Ein Gespräch

Maria Grazia Chiuri: Designerin und Römerin

Foto Frederica Livia

Ihr T-Shirt We should all be Feminists startete den Großtrend der Sloganwear. Chiuri entwarf es für ihre erste Dior-Kollektion, die sie im September 2016 zeigte. Vorher hatte sie bei Fendi und mit Pierpaolo Piccioli bei Valentino gearbeitet. Für erstere entwickelte sie die Baguette Bag, zweitere Marke erweckte sie aus dem Spinnwebenschlaf. Für ihre Dior-Kollektionen lässt sie sich von unterschiedlichsten Kulturen und Künstlern inspirieren. Und von ihrer Tochter Rachel. Chiuri, 57, lebt mit ihrer Familie in Rom.

Als kreativer Kopf von Dior hat Maria Grazia Chiuri das Bild von Frauen in der Mode verändert und gezeigt: Man kann überzeugte und entspannte Feministin sein, Frauen begehrenswert und selbstbewusst anziehen, Karriere machen und ein leidenschaftlicher Familienmensch sein, fokussiert und humorvoll. Sie war in den letzten Monaten ständig unterwegs zwischen Atelier und Produktionsstätten. Jetzt aber wirft sie sich fürs Interview im weißen Flauschpulli aufs Sofa, eine Zigarette glimmt auf, wir könnten uns jetzt festquatschen, aber ihr Terminkalender ist am Ende stärker.

ICON: Wie geht es Ihnen nach diesem Jahr?

Maria Grazia Chiuri: Ich bin vor allem müde. Genau wie mein Team. Es war ein sehr intensives Jahr, es gab Momente der Hoffnungslosigkeit, dann war ich wieder superenthusiastisch, als ich merkte, dass ich trotz allem Träume realisieren konnte. Die Haute Couture. Die ganz reale Cruise-Show in Lecce. Normalerweise planen wir lange voraus, das konnten wir vergessen, sondern mussten uns Schritt für Schritt vortasten.

Die Parfümproduktion von Dior in Grasse wurde zu Anfang der Pandemie kurzfristig auf die Herstellung von Desinfektionsmittel umgestellt. Hatten Sie manchmal Zweifel an Ihrer Tätigkeit für eine Luxusmarke?

Die Reaktion am Ende dieser Krise wird womöglich eine Überraschung sein, denn ich glaube, dass die Menschen alles vergessen werden wollen. Das beunruhigt mich, ich denke, wir müssen uns erinnern. Und anders arbeiten, mehr Augenmerk auf die Zukunft und die Umwelt legen.

Was genau beunruhigt Sie?

Ich fürchte, dass alle mehr konsumieren denn je. Und dass die Schere weiter auseinandergehen wird. Um die großen Marken mache ich mir keine Sorgen, aber in Italien und Frankreich gibt es in unserer Branche viele kleine Familienbetriebe. Oder in Indien, allein die Stickereien, um die alle fürchte ich. Um ihre Kultur.

Aber steht Luxus nicht gerade für Themen wie Nachhaltigkeit, Langlebigkeit und Qualität statt Masse?

Das mag sein, aber ich glaube, dass die Konsumenten weniger Geld haben werden, das Verlangen aber gleich bleibt. Wir Menschen wollen immer etwas Neues. Ich sollte das vielleicht nicht kritisch sagen in meiner Position, aber so ist es. Keiner will immer das gleiche Kleid, den gleichen Anzug tragen. Selbst in strengen politischen Regimen konnte modischer Verzicht nicht durchgesetzt werden. Ich glaube also, dass der Konsum nur deswegen eingeschränkt wird, weil weniger Geld da ist zum Ausgeben.

Und die jungen Leute? Sie sind es ja, die den Druck erhöhen auf unser Konsumverhalten.

Ich bin optimistisch, was sie angeht. Sie sind bewusster, kaufen gern Vintage, insgesamt weniger. Aber es gibt auch eine große Gruppe junger Leute auf der Welt, die einfach sehr gern Kleidung kauft. Es ist kompliziert und komplex.

Mit Ihrer Tochter Rachele haben Sie eine gute Beraterin.

Sie ist nicht repräsentativ, denn sie weiß so viel über Mode, wie übrigens auch mein Sohn. Wenn man aber noch nie einen schönen Mantel hatte, dann ist die Begehrlichkeit eine andere. Sollen wir denen sagen: Du darfst das nicht, weil es nicht gut für die Umwelt ist? Das ist überheblich.

Umweltbewusstsein muss man sich also leisten können?

Absolut. Man muss die Ungleichheiten im Auge behalten.

Sehen Sie eine Lösung?

Vielleicht müssen die Leute, die mehr Wahlmöglichkeiten haben, mehr verzichten, um eine gewisse Balance herzustellen. Aber das ist nur eine kleine Gruppe, ich weiß nicht, ob ihr Gewicht reicht.

