Sophie Neuendorf ist Vizepräsidentin der Online-Plattform Artnet. Dort gestaltet sie die Zukunft des Kunsthandels mit. Mit zeitgemäßen Themen wie Nachhaltigkeit geht sie täglich um.
Die neue Inhaltlichkeit
Hi, Sophie!
Sie ist in Frankfurt, New York und Berlin aufgewachsen. Sie lebte in London und lebt nun in Madrid. Sophie Neuendorf ist gewissermaßen in den Farbtopf gefallen: Als Kind saß sie am Katzentisch im bayerischen Atelier ihres Großvaters, des Malers Georg Karl Pfahler, und kritzelte Skizzenbücher voll. Später studierte sie in London International Business. Die Pandemie nutzte sie unter anderem, um in Oxford Kurse zum Thema nachhaltige Unternehmensführung zu belegen – ein großes Thema auch in der Kunst. Ihr Vater, Hans Neuendorf, gilt als einer der wichtigsten deutschen Kunsthändler, der Legenden wie Cy Twombly, Jackson Pollock, Andy Warhol oder David Hockney einem zunächst skeptischen Nachkriegspublikum nahebrachte. In den 90er-Jahren gründete er Artnet und brachte den Kunsthandel als Erster ins Internet. Heute entwickelt die 35-jährige Tochter unter anderem die globalen Partnerschaften des Familienunternehmens. Die Begeisterung für Kunst teilt sie mit dreien ihrer Brüder, die ebenfalls dort tätig sind. Sie hört aufmerksam zu, spricht konzentriert, aber nicht distanziert. Hier ist jemand ganz klar mit diskussionsfreudigen Menschen aufgewachsen.
Frau Neuendorf, wie genau hat Artnet den Kunstmarkt revolutioniert?
Artnet verfügt über eine Preis-Datenbank, mit deren Hilfe man sich sehr schnell einen Überblick über die Preise einzelner Künstler verschaffen kann. Damit gibt es gewissermaßen kein Geheimwissen mehr, was die Preise angeht. Außerdem bieten wir seit 2008 Online- Auktionen an. Mit der Pandemie kam es endlich auch zu einer breiteren Akzeptanz dieser Verkaufsform. Unsere Umsätze sind seitdem enorm gestiegen.
Ist nicht das persönliche Verhältnis zwischen Galerie, Künstler und Sammler ganz entscheidend?
Es ist sogar sehr wichtig und wird nicht aus der Kunstwelt verschwinden, aber die Transaktionen werden in Zukunft vermehrt online stattfinden. Es ist für Sammler und Professionelle komfortabler, schneller und günstiger online zu kaufen oder zu verkaufen, als immer vor Ort sein zu müssen.
Welche Umwälzungen beobachten Sie noch?
Kunst bildet meistens auch den Zeitgeist ab. Die neue Generation von Sammlern fragt sich, was die Künstler antreibt. Nehmen Sie Banksy. Er möchte mit seinen Bildern etwas bewegen, indem er ein Bewusstsein schafft. Themen wie MeToo, Black Lives Matter oder die Flüchtlingskrise spiegeln sich vermehrt in der Kunst. Die Generation meines Vaters hat sich eher dafür interessiert, was kunsthistorisch relevant war und wer wen beeinflusst hat, nicht welches politische Thema maßgeblich war.
Ein Mix aus zeitgenössischer Kunst und Antiquitäten bestimmt die Einrichtung im Hotel „Le Sirenuse“. Eine ikonische Kulisse für dieses Shooting
Ist es nicht auch eine Gefahr, wenn Kunst in den Dienst von Zeitgeist gestellt wird?
Natürlich haben wir gesehen, dass Kunst im Dritten Reich und in anderen Diktaturen missbraucht wurde. Doch man muss differenzieren, denn es gibt die Kunst auch als Spiegel der Gesellschaft. Hier weist sie auf Missstände hin und wird nicht in die Dienste einer Ideologie gestellt.
