Gespräch mit Judy Chicago und Maria Grazia Chiuri

Ein Bild für die

Göttinnen

Als Dior die feministische Künstlerin Judy Chicago zu einer Kooperation einlud, war die Amerikanerin erst skeptisch. Doch dann kam sie mit Kreativdirektorin Maria Grazia Chiuri ins Gespräch.

Und wenn? „Was wäre, wenn Gott weiblich ist?“, stand auf einem der seidigen Banner im Eingang zur Haute-Couture-Schau von Dior im Januar. Gefertigt und bestickt in der indischen Chanakya School of Craft, einer Non-Profit-Organisation, die Frauen handwerkliche Fähigkeiten beibringt, die lange Männer vorbehalten waren. Seitdem Maria Grazia Chiuri bei Dior das kreative Sagen übernommen hat, geht es in jeder ihrer Kollektionen immer auch um die komplexe Verbindung von Feminismus und Feminität. Die Beziehung von Mode und Körper, die Befreiung einerseits und Schutz andererseits durch Kleidung. Die Italienerin, Mittfünfzigerin und verheiratete Mutter eines Sohnes und einer Tochter, setzt sich seit Langem mit dem Thema Frausein auseinander, privat wie beruflich.

Für die Haute Couture im Januar hatte sie Judy Chicago, die Begründerin der feministischen Kunst in Amerika, eine 80-jährige Ladung Energie mit quietschlila Haaren und weißem Pony, lila Brille und goldfarbenem Dior-Maßanzug, eingeladen. Ende der 1970er-Jahre wurde sie bekannt mit „The Dinner Party“, einer monumentalen Installation in Form eines dreieckigen Tisches, an dessen 39 Plätzen die Namen von 999 mythischen Frauen graviert sind. Mittlerweile steht das Kunstwerk im Brooklyn Museum in New York. Mrs Chicago, wie sie sich nach ihrer Heimatstadt nennt, war zunächst skeptisch. Zwingt nicht gerade die Mode Frauen in ein unrealistisches Bild? Doch sie ließ sich auf die Verabredung ein; die Möglichkeit als Show-Venue ihre seit den 70er-Jahren gehegte Idee einer gigantischen Göttinnen-Installation, „The Female Devine“, endlich realisieren zu können, war sicher kein schlechtes Argument. In dem heimelig ausgeleuchteten Zelt rahmten den lila, blümchenbewebten Catwalk große Banner ein; auf Englisch und Französisch bestickt, führten sie mit Fragen wie „Gäbe es dann Gewalt?“ oder „Wäre die Erde dann geschützt?“, „Würden alte Frauen geehrt?“, „Würden sowohl Frauen als auch Männer sanft sein?“ auf die alles inspirierende Provokation hin: „Was wäre, wenn Frauen die Welt beherrschten?“

Das Setting in Kleider umzusetzen hätte ziemlich danebengehen können. So viel Anspruch, Untertitel und Diskussionsmaterial. Doch Maria Grazia Chiuri, die Römerin, blieb ruhig, versuchte gar nicht erst, intellektuelle Verrenkungen an der Kleiderpuppe zu unternehmen, sondern schickte ihre Göttinnen raus. Athene der Gegenwart. Aber auch goldene Hosenanzüge. Im Showroom am nächsten Tag steht an der weißen Wand: „Ein Kleid auszuwählen heißt, eine Haltung auszuwählen.“ Und im Büro sitzen auf dem einladenden Mobiliar zwei Frauen, die selbst todmüde nach allem eine ungeheure Kraft ausstrahlen.

Kreativduo: Judy Chicago und Maria Grazia Chiuri. JUDY CHICAGO® ist ein eingetragenes Warenzeichen und alle ihre Werke, einschließlich der Banner in The Female Divine, sind durch US-amerikanische und internationale Urheberrechtsgesetze geschützt. Alle Rechte vorbehalten.
Im Zelt hingen riesige mit Fragen bestickte Banner (Credit: Kristen Pelou)
Die Idee zu ihrer Göttinnen-Installation „The Female Divine“ hatte Judy Chicago bereits Ende der 70er-Jahr
Showcase: Das eigens aufgebaute Zelt im Garten des Pariser Musée Rodin war ihr bisher unveröffentlichter Entwurf einer Göttinnen-Installation aus den 70er-Jahren

ICON: Judy, woher stammt Ihre Kraft?

