Das neue Modegefühl: CHIC IS BACK!
Aufatmen bei allen Trendforschern und Fashion-Forecastern: Die in den vergangenen zwei Jahren immer wieder prophezeite Gegenbewegung zur schlabbrigen Lockdown-Loungewear tritt nun endlich in vollem Maße ein. Elegante Mode, die zeitlos und qualitativ hochwertig ist, hat nicht nur Jogginghosen und Sneakers vom Laufsteg verdrängt, sondern auch das Y2K-Phänomen. Der tonangebende Look ist jetzt wieder erwachsener. Pierpaolo Picciolis Kollektion für Valentino hat ein Black-Tie-Motto (kaum ein Outfit ohne Krawatte). Anthony Vaccarello hat sich für Saint Laurent mit dem Kostüm auseinandergesetzt (viel Nadelstreifen, XL-Schulterpolster und Schlitzröcke). Bei Stella McCartney jede Menge Menswear-Tailoring, und bei Louis Vuitton eine Neudefinition des französischen Chics (Anzüge mit Drapage-Falten und Crossbody-Taschen mit Metallbeschlägen!).
Wer Trend-Getue schon immer albern fand und lieber auf Beständigkeit setzte (Hermès, Akris, Loro Piana, Brunello Cucinelli…), kann sich jetzt die Hände reiben. Womit man bei Balenciaga wäre. Das Haus hat zuletzt mit VIP-Scoops und Social-Media-Hits unzählige Trends begründen können. Vor vier Monaten dann jedoch ein Skandal um Kinder-Models und BDSM-Teddys, der zu einem riesigen Image-Verlust führte. Nun laut Kreativdirektor Demna Gvasalia eine bewusste Abkehr vom Fashion-Entertainment und Rückbesinnung auf die Essenz von Kleidung, also Silhouette und Stofflichkeit. Schwarze Doppelreiher als Blazer und Mäntel, plissierte Kleider mit überlangen Trompetenärmeln, Roben mit kugeligen Pagodenschultern und Kaskaden von Stickereien. Fast schon Couture. Dazu passte die Einladungskarte zur Show: das Schnittmuster einer Jacke. Und dazu passt wiederum, dass Li Edelkoort schon vor drei Jahren ein Jahrhundert des Handwerks vorausgesagt hat. Ob Zufall oder nicht, der Witz ist: Wenn jetzt jeder auf den Craftsmanship-Zug aufspringt, dann werden alle auch schnell wieder genug davon haben.
DAS IT-PIECE: DER BODENLANGE MANTEL
Durch die Dress-Up-Bewegung kehren Kleidungsstücke zurück, die längst in Vergessenheit geraten waren. Der bodenlange Mantel etwa war das letzte Mal so richtig in der Übergangsphase von den Achtzigern zu den Neunzigerjahren angesagt. Damals trug man ihn vorwiegend geschlossen, auf dem Laufsteg sah man ihn nun auch immer wieder offen getragen, teils mit Shorts oder Lingerie-Looks darunter. Chanel schlägt eine Variante nur für den Abend vor: hochgeschlitzt und getragen wie ein Kleid. Dries Van Noten, Givenchy, Alexander McQueen haben schwarze Ausführungen präsentiert, teils länger als bodenlang. So ein bisschen Schleppe ist natürlich besonders eindrucksvoll: Auf der Saint-Laurent-Show trug Dua Lipa ein Modell aus Leder. Irgendwie mondän, magisch und mystisch!
Die aufwendigste Location: von Joana Vasconcelos für Dior
Apropos magisch und mystisch: Nur weil die Kollektionen wieder ein bisschen tragbarer werden, heißt das nicht, dass es kein traumhaftes Drumherum mehr gibt. Maria Grazia Chiuri hat für Dior genau deshalb die portugiesische Künstlerin Joana Vasconcelos mit dem Set-Design zu ihrer Show beauftragt. Die ist für bunte und raumgreifende Strick- und Crochet-Skulpturen bekannt. Ihre Arbeiten für das französische Modehaus sind so gigantisch groß ausgefallen, dass sie im Gesamtbild eine ganze Fantasiewelt ergaben. Under The Sea? Ferner Planet? Das sei am Ende jedem selbst überlassen. Fakt sind dagegen Chiuris Entwürfe: Diors ikonische Silhouette, der New Look von 1947, seine geliebten Korsagen-Oberteile, übersetzt ins Hier und Jetzt. Patin für die Kollektion ist Catherine Dior, die geliebte Schwester des großen Couturiers. Im Zweiten Weltkrieg war sie Widerstandskämpferin, überlebte das Konzentrationslager Ravensbrück und gründete anschließend ihr eigenes Business: Zuerst handelte sie mit Blumen, später baute sie in der Provence selbst welche zur Parfum-Gewinnung an. Für Chiuri ein Symbol für die Unabhängigkeit von Frauen.
