Viktor & Rolf Haute Couture Frühling/Sommer 2022 

Creepy Hollow

Angst als Modethema. Zuerst sehen die Zuschauer im Chaillot-Theater am Trocadero nur riesige, monströs verzerrte Schatten und zuletzt: auch. Viktor & Rolf kommen beim Schlussapplaus nicht hinter der Wand hervor, sondern winken nur als Schattenrisse, mit unheimlich langen Krallenhänden.

Über den Laufsteg schleichen bizarr deformierte Silhouetten, bei der die Schulterpartie so hochgerutscht ist, dass sie Kopf und Hals verschwinden lässt. Surreal in die Länge gestreckte Smokings und Hemden wechseln sich ab mit üppig bestickten Roben aus Tüll oder Taftmoiree, Volants, Schleifen und wallenden Capes. Pump up the volume.

 

Angeblich haben sie sich von alten Dracula-Filmen aus Hollywood inspirieren lassen, in denen der blutsaugende Graf oft aus der Froschperspektive als dramatisch gestreckter Schatten im Gegenlicht in Szene gesetzt wurde. Und doch scheint hier auch der Regisseur Tim Burton Pate gestanden zu haben: Man denkt spontan an den kopflosen Reiter, der die niederländische Kolonie Sleepy Hollow bei New York in seinem gleichnamigen Film in Angst und Schrecken versetzt und bei dem Krallenfingerschmuck der Models an „Edward mit den Scherenhänden“. Und ihr „gothic“-haftes Make-Up passt ebenso in die skurril-fantastische Gruselwelt des Amerikaners.

 

„Angst kann übermächtig sein. Es gibt immer Gründe, Angst zu haben, und die Gegenwart bietet viele. Die Situation in der Welt, die Ungewissheit über die Zukunft, unsere Verletzlichkeit und der Mangel an Kontrolle. Solche Gefühle können lähmend sein, aber sie können auch kreativ genutzt werden“

schreiben sie in ihren Produktionsnotizen. Das ist ihnen gelungen. Die Haute-Couture-Schau der Niederländer war wieder einmal ein ebenso scharfsinniger wie witziger Kommentar zur Gegenwart: Wohliges Gruseln als Ventil für die Angst.

 

Text
Silke Bender