Ich liebe es zu arbeiten. Und ich bin noch beseelt von der Show. Bin stolz, Teil davon gewesen zu sein. Außerdem hatten Maria Grazia und ich heute mal Zeit, über unsere Themen zu sprechen. Und ich weiß jetzt, warum unsere Zusammenarbeit so gut funktionierte, warum sie gleich verstand, was ich wollte.

Was war so gut daran?

JC: Unsere ersten Schritte waren philosophisch. Maria Grazia wusste gleich, was ich meinte mit dem Thema weibliche Göttlichkeit. Aber ich verstand erst nicht, wie sie arbeitet, ihre Entwürfe einsetzt. Bevor ich im Dior-Archiv stand und die exquisiten Stickereien und delikaten Kleidungsstücke sah, hatte ich überlegt, wie ich wohl einen Bezug von der Couture zur Gegenwartskunst herstellen könnte. Doch als ich dann dieses Kunsthandwerk sah, entdeckte ich, dass ich auf eine künstlerische Weise mehr Affinität zur Modewelt und ihrer Liebe zum Handwerk habe als zur Kunstwelt und deren Ablehnung von Handwerk. Als ich dann hier in meiner ersten Haute-Couture-Show jemals saß, war es überwältigend visuell und prächtig. Normalerweise stehe ich vor einer weißen Wand ohne Ablenkungen.

Kunst und Mode gelten doch schon eine Weile als Verwandte?

JC: Nicht aus der Sicht der Kunstwelt.

MCG: Als wir an diesem Projekt arbeiteten, fiel mir auf, wie wenig Diskussionen es in der Kunstwelt über die Beziehung zueinander gibt. Obwohl so viele Künstler mit Modehäusern arbeiten. Es hat wohl damit zu tun, dass die Kunst auf die Mode herabblickt. Ich versuche einen Diskurs zu beginnen.

Ist das Arroganz der Kunstleute?

MCG: Vorurteil! Ob es damit zu tun hat, dass Mode mehr dem weiblichen Kosmos zugeordnet wird? Oh ja, was immer Frauen tun, wird als weniger beurteilt.

Wir glauben gern, dass sich die Dinge für Frauen geändert haben.

JC: Maria Grazia und ich denken das gar nicht! Es hat sich für einzelne Frauen etwas verändert, definitiv für mich. Und für Maria Grazia, sie ist die erste Kreativdirektorin bei Dior.

MCG: Es gibt immer noch Vorurteile. Frauen werden eher als lieblich eingestuft. Das Vorurteil lautet, dass ein wahres Genie nur ein Mann sein kann. Manches Kunstwerk oder auch ein Entwurf, der jetzt nicht sooo unglaublich ist, wird trotzdem sehr schnell als „hot“ beurteilt, weil der Künstler oder Designer ein Mann ist. Warum? Das ist die große Frage.

Die „Göttinnen“-Installation gilt auch als Symbol für Mutterschaft, oder?

MCG: In jedem Fall gibt es die Dualität Kunst und Feminität, aber auch Kunst und Mutterschaft.

JC: Das ist unmöglich!

Judy, haben Sie Kinder?

JC: Nein! Dann hätte ich nie die Karriere gemacht. Unmöglich!

Warum?

JC: Vor einigen Monaten war ich am Museum of Contemporary Art in Chicago bei einer Ehrung. Wir standen herum, und es hieß, alles hätte sich für Frauen in der Kunstwelt geändert. Eine junge Kuratorin rollte nur mit den Augen. Kurz darauf kündigte sie, denn sie bekam ein Baby. Sie zog dichter zu ihrer Familie und trat einen Job an, der eigentlich unter ihren Möglichkeiten war, aber besser vereinbar mit ihrem Muttersein. Wir korrespondierten einige Monate später, und sie sagte, an dem Abend im Museum hätte sie am liebsten jedem in der Runde eine geknallt.