Künstler wie Tomás Saraceno oder Ólafur Elíasson machen sich in ihren Werken Gedanken über nachhaltige Zukunftsideen. Was könnte der Kunstmarkt konkret dazu beitragen?
Mich beschäftigt das Thema sehr. Im Kunstmarkt ist so viel Geld unterwegs. Deshalb wollte ich 2019 im Report einer großen Unternehmensberatung vorschlagen, dass man bei einer Transaktion eine Art freiwillige „grüne Steuer“ einführt. Damals wollte man das nicht drucken, weil man fand, die sei unzumutbar. Heute ist das total okay. Das Thema ESG, also die Evaluierung der unternehmerischen Verantwortung, wird endlich ernst genommen. Bei Artnet überlegen wir, eine freiwillige Umweltabgabe für Online-Auktionen einzuführen, den Kohlendioxid-Fußabdruck des Versands anrechnen und Organisationen finanzielle Mittel zukommen zu lassen, die zum Beispiel gegen die apokalyptische Vernichtung der Regenwälder angehen. Auch im Kunsthandel und als Sammler tragen wir Verantwortung und sollten etwas für die Umwelt tun.
Auch auf dem Kunstmarkt gibt es in Zeiten einer globalen Pandemie Notlagen. Gerade jüngere Künstler und kleinere Galerien sind betroffen. Erfahren sie genügend Solidarität?
Zu Beginn der Krise war ich in Sorge, ob der Kunstmarkt das überstehen würde, denn er lebt von persönlichen Begegnungen. Andererseits muss man sagen, dass es vorher auch viel zu viele Messen und Veranstaltungen gab, mehr „Sehen und gesehen werden“ als wirkliches Interesse an der Kunst. Inzwischen bin ich positiv überrascht, wie viel Innovation die Pandemie ausgelöst hat. Die virtuellen Ausstellungen wurden gut angenommen. David Zwirner hat eine Plattform gegründet, auf der kleinere Galerien ausstellen dürfen, und er hat erklärt, dass er bereit wäre, auf einer Messe mehr zu zahlen, damit eine kleinere Galerie weniger zahlen muss.
Dieser Ansatz gefällt mir gut. Ohne Pandemie hätte das sicherlich noch zehn Jahre gedauert.
Erstaunlich, dass zwei Familien aus Köln eine solche Rolle bei der Entwicklung des Kunstmarkts spielen. David Zwirners Vater Rudolf und Ihr Vater haben 1967 die Art Cologne begründet, die den Deutschen die Tür zur Kunst in den USA aufgestoßen hat. Das hat auch die Kunstproduktion in Deutschland ungeheuer befruchtet. Wie unterscheiden sich die deutschen von den amerikanischen Sammlern?
Deutsche Sammler sind überlegter und benötigen mehr Zeit, um sich für etwas zu entscheiden. Aber wenn sie sich entscheiden und Vertrauen zu einer Galerie fassen, dann bleiben sie loyale Kunden. Sie stehen dem Online-Handel nach wie vor eher skeptisch gegenüber. Die Amerikaner sind etwas sprunghafter, sie entscheiden sich schnell, geben viel aus. In jedem Fall gibt es bald eine neue Generation auf dem Kunstmarkt. Es gibt Schätzungen, nach denen weltweit in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren Kunst in Höhe von zwei Milliarden Dollar vererbt wird und teilweise auf den Markt kommen wird. Dementsprechend wird es viel Bewegung geben, was vor allem auf den Online-Handel positive Auswirkungen haben wird.
Blick von einer der Terrassen des Hauses auf einen Hügel von Positano. Der Ort und seine Imgebung sind seit über 100 Jahren Anziehungspunkt für Künstler von Picasso bis Sol Le Witt
Auch die Kunst selbst wird immer virtueller. Nehmen wir zum Beispiel die Arbeiten der Münchner Fotografin Julia Leeb, die ihre Aufnahmen aus Krisengebieten in ein virtuelles Umfeld stellt. Werden wir zum Voyeur einer Krisensituation?
