Was passiert gerade? Wie gehen wir damit um? Und können wir daran wachsen? Hier geben die großen Kreativen der Mode Antworten.
State of Fashion
Giorgio Armani: Mehr Realität
Nach Jahren intensiven Marketings und exzessiver Kommunikation beginnen wir nun, die Authentizität wiederzuentdecken und zu verstehen, was wahrer Luxus ist: die Freiheit, nach draußen zu gehen, zu reisen, unsere Freunde und Lieben zu sehen. In diesem Zusammenhang werden wir in Zukunft vielleicht eine ganz andere Einstellung zu Luxusgütern haben. Wir werden vielleicht die einfachen Dinge des Lebens mehr schätzen, und wenn wir in Zukunft etwas kaufen wollen, werden wir dies wohl überlegter und mit mehr Rücksicht tun und sie dafür umso mehr schätzen. Wir haben jetzt die Gelegenheit, alles zu verlangsamen und neu auszurichten, eine sinnvollere Landschaft zu definieren und letztlich die Mode der Realität näher zu bringen. Luxus gewinnt jetzt wieder seine wahre Bedeutung: schöne Dinge, die mit größter Sorgfalt hergestellt wurden und von Dauer sein sollen, Dinge, die in der nächsten Saison nicht weggeworfen werden. Was auch auf eine nachhaltigere Art des Einkaufs hindeutet, die weniger umweltschädlich ist.
Alessandro Michele, Gucci: Eine Art Religion
„Ich bin so viele Jahre in der Mode und frage mich: Warum mache ich diese Schauen wieder und wieder? Sie sind sehr ermüdend. Es ist ein Ritual. Fast religiös. Und in dieser merkwürdigen Welt ist es sehr wichtig, Rituale zu haben. Ich würde immer weitermachen“, sagte Alessandro Michele nach der Präsentation seiner Herbst-Kollektion im Februar in Mailand. Einige Wochen später kündigte er in einem Videocall aus seinem römischen Büro an, dass Gucci erst mal nur noch zwei Schauen im Jahr zeigen wird. „Ich brauche mehr echte Zeit, mehr Fürsorge. Und die Mode, die Konsumenten profitieren davon, wenn die Teile länger in den Geschäften verweilen und mehr gewürdigt würden. Weil mit der Konzentration die Freude am Detail zurückkommen kann. Ich hatte immer großes Interesse an Veränderung, weil das ja auch eine beglückende kreative Unruhe mit sich bringt. Aber diese Krise hat die Notwendigkeit zur Transformation in der Mode beschleunigt. Sie darf nicht mehr aufgeschoben werden.“
Lucie und Luke Meier, Jil Sander: Zeit und Geist
Für die Sommerkollektion wollten wir unsere astrologischen Zeichen in irgendeiner Weise einbeziehen, also beschlossen wir, eine Version zu erarbeiten, die vom Wiener Stil des frühen 20. Jahrhunderts inspiriert ist. Dieses Kleid zeigt Fische, das Zeichen von Lucie, und wir haben auch einen anderen Druck in einem ähnlichen Stil, der Jungfrau, das Zeichen von Luke, zeigt. Die Form dieses Kleides ist uns wichtig, während die Kontur klar ist und das Material delikat ist, zeigt die Plissee-Konstruktion des Rocks. Diese Kombination von Reinheit und Stärke ist fundamental für unsere Arbeit.
Donatella Versace: Ohne Angst
Gesundheit, Wohlstand, Menschenrechte, Einheit, Unterstützung, Natur, Saisonabhängigkeit. So vieles ist in den letzten Monaten in allen Ecken des Globus zutage getreten. Es gibt so viel zu bedenken. Wir sind gerannt, als wir innehalten mussten. Jetzt ist es Zeit, zurückzublicken, zu meditieren und vorwärtszugehen. Viele werden die Rolle der Mode bei alldem vielleicht noch einmal überdenken. Ich habe sicherlich bei mehreren Gelegenheiten darüber nachgedacht. Ich glaube, dass wir jetzt die Chance haben, den Unterschied zu machen, das Leben künftiger Generationen positiv zu beeinflussen. Es liegt in unserer Verantwortung, den Planeten zu bewahren, die Menschenrechte zu fördern und die Grundlage für ein besseres Leben zu schaffen. Die Mode hat viel zu tun, sie ist ein mächtiges Mittel, das Ideen und Prinzipien eine Stimme verleihen kann. Ich bin bereit, mich dafür einzusetzen. Das ist es, wofür Versace steht. Ich habe keine Angst davor, es zu wagen, zu provozieren, zu schwelgen, die Dinge von der positiven Seite zu betrachten und etwas zu verändern.
