Welchen Zweck erfüllt die Haute Couture noch? Vor allem muss sie das überhaupt? Ist es nicht gerade das Wesen dieser höchsten Schneiderei, dass sie zwar auch Kleidung der Happy Few ist, für den Alltag wie im großen Auftritt, aber vor allem dem vermeintlich Unnützem Raum und Traum gibt? Und damit ungeheuren kunsthandwerklichen Fähigkeiten Dasein und Zukunft sichert? Auch dieses Genre schien nüchterner geworden in den vergangenen Jahren. Aber nun, da die Gelegenheiten zurück sind, der öffentliche Blick wieder teilhaben kann an großen Events, kommen die Klunker-Imperien gleichermaßen zu ihrem Begehren wie jene Frauen und vermehrt Männer, die in Extravaganz das gewisse Extra sehen. Und die Zuschauer können einfach eine Runde träumen.  

Die Römerin Maria Grazia Chiuri ist eine starke Frauen-Frau, wie man so schön sagt. Seit Anbeginn ihrer prägenden Ära bei Christian Dior lässt sich die Mutter einer Tochter und eines Sohnes vom Gründer selbst und von interessanten Frauen der Gegenwart und Geschichte inspirieren. Weil es authentisch ist und ihr Stil die Balance zwischen zauberhaft und reell hält, spricht sie andere Frauen generationsübergreifend an. In der Haute Couture geht generell mehr, das Kosten-Nutzen-Thema liegt beim Kreieren nicht mit auf dem Zeichentisch. Bezeichnend für die spielerischen Möglichkeiten ist die Antwort der Designerin auf die Frage, ob wir uns angesichts der hohen (Block-) Absätze ihrer samtenen Sandaletten auf ein Comeback von High Heels einstellen sollten: „Wohl nicht. Ich wollte nur immer schon wunderschöne Schuhe aus Samt und Stickereien anfertigen lassen. Hier war die Gelegenheit.“ Denn die Referenz trug, der erzählerische „Faden“ dieser Kollektion führte zurück in die 20er-Jahre, zu einer Frau, die großen Eindruck bei Chiuri hinterlassen hat: Josephine Baker. Die Idee kam, als sie im Fundus alte Fotos von Auftritten der Sängerin in New York in Dior sah. Chiuri fühle sich zu Baker hingezogen, wie sie sagte, weil die Künstlerin die Macht von Kleidung verstand, um rassistische Stereotypen zu konfrontieren und die Erwartungen an die Geschlechterrollen zu durchkreuzen. Der Smokingmantel erzählt davon. In den 20ern kam Baker erstmals nach Paris und sorgte für Furore in der „Revue Nègre“ und später in den „Folies Bergère“. Die kristallbesetzten Flapper Kleider erinnern daran, die Unterkleider mit Samtüberwurf an die Garderobe hinter der Bühne. Aber es gab auch maßgeschneiderte Anzüge, Kostüme, die weiten Egg-Mäntel der 20er, betörend schlichte säulenartige Abendkleider aus Satin oder Samt – diese Kollektion hat so viel zu erzählen wie die Collagen an den Wänden der Installation im Garten des Museé Rodin. Die amerikanische Künstlerin Mickalene Thomas, selbst eine Frau von großer, mitreißender Präsenz, hatte 13 Fotocollagen geschaffen, in denen sie Baker und ein Dutzend anderer schwarzer Frauen feierte, die in ihrer Welt neue Wege beschritten hatten – wie Nina Simone, Lena Horne, Dorothy Dandridge oder Donyale Luna. Die riesigen, glitzernden Wandbilder waren wieder in der Chanakya School of Craft in Mumbai gestickt worden, auch so eine Frauen-Initiative, der Chiuri treu bleibt.