Die Phänomenfarbe: Rot
Das erste Anzeichen war Rihanna beim Superbowl; von Kopf bis Fuß in sattem Rot. Dann zog sich die Farbe durch die wichtigsten Kollektionen der Mailänder Modewoche: bei Bottega Veneta in Form von Strick, bei Prada in Form von Lederkostümen und bei Ferragamo in Form eines Hosenanzugs. In Paris hat nun die Mehrheit der Modehäuser auf Rot gesetzt. Hermès zeigte seine zeitlos-eleganten Entwürfe in der Farbe, Giambattista Valli Flatterkleider, Alexander McQueen einen Orchideen-Print und Ottolinger ein paar Pieces, die irgendwo zwischen Performance- und Clubwear einzuordnen sind. Chanel zog rote Rollkragenpullover unter Blümchenkleider. Merke: Nächsten Herbst wird alles für alle in Rot angeboten. Bleibt die Frage, warum jetzt alle rotsehen. Die Farbe steht für Gefahr auf der einen, aber Liebe und Kraft auf der anderen Seite. Keine andere könnte diese gegensätzlichen Zeiten also besser beschreiben.
Der bewegendste Moment: bei Andreas Kronthaler for Vivienne Westwood
Ende Dezember erschütterte die Nachricht von Vivienne Westwoods Tod die Modewelt. 50 Jahre lang entwarf die Queen of Punk Kollektionen. Sie hinterfragte den Zeitgeist, gestaltete ihn neu und mischte sich auch immer wieder in Dinge wie die Klimapolitik ein. Mag sein, dass ihre Mode schon länger nicht mehr als cool galt, aber sie war immer da. Und jetzt? Kam ihr Witwer Andreas Kronthaler erstmals nach der Show allein auf den Laufsteg (seit 2016 entwirft er offiziell als Kreativdirektor und sein Name wird in dem der Marke geführt): sichtlich gerührt, den Blick auf den Boden gerichtet. Was er zeigte, war typisch Westwood: ein Mix aus Tartan, Drapagen, Asymmetrie, Netzstoffen und Fetisch-Elementen. Eine Hommage an das stilistische Erbe seiner Frau. Zu Beginn der Show machte es gleich ein Oberteil klar, auf dem das Gesicht von Vivienne Westwood gedruckt war. Botschaft: Sie ist immer noch hier.
Das Prêt-à-porter Debüt: Daniel Roseberry für Schiaparelli
Seine Couture-Schauen gelten bereits als legendär: Mit viel surrealem Goldschmuck, Glamour und zuletzt ultrarealistischen Tierköpfen als Dekor hat Daniel Roseberry das Haus Schiaparelli in nur vier Jahren zurück aufs Moderadar gebracht. Kann er auch Luxus von der Stange? Und wie! Samtanzüge und -kostüme, Tellerröcke, Mäntel und Jacken mit weiten Keulenärmeln. Den surrealistischen Goldschmuck gibt es in einer dezenteren Version. Dafür hat Roseberry an vielen Kleidungsstücken surrealistische Gold-Details angebracht, etwa Knöpfe wie Schlüssellöcher oder welche mit Augen-Emblem. Teile, die ihm die Kundinnen in der kommenden Saison aus den Händen reißen werden.
Die Abwechslung im Alltag: Bilderrätsel und optische Täuschungen
Trompe-l’œil wird eine illusionistische Malerei genannt, die mittels perspektivischer Darstellung Dreidimensionalität vortäuscht. Jonathan Anderson hat sie nun für Loewe wie kein Modedesigner bisher aufs Textil gebracht. Auf ein langärmeliges Kleid aus schimmernder Seide hat er einen doppelreihigen Mantel gedruckt. Läuft dessen Trägerin auf einen zu, ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen, um welches Kleidungsstück es sich handelt. Es gibt auch Cardigans, die eigentlich keine sind, weil sie nicht aus Wolle, sondern Papier bestehen, auf das ein Foto einer Strickjacke gedruckt wurde. Was ist echt und was nicht? Wenn Mode eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit so sinnesreizend stellen kann, ist sie dann noch Kleidung – oder schon Kunst?