CONTRA

Der Kleinstadtbewohner

Stadt, Land, Frust – bleiben oder gehen?

Der schönste Moment jeden Tages: sein Beginn. In der Stille unseres Schlafzimmers zu erwachen, dankbar, dass ich noch da bin, den Streitereien der Amseln zu lauschen, aufzustehen, meinen Körper ausgiebig eiskaltem Wasser auszusetzen, ein Buchenholzfeuer im Arbeitszimmer zu entfachen und mich sodann an meine Arbeit zu machen. Das ist der größte Lohn des Lebens „auf dem Lande“.

Die von der Pandemie ihrer urbanen Betriebsamkeit grausam beraubten Großstädte zu verlassen, das wünschen sich jetzt viele. Wir aber wohnen schon lange in der oberbayerischen Provinz, und wenn ich wissen will, wie lange genau, muss ich nur unseren Sohn anschauen. Er ist kürzlich sechzehn geworden und kein geborener und schon gar kein Geborener, aber immerhin ein gebürtiger Hamburger. Wohlwollend ruhten die Augen unserer Vermieterin auf dem süßen Neugeborenen. Weniger Zuspruch allerdings fand sein Vater, der ihn im Indianertuch nach draußen trug, um ihm die für sein Gedeihen nötige Portion blaues Hamburger Himmelslicht zukommen zu lassen:

Oft trat die Vermieterin dann aus ihrer Erdgeschosswohnung, um mich darauf hinzuweisen, dass meine Ledersohlen auf der nur gefliesten Betontreppe zu laut seien und warum ich nicht Turnschuhe trüge, wie jeder normale Mensch meiner Generation?

Wenn die fahrstuhllose Maisonette-Wohnung ohne Balkon wenigstens billig gewesen wäre, hätte man vielleicht drüber reden können. Unten rasten die Autos über das Kopfsteinpflaster. Wir brauchten etwas anderes, fanden aber, zumal mit dem ersten Sprössling, dass Wohneigentum für eine Künstlerfamilie keine schlechte Idee wäre. Aber die Preise in der Metropole waren für uns schon damals unbezahlbar.

Dann aber erzählte uns meine Mutter von einem Bungalow aus den Sechzigern, genau in jenem Viertel in jener Stadt, in der ich aufgewachsen war und die ich mit Anfang zwanzig hinter mir gelassen hatte. An einem nassgrauen Spätwintertag besichtigten wir das Haus, das etliche Monate unbewohnt, kalt und ungewöhnlich geschnitten war – das Wohnzimmer groß wie ein Ballsaal, die Schlafzimmer klein. Der Garten war eine Wildnis, die riesigen Bäume verdunkelten die Räume. Aber irgendetwas gefiel uns. Wir kratzten unser Erspartes zusammen, bekamen (aber nur durch die Bürgschaft meiner Eltern) trotz Künstlertum einen Kredit und nach beinah zwanzig Jahren in deutschen Metropolen zogen wir mit unserem Baby, hundert Bücherkisten und den Ikea- Möbeln des letzten Jahrzehnts – nein, nicht „aufs Land“, sondern in eine Kleinstadt, gut vierzig Kilometer nördlich von München.

Die ersten paar Jahre führten wir das Leben einer typischen jungen Familie, die zwar aus der Metropole herausgezogen ist, aber beruflich weiterhin am Tropf der Großstadt hängt. Wir hatten zwar jetzt ein eigenes Haus, aber meine Frau verbrachte mehr Zeit mit Kollegen, Pendlern, Zugschaffnern oder auf der lebensgefährlich überfüllten A9 als mit unserem Sohn. Auch ich vermisste sie oft schmerzlich. Aus beiden Welten, Metropole und Provinz, hatten wir das jeweils Schlechteste gezogen – den Stress hier, die Langeweile dort. So dürfte es allen gehen, die ihr Haus „auf dem Land“ nur als Standort sehen, an dem man für einen immer noch günstigen Quadratmeterpreis ein Eigenheim und eine riesige Garage, geschotterte Vorgärten und einen Whirlpool hinterm Plastikzaun haben kann.

Wir fühlten uns bald abgehängt, als hätten wir uns selber ausgetrickst, wären tatsächlich in der sprichwörtlichen öden Provinz gelandet. Wir hatten nur die Adresse gewechselt, waren aber noch nicht angekommen.

 

Gemäß dem Gedanken des französischen Dichters Yves Bonnefoy, demnach man ‚das Kind seines Kindes‘ sei, war es dann unsere Tochter, der wir das endgültige Ankommen verdanken. Nach der zweiten Elternzeit war uns klar, dass meine Frau auf keinen Fall mehr an ihre alte Stelle zurückkehren, aber auch keine andere in München suchen sollte – sondern, dass wir hier bei uns nur wirklich glücklich werden könnten, wenn wir anfingen, uns von der Großstadt unabhängig zu machen – physisch, aber auch mental-kulturell.

Diese Unabhängigkeit aber musste erarbeitet werden – nicht nur, indem wir beide nun von zu Hause aus unserer Erwerbstätigkeit nachgingen, das berühmte Homeoffice, das heute so vielen erstmals zugute kommt, sondern indem wir begannen, uns einzubringen. Das Leben hier wurde schön, als die Kleinstadtgesellschaft und wir auf mannigfaltige Weise Beziehungen knüpften: Die Kinder fingen beide das Eishockeyspielen an, wir gründeten mit einigen alten Freunden einen Kunstverein (kunstverein-pfaffenhofen.de) und standen auf einer Liste beim Wahlvorschlag für den Gemeinderat. Zwölf Jahre habe ich die Hoch-Tief-Schule der ehrenamtlichen Politik durchlaufen und der Gemeinschaft gedient.

Entlohnt wurden wir dafür mit etwas, das man „Bäuerlich-Urbanes Wohnen“ nennen könnte – wie die Bauern verdienen wir uns unseren Lebensunterhalt unmittelbar dort, wo wir leben. Unser Bungalow ist Jugendherberge, Kindergarten, Kantine, PR-Büro, Schriftsteller- Refugium in der ehemaligen Garage, Gärtnerei, Turnhalle, Hausmeisterwerkstatt, Bibliothek, Kaninchengehege und Vogelheckenschutzgebiet, in dem der größte Spatzenschwarm des nördlichen Oberbayerns tschilpt. Und während der Wintermonate war er, dank einer halb gefüllten Wassertonne, auch ein zum Eisbad ladender Fjord. Im Ort gibt es jetzt eine Kunsthalle, ein Kreativquartier und alljährlich ein gigantisches Kulturprogramm. Natürlich ist auch hier gerade alles geschlossen und abgesagt, aber zum Wald, in dem ich schon an der Hand meines Großvaters spazieren ging, sind es nur fünf Minuten.

Die Pandemie wird enden, aber unsere Wurzeln bleiben.

 

Text
Steffen Kopetzky