It’s time to be brave. Es ist Zeit, kühn zu sein. Das waren die Worte, mit denen Schiaparelli-Eigentümer Diego Della Valle seinen neuen künstlerischen Leiter 2019 in Paris begrüßte. Und Daniel Roseberry enttäuschte nicht. Seine Schau war der monumentale, zähnefletschende Auftakt der Haute Couture Woche. Die naturalistisch nachgeformten Tierköpfe wurden zum Aufregerthema der Woche: Naomi Campbell trug einen Wolfskopf am schwarzen Kunstfellmantel, Irina Shayk einen Löwen an der schwarzen Samtrobe und Shalom Harley ein Schneeleoparden-Kunstfelldress. Das empörte Gebrüll in den Echokammern der Sozialen Medien folgte auf den Fuß: Wie kann man nur die Wildtierjagd modisch so verherrlichen? Nichts davon assoziierte man allerdings bei der Show, die Erhabenheit, mit der die Models bedächtig und würdevoll ihre Looks durch das Petit Palais trugen, hatte einen ganz eigenen Zauber. Und vielleicht musste man sich auch eingelesen haben in den Text, der auf jedem der Haute Couture Stühlchen lag. Denn Roseberry hatte sich mit kreativem Zweifel, die jeden Designer angesichts des weißen Blatts Papier einholen, in die Arbeit von Dante Alighieri vertieft. „Die Göttliche Komödie“ mag ein geläufiger Begriff sein, dass Dante im „Inferno“ im grauenvollen Wald auf drei Tiere trifft, nämlich Löwe, Leopard, Wolf, die allegorisch für die menschlichen Sünden stehen, ist schon eher Detailwissen. Dass die Tiere in der Kollektion nicht echte Trophäen waren, sondern ziemlich kunstvolle Handarbeit, muss eigentlich nicht betont werden.

Die Kollektion auf den „Skandal“ zu reduzieren, wäre schade, auch wenn der Skandal zum Wesen der Marke und seiner Gründerin gehörte. Hätte sie so rebellieren können, hatte es damals schon Social Media gegeben? Das samtene Säulenkleid, dessen monatelange raffinierte Stoffbemalung sich erst beim Schreiten schmetterlingsgleich offenbart, der skulpturale Kupferhelm, der den Kopf vollständig verdeckt, die messerscharf definierten Hosenanzüge, die goldene Körperbemalung als Schmuck-Allegorie, der Surrealismus als Marken-DNA trifft auf die kreative Kraft eines feinen, nachdenkenden Designers.

Das Prinzip des „Shocking“ gehört seit jeher zur DNS des Hauses Schiaparelli – und während sich Daniel Roseberry sich immer wieder künstlerisch die Frage stellt, wie man heute in der Mode noch schockieren kann, hat er nun die Antwort. Eine, die auch schon Dante kannte: Bevor man ins Paradies gelangt, muss man durch die Hölle gehen.

In der Garde républicaine trainiert üblicherweise die französische Kavallerie, doch an diesem Abend ließ Giorgio Armani seine Harlekine hier laufen. Boden und Wände im pastellfarbenen Rhombenmuster echoten die Einladung zur Privé-Präsentation. Und getreu Armanis Erfolgsdevise „ganz oder gar nicht und so wie ich es für richtig halte“, tauchte das Thema in allen diamantbesetzten und seidigen Variationen auf, unverkennbare Armani-Signatur, erhaben auf High Heels präsentiert. Zauberinnen und Fabelwesen bei Chanel, Dantes Höllenweg-Tiere bei Schiaparelli und hier die Harlekinnen – die Haute Couture ist nicht so weltfremd, wie man meinen könnte. Pastell statt bunt, aber auch nicht weiß wie der Clown, stattete Armani seine Idee aus, weil es die Farben des Wassers von Venedig zu einer gewissen Jahreszeit reflektiert. Jenem Venedig, wo der Harlekin ursprünglich in der Commedia dell’arte zu Hause war. Dass die Farben nicht so grell sind, wie man bei dem Thema erwarten würde, deutet auf die Ränke, für die Harlekin ja steht. Und vor allem, wie Giorgio Armani zitiert wird: „Er ist ein komplexer Charakter, der nicht nur Lachen und Kichern mit sich bringt, sondern auch eine leichte Melancholie.“ Und damit wären wir auf dem (eleganten) Hufschlag wieder in der Gegenwart. 

