort, den es noch nicht gibt, den man aber geistig vorwegnimmt.“ Nehmen wir vorweg, lassen wir den Gedanken zu:

Afrika ist …

Mehr auf Instagram: @myteacherafrica