Kolumne Florentine Joop

Aus Sand

In den alten Bildern der Malermeister symbolisiert die Sanduhr das Vergehen der Zeit. Der Sand verrinnt, die Zeit rieselt, die Figur wird immer mehr zum „Hour-Glass“. Jetzt zeigt sich, wie kostbar Erinnerungen sind, denn bis wir uns in die Herdenimmunität geimpft haben, wird noch sehr viel Sand durch unsere Hände rieseln. Zeit ist kostbar, aber auch im Überfluss vorhanden, wenn man jung ist oder auf etwas so Wichtiges wie Freiheit und Disco wartet. Sand ist im Übrigen auch kostbar geworden. War er nicht auch überall im Überfluss vorhanden, dachte man früher, wird er heute von der Sandmafia teurer gehandelt als GOLD.

Früher war es Friday, I was in Love, jetzt ist es die zweite Impfung und mein zweiter Eintrag ins gelbe Impf-Heft. Übrigens lohnt es sich nicht, den Impfpass zu suchen, man bekommt einen geilen neuen, wo Covid-19 schon eine eigene Spalte hat. Von da an immer mitzuführen, da kann man ja mal über ein neues Accessoire nachdenken. Die I-Pass-Clutch oder das V-Card-Bettelarmband. Der doppelte Eintrag, so kostbar wie die Jugend selbst. Masochistisch, wie man so ist, vertreibe ich die Zeit (nein, nicht MIR!) mit alten Filmen, in denen die Protagonisten Party machen, bis der Arzt kommt. Oder mit mehr als sechs Leuten aus mehr als zwei Haushalten Polonaise tanzen. Oder ohne Atemschutzmaske mit 13 Zwergen und einem Zauberer und einem Halbling durch die Gegend wandern ohne Reisebeschränkungen. Was man so mit Kindern gucken kann, die sowieso vollkommen ungebildet rumhocken und nach einer Woche Homeschooling megagestresst ins Wochenende wanken. „Kumma, da tregt kaina aine Maske!“ – der häufigste Ausruf ebendieser, in der kommenden „Näuen Rächtscheibum“, wenn’s so weitergeht mit dem nicht digitalisierten Unterricht. Ich nerve sie dementsprechend mit dem einzigen Medium, das sie einigermaßen akzeptieren, um ihnen relevante Inhalte über das Leben „früher“ einzutrichtern.

Früher war mehr Rock ’n’ Roll, so viel steht fest. Und das juwelenbesetzte Impfpass-Medaillon, welches schon mal um meinen Hals baumelt, schimmert hoffnungsvoll in die aufgehende Sonne. Welcher Tag ist denn heute? Egal … ich erinnere mich nicht. Dafür habe ich Erinnerungen an andere Zeiten gespeichert und zelebriere sie.

Es gibt diese eine Szene in einem der besten deutschen Filme, die den Begriff „Freiheit“ für mich am poetischsten darstellte. In „Gegen die Wand“ von Fatih Akin läuft „Sibel“, nach ihrer (Fake-)Hochzeit und ihrem ersten One-Night-Stand in gleicher Nacht, in ihrem Brautkleid mit weißer Bomberjacke morgens durch Hamburg-Altona. Ihr Haar weht im Wind, und sie lacht das Lachen, das Frau nur tut, wenn Frau gutgetan wurde. „The Walk of Freedom“ anstatt „Walk of Shame“. Hamburg am Morgen, wenn die ewige leichte Gräue gebrochen wird, durch das crispe, blaue Meerlicht des aufkommenden Tages. Da läuft sie, wie eine kostbare weiße Perle, wo ich die Stadt im Herzen erinnere und meine Sehnsucht sich hinwendet, an den Tagen im gegenwärtigen Jetzt, wenn Brandenburgers Charme und staubig-sandige Fichtenwälder einem auf die Pelle rücken.

Und wie kurz diese Momente der totalen Freiheit sind, in Wahrheit. Versuchst du sie festzuhalten, gleichst du einem Kind, das sich vor seine Sandburg wirft, weil das Meer sich ihrer bemächtigt, und versucht, sie davor zu bewahren, weggespült zu werden. Noch schwieriger ist es nur, sie zu erreichen, und wie unendlich lang es einem vorkommt, wenn man sich eingesperrt fühlt und einem die Aussicht fehlt auf Änderung. Die Erinnerung ist so wertvoll geworden dieser Tage … ein Vorgeschmack aufs (noch höhere) Alter, wenn die einzige Veränderung der Körper ist oder die Sinne, die einen langsam verlassen, und man nur noch in Gedanken im Brautkleid durch die Straßen der Großstadt oder durch den Sand laufen kann. Durch warmen, weißen Sand. Solange es ihn noch gibt.

Florentine Joop, Illustratorin und Autorin in Potsdam
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