Dass Südkorea eine kreative Blütezeit durchmacht,
liegt auch an Talenten wie der Künstlerin Jinnie Seo und dem Architekten Choi Wook. Wir haben sie zu Hause besucht.

Seoul ist eine moderne Metropole, doch in einem Stadtviertel wie Buam-dong spürt man davon wenig. Schmale Straßen bahnen sich ihren Weg zwischen kleinen flachen Häusern, verlaufen in scharfe Kurven und führen steil nach oben. Es ist ruhig, nur wenige Autos quälen sich durch dieses engmaschige, unebene Netz. Doch der Weg lohnt sich, erst recht, wenn er zum Anwesen von Jinnie Seo und Choi Wook führt.
Dieses liegt am Ende einer Straße, weit oben auf einem Hügel. In gewisser Weise haben sich die Künstlerin und der Architekt, die sich seit ihrer Studienzeit kennen, hier ihr eigenes kleines Dorf geschaffen, eine Konstellation aus verschiedenen Gebäuden, verteilt über einen großen ungezähmten Garten. Zwei größere Häuser stehen bereits, ein dritter, brutalistisch anmutender Bau, in dem Seos neues Studio sowie Archivräume entstehen sollen, wird gerade fertiggestellt. Auf der Gartenfläche dazwischen finden eine kleine Meditations-Hütte aus Hanoki-Holz Platz, ein hervorragend ausgestatteter Weinkeller, ein Arbeitszimmer in einem separaten Häuschen mit einer riesigen Fensterfront. Schmale Pfade verbinden die einzelnen Objekte miteinander, hinter dem Grundstück erstreckt sich ein kleiner Wald aus nackten Kirschblütenbäumen. „Als wir hier vor 20 Jahren eingezogen sind, besaßen wir nur ein Grundstück. Im Laufe der Jahre haben wir noch zwei Nachbargrundstücke dazugekauft“, erzählt Seo, eine zierliche Frau im blauen Sweatshirt, die gut gelaunt durch ihr Heim führt.
Mit so viel Platz wissen Seo und Choi einiges anzufangen. Choi ist Gründer und Leiter des Architekturstudios „One O One Architects“ mit über 50 Angestellten, das in Seoul unter anderem Fabrik- und Unternehmensgebäude für Genesis und Hyundai konzipiert. Jinnie Seo ist bekannt für raumfüllende Installationen aus gitter- oder netzähnlichen Strukturen, Kupferskulpturen oder geometrische Wandmalereien, die in Museen sowie auch an öffentlichen Plätzen wie dem Hauptstadtflughafen Incheon oder in Schaufenstern von Hermès-Geschäften ausgestellt werden. Sie und zwei fest angestellte Mitarbeiter arbeiten in dem Studio. Das Paar ist in der lokalen Kreativszene gut vernetzt. Am Dinnertisch sitzt häufig ein Mix aus „Squid Game“-Schauspielern, Künstlern und Geschäftsleuten, und Seo hofft darauf, nach dem Ende der Pandemie bei informellen Abendveranstaltungen, Kreative aus verschiedenen Disziplinen zusammenzubringen.

Jinnie Seo ist spezialisiert auf raumfüllende Installationen und erschafft auch Kunstwerke für Unternehmen

Choi Wook in den Büroräumen von Chois Architekturfirma One O One Architects
Beide haben „mehr zu tun denn je“, aber finanzieller Erfolg ist selten das endgültige Ziel eines Künstlers. „Wir wollen Teil einer Gemeinschaft sein“, sagt Seo. „Als wir 37 Jahre alt waren, haben wir entschieden, dass wir keine Kinder haben wollten. Aber wir mussten uns fragen: Was genau ist dann unser Sinn im Leben?“ Die Antwort liegt für beide heute in der Unterstützung junger Kreativer, denen sie in ihrem Haus Räume zum Arbeiten bieten, Seo agiert zudem als Mentorin für Kunststudenten. „Die koreanische Gesellschaft macht eine ziemlich interessante Zeit durch“, sagt Choi Wook, der einerseits ruhig und zurückhaltend wirkt, andererseits aus dem Nichts Witze reißt, die sein Umfeld kollektiv zum Lachen bringen. Er hebt hervor, wie offen und jung die Gesellschaft geworden sei, wie viel Austausch es zwischen Kultur, Politik und Wirtschaft gebe und wie sehr alle davon profitierten. „Man denke nur an eine Serie wie ‚Pachinko‘.
Für mich zeigt der Erfolg dieser Produktion, wie gut sich die koreanische Gesellschaft ausdrücken und wie viel Einfluss sie damit ausüben kann, wenn sie die richtigen Mittel, Ressourcen und politischen Anführer hat.“
Eben das hat Korea über Jahrzehnte gefehlt. Choi erwähnt mehrmals die vielen Traumata, die seine Heimat hat durchmachen müssen – von der Kolonialisierung durch Japan, dem Bürgerkrieg, der Unterdrückung durch Militärregimes und Diktatoren. Choi und Seo sitzen im offenen Küchen- und Essbereich an einem langen Tisch, deren Oberfläche aus vielen goldfarbenen, sich überkreuzenden runden Platten besteht. „Kurz nach dem Bürgerkrieg, als ich klein war, da konnte man in vielen bescheidenen Esslokalen nur an umgedrehten Öltonnen sitzen. Die hatten keine richtigen Tische“, sagt Choi. Diese Erinnerung inspirierte ihn zum Design seines Esstisches. Die Auslage ist an diesem Nachmittag alles andere als bescheiden. Es gibt französisches Gebäck zum Tee, Schalen mit aromatischen, makellosen Erdbeeren. Koch im Haus ist der Mann im Haus. „Ich kann in meiner Arbeit sehr gut mit Skalpellen umgehen, aber in der Küche schneide ich mich an allem“, sagt Jinnie Seo lachend.