Aber verblasst das Argument „keine Karriere wegen Kind“ nicht zusehends?

JC: Auf persönlicher Ebene ja, auf gesellschaftlicher Ebene nicht!

Womöglich ist es nur noch eine Generationenfrage?

JC: Ich sehe jedenfalls noch immer sehr viele Frauen, die der Konflikt förmlich zerreißt.

MCG: So wie es immer noch die Vorstellung gibt, das Frausein und Muttersein eng verknüpft sind. Dabei ist Muttersein eine persönliche Entscheidung, sie hat nichts mit Feminität zu tun. In Italien musst du dich immer noch erklären, wenn du keine Kinder hast.

Judy, Sie waren zunächst skeptisch, weil es in der Mode um Körperideale gehe. Maria Grazia, wie halten Sie dagegen?

MCG: Der weibliche Körper ist wirklich ein Kriegsschauplatz. Und der Ausgangspunkt für unseren Standpunkt als Designer. Meine Haltung bei Dior ist die, dass zum Beispiel der Stil von Galliano, den ich sehr liebte, nicht mehr zeitgemäß ist. Ich habe eine andere Sprache, Frauen wollen sich nicht mehr definieren lassen. Aber ich habe dasselbe Problem wie Judy, nur in einem anderen Bereich. Auf der einen Seite ist es mir ein Anliegen, meinen Kundinnen zu sagen: Trag, was du möchtest! Auf der anderen Seite steht eine Zuhörerschaft, die eine Idee zur Kreativität hören will. Sie will nicht akzeptieren, dass du in diesem System nicht nach den alten Codes arbeiten willst. Ich aber halte nichts von den Einteilungen in Kategorien. Es ist nicht leicht, einen anderen Weg zu gehen, deswegen ist eine Künstlerin wie Judy eine Inspiration auch für eine jüngere Generation, Karriere zu machen in Berufen, die ungewöhnlich sind für Frauen. Als ich zur Schule ging, hätte ich es nie für möglich gehalten, Kreativdirektorin bei Dior werden zu können. Kein Mann würde je so denken.

Judy, würden Sie Maria Grazia an Ihren „Dinnertable“ setzen? Ihn erweitern? (beide lachen laut)

MCG: Wir sind in der Gegenwart! Wichtig ist nur, dass es für junge Frauen in Zukunft weniger schwierig ist. Ich bin jetzt 56 und halte mich an meine Mutter, die sagte: „Das Schöne am Älterwerden ist, dass du sagen kannst, was du willst.“

Müssten wir Männer mehr integrieren?

JC: Absolut!! Hören Sie, wissen Sie, wie viele Männer an diesem Projekt gearbeitet haben? Und alle waren sehr stolz darauf. Aber die Welt ist so aus der Balance gerade, es muss eine erneute Umarmung geben. Das Weibliche darf sich nicht länger verbergen müssen.

MCG: Ich glaube an Integration und Erziehung. Gleichzeitig ist es wahr, dass die Macht in erster und zweiter Reihe bei Männern liegt. Aber die Chanakya-Schule in Indien ist ein motivierendes Beispiel. Als sie eröffnet wurde, wollten die Ehemänner, Väter und Brüder die Mädchen zunächst nicht dorthin gehen lassen. Nun arbeiten dort Frauen aller Altersgruppen und verschiedener Religionen. Die Regierung will sie jetzt anerkennen und zudem weitere eröffnen. Es ist also möglich, mit Mode und Kunst das Leben zu ändern.

Judy: Mein ganzes Leben dreht sich um Veränderung. Soll nur keiner glauben, man wedelt einmal mit einem Zauberstab und alles ist anders.

Mein ganzes Leben dreht sich um Veränderung. Soll nur keiner glauben, man wedelt einmal mit einem Zauberstab und alles ist anders.

Judy Chicago, Künstlerin

Text
Inga Griese