Sie haben während des ersten Lockdowns ein wunderbares, surreales Video gezeigt, bei dem den Klienten ein Schrankkoffer mit Puppen-Modellen gebracht wurde – wobei die Kunden Fabelwesen waren. Nicht alle Firmen brachten so viel kreative Energie auf. Wie haben Sie sich dazu motiviert?

Ich war in Rom, und mir war klar, dass wir etwas anderes würden machen müssen. Ausgangspunkt war das Buch „Théâtre de la Mode“, das ich zu Hause habe. Es ist die Geschichte von 15 Designerinnen, die sich 1945, ein Jahr bevor Christian Dior sein Haus gründete, zusammentaten, um ihre Kollektionen auf kleinen Schneiderpuppen in einer Wanderausstellung zu präsentieren. Ihr Ziel war, Geld für Kriegsveteranen zu sammeln und die französische Mode nach dem Krieg wieder zu beleben. Es wurde ein Symbol für die Widerstandsfähigkeit von Kreativität in schwierigen Zeiten. Ich war begeistert von der Idee.

Und dann?

Rief ich Matteo Garrone an.

Den Regisseur von „Pinocchio“.

Ja, er war auch in Rom, und ich bat ihn, einen Film über Diors Théâtre de la Mode zu drehen. Ich hatte schon lange daran gedacht, die Einzigartigkeit von Haute Couture filmisch darzustellen. Eigentlich erstaunlich: Es war möglich, auch unter erschwerten Bedingungen. Drei Tage in Rom. Keiner glaubte, dass es in so kurzer Zeit gelingen könnte.

War das auch eine neue Erkenntnis: dass man ohne die üblichen Schleifen und mit einem kleinen Team sehr effizient arbeiten kann?

Ja! Das galt auch für die Modenschau in Apulien. Mein Studio ist klein, das Kernteam kennt sich seit vielen Jahren. Und es hilft, dass ich schon sehr lange in meinem Beruf bin. Ich kenne selbst die Lieferanten persönlich.

Persönlich ist ein weiteres Schlüsselwort. Lecce in Apulien ist Ihre Heimatstadt.

Es war die persönlichste Show und Kollektion, die ich in meinem Leben gemacht habe. Aber zugleich war es ein Community-Projekt, jeder fühlte sich verbunden. Ich bekam so viele Anrufe von Menschen, die sagten, sie würden gern mitmachen, helfen. Und wir wollten auch ein Zeichen der Hoffnung für die Mode-Industrie setzen.

 

Kein Publikum, aber eine echte Show. Die Dior Cruise Kollektion im Juli in Lecce, der Heimat von Maria Grazia Chiuris Vater

Inwiefern?

Auch die Kritik am Modesystem erreichte einen neuen Höhepunkt. Die Industrie ist sicher nicht perfekt, aber wir müssen darüber nachdenken, wie wir darin arbeiten können. Wir können nicht eine ganze Industrie zerstören, ohne an die vielen Leute und Familien zu denken, die davon leben. Ich bin 57, hatte meine Karriere, aber ich fürchte, dass viele der jungen Leute, die jetzt die Mode pauschal kritisieren, gar keine Vorstellung davon haben, wie viele Existenzen dahinterstehen.

Sie sind weiterhin viel unterwegs?

Wir haben eine Sondererlaubnis, denn Dior hat einen Betrieb in der Toskana und auch in Norditalien für die Accessoires und in Paris das Atelier. Ich bewege mich zwischen diesen Orten, aber es ist kompliziert und die Regeln ändern sich ständig.

Arbeiten ja, Vergnügen nein: Das ist die politische Devise.

Ja, ich gehe nur raus, um zu arbeiten. Mein Mann erzählte, dass es kurz vor Weihnachten einen Skandal gab, weil viele vorm Lockdown noch schnell zum Skilaufen nahe Rom gefahren sind. Ich liebe es auch, aber es ist nicht nötig. Dabei vermisse ich die einfachen Dinge. Meine Mutter zu sehen. Ein paar Leute spontan zum Essen zu Hause einzuladen. Ein Jahr ist lang.

Die Pandemie hat wie ein Scheinwerfer in Ecken geleuchtet, die wir nicht sehen wollten. Was haben Sie entdeckt?

Charaktere. Ob sie Interesse am Gemeinwohl haben oder nur an sich selbst. Ich habe für mich klar entschieden, mit wem ich arbeiten will. Und mit wem nicht mehr.

Homeoffice war viel Home statt Office. Es gab weltweit einen Anstieg von häuslicher Gewalt. Wie sehen Sie die Lage?

Die wirtschaftliche Krise ist ein vielschichtiges Problem. Frauen bekommen in solchen Zeiten weniger Jobs. Zu glauben, man kann die Kinder betreuen und gleichzeitig arbeiten, ist ein Dilemma, das leider vor allem die Frauen betrifft. Und es gibt einen Verlust von sozialer Anerkennung und Repräsentationsmöglichkeit. Das ist für manche Männer unerträglich.