Also, ein „spontanes Dorffest“, wie es von Virginie Viard zitiert wurde, weckt beim Durchschnittskonsumenten womöglich eine andere Assoziation als bei der Designerin von Chanel. Aber man war sehr gern dort zu Gast. Und die Vorstellung, dass einem Trojanischen Pferd keine Bedrohung, sondern nur Schönheit entsteigt, ist eine tröstliche Vorstellung. Überhaupt lag Zauber in der Luft und im Kreativen. Vor Showbeginn standen, instagrammable, nur zwei der meterhohen Fantasiewesen, die Xavier Veilhan aus Holz, Pappe und Papier geschaffen hatte, im großen Raum des Grand Palais Éphémère. Doch dann begann die Musik und die großen Kollegen wurden einzeln hineingeschoben: Vogel, Stier, abstrakte, schöne Kreaturen. Der Vogel weitete sein Gefieder und das erste Model trat heraus aus der kleinen Tür, Tier um Tier ging es weiter, und so kindlich-bezaubernd die Inszenierung, so heiter und mädchenhaft  war die Kollektion. Die Girlies sind erwachsen geworden, tragen aufwendig produzierte, handgenähte und -bestickte Stoffe, aber immer noch (ausladenden) Mini und flache Schnürstiefelchen. Dazu Zylinder, nicht die steifen aus Ascot, sondern derart, wie Zauberer sie bei Netflix tragen. Zirkusdirektorinnen in einer Fabel (haften) Manege.  

Am Ende des Defilees trudelte noch eine Art Elefant aufs Fest, herauskam das deutsche Model Anna Ewers. Als Braut im Mini. Ein Happy End in Filmen (und im Leben) hinterlässt ein kostbares Gefühl: Freude. Hier war es auch so.

Cosmos calling. Rahul Mishra ist der erste Inder, der seit drei Jahren Gast der Pariser Haute Couture ist. Er malt mit Stickereien. Kleider und Bodysuits, auf denen der gesamte Kosmos in Miniatur mit Perlen, Swarovski-Kristallen und recyceltem Messing dargestellt ist: Sternenbilder, Planeten, Fische, Vögel, Blumen, Bäume und auf dem Kopf stehende Wolkenkratzer-Skylines. Schon der Eröffnungslook gab das Thema vor: Eine Robe wie ein gesticktes Wimmelbild à la Hieronymus Bosch. Myriaden von Mini-Details, die auf den ersten Blick gar nicht zu erfassen sind. Mehr als 3000 Handarbeitsstunden stecken allein in dieser Robe. Hinter seinen überbordenden Kleiderbildern stehe aber keine niederländische Maltradition, so erklärt der Designer, sondern die Sanskrit-Weisheit „Aham Brahmasmi“, die so viel bedeutet wie „Ich bin der Kosmos“. Sie meint die Einheit der Seele mit dem Kosmos, in dem sich das ganz Große im ganz Kleinen und umgekehrt offenbart. Sein Couture Haus aus Delhi habe sich nicht nur der Schönheit, sondern auch einer nachhaltigen Unternehmensphilosophie verschrieben: Um die Landflucht und die Überfüllung der Städte einzudämmen, trüge er die Handarbeitstradition zurück in die Dörfer Indiens, wo jetzt schon über 1000 Menschen von ihm beschäftigt werden.

Einmal zum Regenbogen, bitte! Während Elie Saab auf sanfte Puder- und Pastelltöne setzte, lässt es sein jüngerer Beiruther Kollege Zuhair Murad farblich krachen. Eine regelrechte Farborgie in allen Regenbogenfarben, die erst die weiße Braut im letzten Look wieder erdete. Die Plumassiers, die Federkünstler in Murads Atelier, hatten diese Saison besonders viel zu tun: Üppige Federärmel, gefederte Rocksäume und Schulterpartien brachten alten Hollywood-Glanz à la Rita Hayworth in das prunkvolle Pariser Stadtpalais Potocki.

