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Die Städterin

Stadt, Land, Frust – bleiben oder gehen?

Selbst Anbahnungsversuche geschehen derzeit unter nachhaltigen Gesichtspunkten: In einem Beitrag für die amerikanische Podcast-Reihe „This American Life“ schildert die Autorin Elna Baker die Begegnung mit einem maskierten Fremden in einer New Yorker U- Bahn-Station. Er will sie nicht überfallen, sondern machte ihr folgendes Angebot: „Ich habe gerade einen Bauernhof in Upstate New York gekauft, baue dort mein eigenes Obst und Gemüse an. Nun schaue ich mich nach einer Frau um, die mit mir dorthin ziehen möchte. Wären Sie interessiert?“ Sie ist es nicht.

Aber, das Ende aller Tage scheint nahe, wenn in New York frische Luft, Platz und Selbstversorgertum den guten Job, die zentral gelegene Wohnung und den Tisch im angesagten Restaurant ausstechen.

In dieser neuen Welt müsste die Serie „Bauer sucht Frau“ mangels Realitätsnähe eingestellt werden. Eine vielversprechenderes TV-Format wäre dann „Stadtbewohnerinnen hauen und stechen sich um einen Biobauern“ – als echte wie metaphorische Schlammschlacht. Fluchtfantasien – und manchmal auch deren Erfüllung – stehen derzeit hoch im Kurs. Und in Zeiten wie diesen erwächst aus dem persönlichen Unbehagen hin und wieder ein nicht ganz brandneues Konzept. Grob gesagt lautet das so: Stadt böse, Land gut. Stadt Vergangenheit, Land Zukunft. Von den Wandervögeln bis zu den Hippies, von den Hockey Müttern bis – ganz aktuell – den Immobilienmaklern hat dieses Sentiment mit Potenzial zur Ideologie immer mal wieder Konjunktur. So wie jetzt gerade. Die Stadt hat ein Imageproblem – und das ist Grund zur Hoffnung.

Denn wann waren Metropolen wie Paris, Rom, London, Berlin oder New York am spannendsten? Jedenfalls nicht mehr in der Zeit unmittelbar vor Corona. Ehrlich gesagt, war es streckenweise kaum noch zum Aushalten: Die urbanen, westlichen Sehnsuchtsorte verkamen nach und nach zu mehr oder weniger kostspieligen Freiluftmuseen, deren Unterhaltungswert sich paradoxerweise aus ihren längst vergangenen Heydays ableitete, als der Massentourismus und die Investoren um sie noch einen Bogen machten. Diejenigen, die sie jetzt auf der Suche nach der heileren Welt verlassen, handeln unter Umständen ähnlich wie Menschen, die ihre Aktien abstoßen, wenn der Markt bereits eingebrochen ist: emotional und mit wenig Weitsicht.

Mit 14 Jahren, auf der obligatorischen Klassenfahrt ins damalige West Berlin, entschied sich Heike Blümner, dass sie sobald als möglich dort hin ziehen würde. Aufgewachsen in einer Kleinstadt, in der Nähe von Düsseldorf, mit Haus und Garten und all derlei gedeihlichen Dingen, wollte sie dennoch vor allem: weg dort. Als es dann fünf Jahre später soweit war, war praktischer Weise auch die Mauer gefallen und die Stadt ein großer Spielplatz. Drei eigene Kinder später weckt das Wort Spielplatz heute völlig andere Assoziationen und das Leben in einem Innenstadtbezirk schmeckt nicht mehr nur nach Freiheit und Abenteuer. Dennoch fühlt die Textchefin von ICON sich hier nach wie vor bestens aufgehoben.