Die Künstlerin, die in Korea geboren wurde, aber als Teenager in den USA aufgewachsen ist, hatte nie damit gerechnet, dass sie wieder im Land ihrer Eltern Wurzeln schlagen würde. Doch dann führte sie ein Sommer-Studienprogramm der „New York University“, wo sie in den 80er-Jahren studierte, nach Venedig. „Dort traf ich drei Koreaner. Einer war verheiratet, der andere war alt, und der dritte war Wook“, sagt sie. Der studierte in Venedig Architektur. Die beiden wurden ein Paar und Seo beschloss, für ihn wieder nach Seoul zu ziehen.
„Das war die Zeit, als Korea nur in die Zukunft blickte und sich daran orientierte, was europäische Länder getan und geleistet hatten. Niemand interessierte sich wirklich für koreanische Geschichte“, sagt Choi Wook. Auch Choi, der sich bis heute in der italienischen Sprache sichtlich wohlfühlt und spontan italienische Worte in seine Sätze streut, setzte sich erst nach seiner Zeit im Ausland mehr mit der Architektur seiner Heimat auseinander. Während er 1963 in Busan in einem Haus nach japanischem Baustil geboren wurde, verbrachte seine Frau ihre ersten Lebensjahre in einem Hanok – einem traditionell koreanischen Haus aus Holz, Lehm, Naturstein und Reispapier. „An den Geruch darin erinnere ich mich bis heute“, sagt Jinnie Seo.







Projekte der ONE O ONE ARCHITECTS
Am Anwesen des Paares erinnert wenig an traditionelle Hanoks, doch einige Grundprinzipien koreanischer Bau- und Wohnphilosophie hat sich Choi Wook bei der Planung integriert.
„In Korea ist das Zusammenspiel aus einem Haus und der Natur, die es umgibt, extrem wichtig“, sagt er. „Es besteht immer eine Verbindung zwischen innen und außen. Man kann immer rausblicken.“
In der Umsetzung bedeutet das im Fall des Choi-Seo-Anwesens, dass man wegen der Unterteilung der Wohn- und Arbeitsfläche in mehrere Gebäude regelmäßig nach draußen treten muss, wenn man zum Beispiel von der Küche ins Arbeitszimmer oder ins Studio treten will. „Das haben wir bewusst so geplant. Der Innenraum ist nicht besser oder wichtiger als das Draußen. Die Bewegung zwischen Innen- und Außenraum wird so zum Teil des Erlebnisses“, sagt Seo. Generell falle koreanische Architektur und Ästhetik dadurch auf, dass alles etwas weniger studiert, etwas weniger perfekt sei und dass sie eher das große Ganze als viele kleine Details im Blick habe. Choi bringt es auf Italienisch auf den Punkt:
„Molto naturale.“
Das kleine Paradies, das er und Jinnie Seo sich geschaffen haben, hört jedoch nicht an der Grenze von Buam-Dong auf. Das Paar besitzt auch ein Haus am Meer in einem Dorf namens Goseong, an der nordöstlichen Küste von Südkorea. Der minimalistische weiße Bau mit aufgeräumten Betonwänden, klaren Holzböden und direktem Blick aufs Wasser schmückt auch das Cover einer Ausgabe von „Domus Korea“ – die koreanische Version des berühmten italienischen Designmagazins, die Choi in seinem Heimatland lanciert hat. Drei Jahre lang war er zudem Chefredakteur des Heftes. „‚Domus Korea‘ ist für mich meine wichtigste Plattform, um Korea der Welt vorzustellen. Und auch ich lerne durch das Heft immer wieder etwas Neues über mein Land dazu.“ Choi erwähnt den italienischen Architekten Italo Rota, der in der Vergangenheit mehrmals im Jahr nach Seoul gereist ist. „Er lief dann einfach durch die Straßen. Er fand, dass die Stadt voller Energie war.“ Mit der Meinung steht er längst nicht mehr allein da.

Das Objekt gehört zu einem Schaufensterdesign für die Hermès-Boutique in Dosan Park