Maria Grazia Chiuri, Dior: New Look 3.0
Monsieur Dior sagte 1947, dass Frauen wieder Schönheit verdienen. Sein New Look war eine Reaktion auf einen schrecklichen Krieg, der die Welt und Paris auseinandergerissen hatte. Der New Look entstand aus Christian Diors Obsessionen für die schönen Dinge, die es ihm erlaubten, diese schwierige Zeit zu überstehen: die Erinnerung an die Blumen in seinem Garten in Granville, die widerstandsfähige Weiblichkeit der Frauen in seinem Leben (seiner Mutter und seiner Schwester), der Wunsch, die Welt neu zu färben und das Grau des Krieges zu beseitigen. Wir leben in einer Zeit der Einschränkung und Ungewissheit: Wir wissen immer noch nicht, wie und wann wir aus dieser Situation herauskommen werden, und wir können auch keine Vorhersagen machen. Aber es mit einer Zeit des Krieges zu vergleichen ist vielleicht falsch – das Leid, das wir empfinden, hat nichts mit dem des Krieges zu tun, das sich viele von uns nicht einmal vorstellen können. Die Lockdown-Erfahrung hat uns verändert und wird uns auch weiterhin prägen, sie ist nicht vorbei. Daher ist es schwierig, mit dem normalen Bewusstsein diese kritische Zeit zu erfassen. Ich war mit meiner Familie in meinem Haus in Rom. Es war eine besondere Erfahrung, nicht so viel wie sonst üblich reisen zu müssen und doch einen kontinuierlichen und direkten Kontakt, wenn auch auf Distanz, mit den Menschen zu haben, die mit mir arbeiten. Es war sehr bereichernd. Ich habe viel gearbeitet, aber auf eine andere Art und Weise und in einem anderen Rhythmus, was es mir ermöglichte, einige meiner anderen Interessen zu vertiefen. Viel zu lesen. Fernsehsendungen anzusehen. Sobald es möglich war, von einer Region in die andere zu reisen, fuhr ich in die Toskana, um mir einige Kollektionsmuster anzusehen, etwas, was ich schon lange nicht mehr getan hatte. Und das erinnerte mich an den Anfang meiner Karriere, als ich alle Produktionen direkt verfolgte.
Miuccia Prada: Mode ist mein Zeitgeist
Ich versuche durch meine Mode der zeitgenössischen Frau Ausdruck zu verleihen. Denn Mode ist mein Instrument. Wenn die Leute an Mode denken, bevorzugen sie immer deren verrückte, klischeehafte Seite. Aber ich glaube, das ist so nicht richtig. Mode ist ein wichtiger Aspekt im Leben einer Frau, und sie trägt dazu bei, zu definieren, wer diese Frau in genau diesem Moment ist.
James Ferragamo: Die neue Normalität
Unsere Zeit, die wir zu Hause verbrachten, war einzigartig. Diese Situation hat uns sicher gelehrt, die Dinge nicht als selbstverständlich hinzunehmen und dass wir trotz aller Fortschritte nicht unbesiegbar sind. Dass ein Virus ausreicht, um unser tägliches Leben vollständig zu stören. Ich glaube fest an unsere Anpassungsfähigkeit und unseren Überlebensgeist als menschliche Wesen. Die Lebensstile werden sich sicherlich ändern, die Mode wird sich an neue Gewohnheiten anpassen müssen. Die soziale Distanzierung hat fast vergessenen Gefühlen neues Leben eingehaucht. Wir werden uns nach wie vor auf Qualität konzentrieren und sie durch eine bequemere, zurückhaltende Ästhetik und Sinn für Leichtigkeit auf den neuesten Stand bringen. Die Entdeckung, dass wir verletzlich sind, hat uns verändert, und ich glaube, wir alle sind begierig darauf, zu einer neuen Normalität zurückzukehren, mit sozialer Verantwortung und Respekt für die Umwelt. Bestimmte Trends, die mit Protzerei verbunden sind, könnten verschwinden oder verblassen. Die Nachwirkungen dieser Notlage werden für alle eine große Herausforderung darstellen, aber der Wunsch nach Schönheit wird unser Wiederaufleben antreiben. Trotz des Traumas müssen wir den Schock überwinden, wieder auf die Beine kommen. Und wie? Indem wir unsere Kräfte bündeln, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten. Als Italienerinnen und Italiener ist die Arbeit im Team nicht unsere größte Stärke, aber außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, und wir brauchen alle, die ohne Hast ihr Bestes geben.