Auch ich liebe die Natur und hätte sie jetzt in diesem Moment wirklich sehr gern direkt vor meiner Haustür. Ein Pärkchen ersetzt keinen Wald. Hier in Berlin sieht es derzeit nicht nur jahreszeitlich bedingt zum Davonlaufen aus. Auf den Straßen starren einen jeden Tag mehr stillgelegte Ladenlokale an, Lieblingsorte sind plötzlich verschwunden. Die Großstadt ist zu Corona-Zeiten besonders kräftezehrend, weil hier schlechter übertüncht und versteckt werden kann, welche brutalen Spuren die Pandemie hinterlässt und wie das Leben in Wirklichkeit ist: unordentlich und unvorhersehbar. Ja, auch außerhalb der Stadt bangen viele um ihre Existenzen, verlieren Menschen ihren Job, verzweifeln Eltern und Kinder an den Anforderungen des Homeschoolings, aber das Kino oder das Restaurant, um das es sich zu trauern lohnt, hat dort schon vor Jahren aufgegeben. Vielleicht ändert sich das ja nach Corona alles, wenn die städtischen Pilger aufs gelobte Land dort kulturelle Begegnungsstätten und nette Cafés eröffnen. Wenn die Landbewohner, anstatt zehn Kilometer mit dem Auto zum nächsten Discounter zu brettern, beim neu eröffneten, gut sortierten Dorfsupermarkt und beim regionalen Metzger einkaufen. Wäre ja möglich. Die Chance jedoch, dass die schönste und verlässlichste Veränderung auf dem Land weiterhin die vier Jahreszeiten sind, ist jedoch unweit höher. Denn darum ziehen Leute ja dorthin – und pendeln für ein Fünkchen Nervenkitzel hin und wieder in die Stadt.

Die Chance jedoch, dass die schönste und verlässlichste Veränderung auf dem Land weiterhin die vier Jahreszeiten sind, ist jedoch unweit höher. Denn darum ziehen Leute ja dorthin – und pendeln für ein Fünkchen Nervenkitzel hin und wieder in die Stadt.

Wie es dort weitergehen wird Jedenfalls nicht wie vorher. Büro-Architektur erscheint auf einmal zwar nicht komplett überflüssig, aber übertrieben raumeinnehmend. Was macht man damit? Wie wird der Einzelhandel sich neu erfinden? Welche Restaurants eröffnen?

Der Hunger nach anderen Süppchen als die, die man gerade selber kocht, ist groß. Nach Kunst, Kultur und Vergnügen ebenfalls. Das Bedürfnis nach weniger Verkehr und mehr Grün in der Innenstadt ist nicht mehr nur da, sondern wird wohl endlich auch gestalterische Folgen haben. Und dass das Unterrichtssystem modernisiert werden muss, hat wohl inzwischen auch jeder mitgekriegt. Die Zukunft der Stadt – in den letzten Jahrzehnten ein Dauerthema bei wohlmeinenden Symposien – wird sich nun vor unseren Augen als Praxisseminar abspulen. Was vermutlich nicht in Hülle und Fülle vorhanden sein wird, ist Geld. Man muss nicht das etwas ausgeleierte Wowereit-Bonmot von „arm, aber sexy“ bemühen. Arm sein ist nie sexy, aber Saturation macht nicht selten träge. Die Pandemie ist auch ein kräftiger Tritt in den Hintern. Weniger Geld an den richtigen Stellen könnte befreiend wirken. London ist das beste Beispiel dafür, wo Teile der Innenstadt vor fragwürdigem Reichtum regelrecht erstarrt sind. Doch nun, erstmalig seit 1988, verliert die britische Hauptstadt Einwohner – zu Hunderttausenden. Wird dadurch wieder mehr Freiraum sein? Werden sich mehr junge Leute ansiedeln können, die London seine einzigartige kreative Kante geben? Die Chancen stehen nicht schlecht. Höchstens der Brexit könnte dem noch einen Strich durch die Rechnung machen.

Der amerikanische Komiker Jerry Seinfeld hat bereits vergangenen Sommer all denen, die den Big Apple verlassen haben, in der „New York Times“ hinterhergewinkt: „Echte, inspirierende, menschliche Energie existiert dann, wenn wir an verrückten Orten wie New York City aufeinander hängen. Sich selbst bemitleiden, weil man gerade mal nicht ins Theater gehen kann, ist nicht die Art von Charakterzug, die New York zu dem brillanten Diamanten gemacht hat, der er eines Tages wieder sein wird.“ Das Ende aller Tage ist in Wirklichkeit der Anfang von etwas Neuem. Und klar: Im Sommer besuchen wir euch gern für ein Wochenende auf euren neuen, Landlust-artigen Anwesen mit englischem Garten. Und falls es doch nur zur Wohnschachtel mit Grünfläche gereicht hat, kommen wir trotzdem gern und unterhalten euch mit Klatsch und Tratsch aus der ehemaligen Nachbarschaft.

Denn auch die Stadt ist oft nur ein ganz kleines Dorf.

 

Text
Heike Blümner