Ich finde es gut, dass Julia Leeb uns die Augen für Situationen öffnet, die wir sonst gar nicht so erleben könnten. Nachrichten kommen mir oft sehr abstrakt vor. Aber wenn man es dann wirklich vor Augen hat, hat das einen viel krasseren Effekt. Es löst Empathie aus. Ich finde es auch genial, dass Kindern heute Virtual-Reality-Brillen angeboten werden und sie so in die Museen gehen, wo sie sonst nicht hinkämen. In dieser Hinsicht finde ich diese Technologie super! Wie mit allem, kommt es darauf an, was man daraus macht.
Vieles, was man in der Kunst sieht, kommt erst viel später auf den Tisch als Debatte. Wem wünschen Sie ein größeres Publikum?
Meine Strategie beim Kunstkauf ist, dass ich mir ein Bild mit gutem Wiederverkaufswert kaufe und zwei, drei von jüngeren Künstlern, die mich begeistern und die ich unterstützen möchte. Aktuell war das ein Bild von Ed Ruscha. Ich bin mit West-Coast-Popkünstlern aufgewachsen, das hing bei uns zu Hause und hat meine Ästhetik sehr geprägt. Gleichzeitig habe ich vor einigen Wochen ein Werk von Tunji Adeniyi-Jones gekauft. Er verarbeitet sein westafrikanisches Erbe und ist gerade von der Londoner White-Cube-Galerie aufgenommen worden, worüber ich mich sehr freue. Der New Yorker Künstler Eddie Martinez ist auch super. Und Donna Huanca. Alle diese Künstler bringen ihr visuelles Kulturerbe ein und zeigen, dass wir uns nicht voneinander abgrenzen sollten.
Was gefällt Ihnen an Donna Huanca?
Ich mag ihre starke, freie Farbwahl. Ich kann mich nicht daran sattsehen. Und sie ist eine Künstlerin. Ich finde es wichtig, dass Frauen sich gegenseitig unterstützen.
Ist es immer noch schwerer für Frauen, sich im Kunstmarkt durchzusetzen?
Ich glaube ja. Weibliche Künstlerinnen waren die längste Zeit unsichtbar, und Männer haben viele Hunderte Jahre mehr Erfahrung auf dem Gebiet. Frauen setzen sich gerade erst durch.
Mussten Sie sich gegen Ihre vier Brüder durchsetzen?
Nein. Ich bin eng mit meinem Vater verbunden und habe viel von ihm gelernt. Zwischen mir und meinen Geschwistern gibt es ein enges Zusammenspiel, gerade weil wir oft unterschiedliche Meinungen haben. Wir geraten auch manchmal aneinander, und meistens geht es dadurch voran. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass man nicht immer Ja und Amen sagt. Diese Diskussion, diese Reibungen sind sehr gut, um voranzukommen. Es ist ein Privileg, mit der Familie zusammenzuarbeiten, in einem Bereich, der einen so inspiriert und Freude bringt.
Wenn man so viel umzieht, gibt es dann auch so etwas wie ein Zuhause?
Ja, unser Haus auf Mallorca. Wie klassisch deutsch sich das anhört (lacht). Das ist ein Haus, dass von John Pawson und Claudio Silvestrin vor 30 Jahren entworfen wurde. Wir sind dort jeden Sommer zusammen. Das ist immer sehr schön.
Glauben Sie, dass es nach der Pandemie ein bisschen mehr Maß geben wird? Ein bisschen weniger Jetset, mehr Fokus?
Ja. Konzentration auf Qualität, weniger Events – zumindest würde ich mir das erhoffen. Es war einfach zu überhitzt. Zu wenig Ernsthaftigkeit, wenn ich das mal sehr deutsch sagen darf. Und ich denke auch, dass es eine Konzentration auf die lokalen Märkte geben wird. Global denken, lokal handeln: Das gilt auch in der Kunst.
Das Shooting mit Sophie Neuendorf fand um der Schönheit des Ortes Willen im Hotel „Le Sirenuse“ in Positano statt.