Martina Buckenmeier, Riani: Impuls
Wir arbeiten mit italienischen, französischen und spanischen Webern zusammen, weil sie hochwertige Qualitäten liefern können. Die hatten es jetzt schwer genug, und wir bleiben zuverlässig. Deswegen haben wir im Gegensatz zu vielen unsere Cruise-Kollektion vorgestellt, die dann im November ausgeliefert wird. Wir haben auch bewusst in der Schnittabteilung nicht abgebaut, und wir halten viel von Individualität und bleiben bei Größen von 32 bis 48. Denn es gibt viele tolle Frauen, die von der Normgröße nach unten und nach oben abweichen. Das Leben kann nicht in Tristesse versinken. Also haben wir zwar gemütliche Teile für zu Hause, aber eben auch Anlasskleidung vorgestellt. Wenn das Virus irgendetwas Gutes hatte, dann die Besinnung auf Qualitäten und Nachhaltigkeit, ganz in unserem Sinne von länger tragbar.
Michael Kors: Alles auf Anfang
Ich habe lange Zeit gedacht, dass sich der Modekalender ändern muss. Für mich ist es aufregend, den offenen Dialog innerhalb der Modewelt über den Kalender zu verfolgen – von Giorgio Armani über Dries Van Noten zu Gucci und YSL bis hin zu den großen Einzelhändlern rund um den Globus. Über Möglichkeiten zu sprechen, wie wir den Prozess verlangsamen und unsere Arbeitsweise verbessern können. Wir alle hatten Zeit, über die Dinge nachzudenken und sie zu analysieren, und ich denke, viele sind sich einig, dass es Zeit für eine neue Ära ist. Es ist unbedingt notwendig, dass wir dem Verbraucher Zeit geben, die Herbstlieferungen, die erst im September eintreffen werden, zu absorbieren und sie nicht mit einer Überfülle an zusätzlichen Ideen, neuen Jahreszeiten, Produkten und Bildern zu verwechseln. Vor den späten 90er-Jahren wurden in New York die Frühjahrskollektionen zwischen Ende Oktober und Anfang November gezeigt, nach Paris. Dieser Kalender existierte viele Jahrzehnte lang und funktionierte recht reibungslos, und gerade in diesem Zeitalter mit der Geschwindigkeit der sozialen Medien ist es für mich logisch, dass die Kollektion näher an dem Zeitpunkt gezeigt wird, an dem sie ausgeliefert wird, dass September und März Schlüsselmonate für den Beginn des Saisonverkaufs sind. Das ist der Zeitpunkt, an dem das Wetter anfängt, sich zu ändern, und die Menschen bereit sind für neue Kollektionen und Produkte. Ich glaube, dass diese Änderungen längst überfällig sind und eine enorme Winwin-Situation darstellen werden, vor allem für den Konsumenten.
Antonia Zander, Kaschmirunternehmerin: Durchgehalten
Vor 15 Jahren war Sustainability noch kein marketingrelevanter Begriff, und selbst auf der Pitti Filati in Florenz wurde meine Frage nach der Herkunft der Garne falsch verstanden: Ich erkundigte mich nach dem Wohlergehen der Kaschmirziegen, und mir wurde stattdessen versichert, dass die Fasern nach der europäischen Chemikalien-Verordnung behandelt wurden und damit unbedenklich für den Träger wären. Doch für mich stand immer ein respektvoller Umgang mit Natur, Tier und Mensch im Vordergrund. Die Menschen fand ich schon in den 80er-Jahren, als meine Mutter mich zu italienischen Strickereien mitnahm. Bis heute haben sich diese Firmen kaum verändert. Vielleicht sind die Maschinen moderner, und die Frauen rauchen nicht mehr bei der Arbeit, aber in jeder traditionellen „Maglieria“ gibt es noch den „Capo“ (gut aussehender älterer Italiener mit unerschöpflichem technischem Know-how und genauso viel Charme), die resolute „Mamma“ (schmeißt eigentlich den Laden und hortet ein Archiv mit sämtlichen Kaschmirmodellen der letzten 60 Jahre von Cucinelli, Malo, Prada & Co.), mehrere erwachsene Kinder (kümmern sich um E-Mail-Anschluss und Social Media), mindestens zwei Hunde und natürlich viele fleißige Strickerinnen, „Hände und Seelen“ der Manufaktur, die dort mit 16 anfangen und frühestens mit 68 aufhören. Seit 2005 arbeite ich selbst mit diesen Menschen zusammen: Sie trauen sich an feinste Naturgarne, die eben nur von Italienern so fachmännisch ausgerüstet werden. Hier wird auch mal nur ein einziger Pullover in Wunschfarbe und auf Maß gestrickt. Italien bleibt das Land der Emotion und des Handwerks – wo könnte Mode also besser aufgehoben sein? Grad sitze ich bei Gewitter mit einem Cappuccino unter der Pergola eines italienischen Landguts, dessen Schönheit einem die Sprache verschlägt (reschio.com), und blicke auf toskanische Hügel. Ob es sich also gelohnt hat, durchzuhalten? Sì, chiaro!