Mal abgesehen von der Nicht-Beschulung, fühlen sich viel Kinder abgelehnt. Das psycholgische Ausmaß der Krise wird sich erst noch zeigen.

Wir sind Menschen, wir müssen miteinander reden, sozialisieren. Ich kenne einige Leute, die sagen; oh Rom ist so schön, wenn keine Touristen da sind. Vielleicht. Aber die Stadt ist nicht dafür geschaffen, leer zu sein.

Berlin ist ohne das Party-Volk auch öder.

Wir sollten daraus lernen, dass so wenig Menschen in den berühmten Städten leben, leben können. Sie sind zu Museen für Touristen geworden. Ich hoffe, das wird jetzt überdacht. Wobei es nicht nur darum geht, dass Leute sich die Stadt nicht mehr leisten können. Viele vermieten zum Beispiel eine geerbte Wohnung im Zentrum und ziehen lieber woanders hin. Es ist quasi ein Job. Rom und auch andere Städte verlieren so irgendwann ihre Seele.

Was nehmen Sie als Kreative mit in die nächste Dekade?

Unsere Arbeit ist intensiver als früher. Wir müssen alles, was wir tun, kontrollieren und hinterfragen: Material, Produktion, Nachhaltigkeit. Ich will diese Themen nicht benutzen, um mehr Ware zu verkaufen, aber wir müssen uns damit beschäftigten. Als ich anfing, in der Mode zu arbeiten, gab es sie gar nicht. Wir müssen auch alles über die neuen Technologien wissen und mit der Produktion im ständigen Austausch stehen. Wir entwerfen als Designer nicht mehr nur eine Kollektion. Danach fängt die Arbeit erst richtig an. Das System ändert sich, muss sich ändern, nicht meine Kreativität. Ich bin überzeugt, dass wir in Zukunft mehr Wert verkaufen als Menge.

Chiuris neue Lieblingstasche „Caro Bag“

Aber es gibt doch kulturelle Unterschiede? Italienerinnen, Französinnen, Chinesinnen, Deutsche.

Nach meinen Erfahrungen als Designerin ist es einfacher: Die Menschen begehren etwas oder nicht. Es geht nicht um die Nationalität. Sondern um den jeweiligen Lifestyle. Die eine braucht mehr praktische Hosen, die andere mehr Cocktailkleider. Und wenn man sich für Mode interessiert, dann will man etwas, was in Mode ist. Ich war noch nie wirklich überrascht, wenn ein Teil begehrenswert wurde. Denn die erste Person, die es tut, bin ich. Es geht um den spezifischen Moment.

Wir reden heute vor allem über Moral. Hat die Konsumfreude es da schwer?

Nein. Man muss beides bedienen. Ich kann sehr nachhaltige Produkte machen; aber wenn keiner sie will? Man hat auch kein Verlangen nach etwas, weil es nachhaltig ist. Aber natürlich ist es viel besser, wenn beides zusammenkommt.

Was ist mit Spaß und Entertainment?

Meine Kollektion für 2021 ist fröhlich, ich will dieses Jahr vergessen machen. Mode ist das Mittel, sich auszudrücken, zu spielen, zu träumen. Meinetwegen Prinzessin zu sein. Als ich jung war und zur Mode kam, war es ein Traum ein Kleid zu sehen, das aus einem anderen Teil der Welt kam, den ich noch nie gesehen hatte, von dem ich nichts wusste. Ich erinnere mich an die bunten Gummistiefel, die ich unbedingt wollte. Ich in diesen gelben Dingern In Rom, wo es niemals regnet! Aber es war supercool sie zu haben.

Was erwarten Sie vom neuen Jahr in der Frauenfrage?

Uff … ich weiß, 2021 steht im Zeichen des Wassermanns. Und der steht für Innovation.

Man sagt in Astrologenkreisen, dass wir nach 200 Jahren erdverbundener Zeit jetzt in die Phase der Luft übergehen.

Das ist gut. Alles ändert sich. Wir sollten aber nicht obsessiv sein, wenn es um die Zukunft geht. Sondern geduldig. Mein Traum ist, dass wir wirklich verstehen und umsetzen, wie wir nachhaltig leben, mehr Gemeinsinn entwickeln können. Es ist Zeit. Aber ich bin optimistisch und ganz begeistert von den jungen Frauen. Sie sind stark und mutig. Ich glaube, sie können wirklich etwas bewegen. Und das ist alles, was ich hoffe.

Dior Kreativ-Direktorin Maria Grazia Chiuri in ihrem Pariser Büro. Ihre Ringe kauft die Römerin bevorzugt bei Codognato in Venedig / Creative Director Maria Grazia Chiuri in her Paris office. She prefers to buy her rings at Codognato in Venice
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