Auf dem Königsweg. Der libanesische Couturier, der seit Jahrzehnten so verlässlich wie meisterhaft die verschwenderischen Traumroben für die Roten-Teppich-Momente der gefühlten und echten Prinzessinnen von Amerika bis Asien schneidert, führte bereits letzten Sommer das männliche Pendant dazu ein und beschreitet den Weg nun konsequent weiter: Sechs der insgesamt 69 Looks zeigen, wie Saab sich Haute Couture für Männer vorstellt, kreuzte multiethnische Kleidungsgewohnheiten: Das indische Sarituch, das diagonal über Brust und Schulter getragen wird, kombiniert er mit üppig bestickten indischen Herrenwesten, europäische Smokinghosen mit Königsschleppen, Gehröcke mit chinesischem Mao-Kragen, Bischt-artige Mäntel, wie sie die Männer am Golf tragen mit Hemden, deren Schalkragen wie locker fallende Krawatte geknotet werden.  

Indien scheint ihn auch bei den Damen inspiriert zu haben: Zum ersten Mal zeigte er auch Sari-artige Wickelroben in sanften Pudertönen, mit viel Glitzer und Stickereien. „Die Menschen, die zu uns kommen, wollen spektakulär gekleidet sein – das gilt heute für Männer und Frauen gleichermaßen.“  

Club Couture. Das Leben als Party ist auch das Thema von Pierpaolo Piccioli bei Valentino. Im Gewölbe des „Bridge Club“ unter der Brücke Alexander III. ließ er die Codes der Couture und der Clubkultur aufeinandertreffen. Ein bisschen 80er Jahre Nostalgie hing in der Luft und im Soundtrack, aber auf eine innovative Weise, die der Haute Couture eine neue Perspektive gibt: Willkommen bei denen Neo-New Romanticsà la Valentino. Zur Musik von Visage „Fade to Grey“ verschwimmen Epochen, Geschlechter und Kontext. Er setzt die Haute Couture, per definitionem ein elitäres Universum, in den egalitären Kontext der Clubkultur, in der nicht Status, sondern die individuelle Freude am Kleiden, Verkleiden und am Rollenspiel zählt. 

Es gab ein Wiedersehen mit Irokesen-Frisuren, dramatischen New-Romantic-Make-Ups, Harlekin-Strumpfhosen und -Rüschenkragen à la Steve Strange, dem Sänger von Visage. Polka-Dots und diagonale Blockstreifen in der in den 80ernebenso beliebten Farbkombination Rosa und Schwarz. Großartige Schneiderkunst und eklektizistische Looks, die mit klassischen Valentino-Details wie den monumentalen Schleifen, Volant-Drapierungen und natürlich den Valentino-roten Taftroben kombiniert werden – und die ganz genderfluid eingesetzt werden. 

Der Mann ist auch bei Valentino längst in der Haute Couture angekommen. 16 der 89 Looks widmete er den Männern, obwohl die Geschlechtergrenzen bei ihm so klar nicht mehr zu ziehen sind, sowohl bei den Models als auch bei den Looks. Androgyne Frauen tragen Krawatte, Oversize-Smokingjackettüber Mini-Schleifenshorts – und ebenso androgyne Männer zeigen Bein und Dekolleté: Unter transparenten, bestickten Tüllmänteln oder Oversize-Blazern tragen sie knappe Höschen wie ein Hauch von Nichts. Couture, die nach Belieben die geschlechtliche Codierung wechseln kann. 

So divers sah dann auch das Publikum bei der Aftershow-Party im Pariser Kult-Etablissement „Maxim’s“ aus, bei der das lebende, non-binäre Kunstwerk Daniel Lismore zu Gast war. Sein Lebensmotto heißt: „Sei Du selbst, alle anderen gibt es schon.“ Passt.

 

WEITERE HIGHLIGHTS

IRIS VAN HERPEN ‚CARTE BLANCHE‘ COUTURE VIDEO SS23
Viktor & Rolf Haute Couture Ss23
STEPHANE ROLLAND HAUTE COUTURE SS23
Rahul Mishra Haute Couture Ss23
STEPHANE ROLLAND HAUTE COUTURE SS23
Viktor & Rolf Haute Couture Ss23
Viktor & Rolf Haute Couture Ss23
STEPHANE ROLLAND HAUTE COUTURE SS23
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Inga Griese & Silke Bender
LAYOUT
Donnya Torkaman