„Rücksichtslos und geradeaus malend, Dinge, die noch nie einer sehen und malen konnte“, schrieb Dichter Rainer Maria Rilke über Paula Modersohn-Becker im Jahr 1906. Was machte aber ihre Darstellung – besonders, wenn sie andere Frauen malte – so außergewöhnlich? Wie sieht es mit anderen Vertreterinnen der modernen Kunst aus?
Frauen, die auf Frauen starren

Diese Fragen beantwortet die Fondation Beyeler in Basel. In der Ausstellung „Close-Up“ beleuchtet sie neun Künstlerinnen und wie sich ihre Porträts in den letzten 150 Jahren verändert haben. Es sind die Werke großer Frauen zu sehen: Frida Kahlo, Alice Neel, Marlene Dumas, Cindy Sherman, Elizabeth Peyton, Berthe Morisot, Mary Cassatt, Paula Modersohn-Becker, Lotte Laserstein.

Paula Modersohn-Becker; Öltempera auf Leinwand, 61 x 50 cm, Kunstmuseum Basel, mit einem Sonderkredit der Basler Regierung erworben 1939; Foto: Martin P. Bühler
Ihren Titel leiht sich die Ausstellung aus dem Film, ein „Close-Up“ ist die persönlichste Form einer Nahaufnahme. Diese Intimität ist auch der rote Faden der Schau in Basel. Der „Female Gaze“, also der weibliche Blick auf Personen, ist in der Psychologie und der Filmwelt zu einem wichtigen Konzept geworden – als Antwort auf den legendären Essay von Psychoanalytikerin Laura Mulvey von 1973, die den männlichen Blick von Sigmund Freud und in Alfred Hitchcock-Filmen kritisierte. Was für die Kinobranche eine neue Entdeckung gewesen sein mag, ist in der Kunstwelt offensichtlich schon viel länger gelebt und vor allem gemalt worden, wie die Ausstellung in der Fondation Beyeler beweist.
Was machte diese Künstlerinnen einzigartig?
Im Grunde sind „Close-Up“ neun eigenständige Ausstellungen, vereint in einem Museum. Denn jede Künstlerin bringt ihre eigene Weltansicht mit sich und schafft so einen immer neuen Kosmos, zwischen denen sich der Besucher bewegen kann. Selbstbestimmt, wie es auch die starken Künstlerinnen dieser Zeit im Sinne hatten. So durchschreitet man mit ihnen nicht nur die Kunstgeschichte seit 1870, man begegnet auch den unterschiedlichen Auffassungen der Künstlerinnen von Individualität.
Von Melancholie bis zum wahren Female Empowerment
Frida Kahlo, in der Popkultur berühmt durch die Darstellung ihres Liebeslebens und Schaffens in preisgekrönten Filmen, ist wahrscheinlich die bekannteste Vertreterin. Ihre farbenfrohen Selbstinszenierungen verbinden die Moderne und folkloristische Tradition ihres Herkunftslandes.
Weniger farbenprächtig, aber mit ebenso viel Tiefgang sind die Selbstporträts der eingangs erwähnten Paula Modersohn-Becker. In ihren Bildern zeigt sich eine bedrückende Melancholie, mit der sie sich selbst und ihr Handeln immmer wieder zu kritisieren ersuchte. Der Frage nach der Identität der Frau stellt sich auch Lotte Laserstein, die als Begründerin der Neuen Sachlichkeit gilt und die nach ihrer Emigration nach Schweden aufgrund des Antisemitismus bis zu ihrem Tod als Portätistin arbeitete. Ihr Gemälde „Liegendes Mädchen auf Blau“ (1931) ist der Aufmacher dieses Artikels.

BERTHE MORISOT, LA PSYCHÉ (DER SPIEGEL), 1876; Öl auf Leinwand, 65 x 54 cm, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid
Verträumter wirken die Werke der Impressionistin Berthe Moristo, Ehefrau von Édouard Manet, die bevorzugt elegante Porträts von ihren Schwestern und Nichten anfertigte. Ähnlich zugänglich malte auch ihre Zeitgenossin Mary Cassatt, die aber nicht nur heimische Familiensituationen verewigte, sondern auch mondäne Frauen im Theater darstellte.
Die Königin der Selbstinszenierung
Es sind aber nicht nur Künstlerinnen der Malerei vertreten. Die US-amerikanische Fotografin Cindy Sherman wurde bekannt dafür, sich auf oft humorvolle, aber stets gesellschaftskritische Weise, selbst in ihren Fotos zu inszenieren und mit Rollenbildern und Geschlechterklischees zu spielen.

CINDY SHERMAN, UNTITLED, 2008; Chromogener Farbabzug, 148,6 x 146,7 cm
Sammlung von Carla Emil & Rich Silverstein; © 2021 Cindy Sherman
Um die Werke, die teilweise über 150 Jahre alt sind, in einen modernen Kontext einzuordnen, sprechen wiederum neun bekannte Schauspielerinnen über ihren Einfluss. So blickt Maria Furtwängler auf die Fotografien von Cindy Sherman, Meret Becker analysiert das Leben von Lotte Laserstein in den Roaring Twenties und Martina Gedeck spricht über Mary Cassatt. So nennt Furtwängler die Fassade, hinter der Sherman sich in ihren fotografischen Inszenierungen versteckt, provokativ: „Sie verschwindet in ihren Rollen und unterstreicht damit, wie Frauen in der Gesellschaft oft gesehen oder eben nicht gesehen werden. Bis heute.“
Übrigens: Die inspirierenden, gesprochenen Video-Essays der neun Schauspielerinnen bleiben auch nach der Finissage am 2. Januar 2022 online abrufbar.