Korea ist das Italien Asiens. Im Zentrum der Begegnung steht das gemeinsame Essen. Wir haben die örtlichen Speisekarten studiert und durchprobiert.
Leben, um zu essen
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Auch die Koreaner können sich ihre Familie nicht aussuchen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass in einer koreanischen Familie alle zumindest eine Leidenschaft teilen, ist sehr hoch. Diese Leidenschaft ist das Essen. Es ist nicht nur eine Leidenschaft, es ist, semantisch gesehen, sogar das, was die Person in ihrem Kern ausmacht. Wenn man das koreanische Wort für Familienmitglied
„shikgu“
in die ihm zugrundeliegenden zwei Teile „shik“ und „gu“ zerlegt, dann ergibt das die Worte für „Mund“ und „Essen“. Eine Familie besteht demnach in erster Linie aus Mündern, die man stopfen muss. Womit genau, das ist die große Frage, die man glücklicherweise mindestens zweimal am Tag (nur das Frühstück spielt hier keine so große Rolle) beantworten muss und die dementsprechend regelmäßig und ausgiebig diskutiert wird (am besten beim Essen). Hat man schon gegessen oder nicht, was hat man gegessen und wo, wann plant man zu essen und was: Eine der schönsten Beschäftigungen der Welt bestimmt hier das soziale Miteinander und nährt die Gedanken ebenso wie den Magen. Dem kann es in einer Großstadt wie Seoul eigentlich nie langweilig werden. Nicht nur weil die Vielfalt aus traditionellen Lokalen, modernen Fusion-Restaurants, Markthallen-Ständen, Barbecue- Spezialisten oder Nudelsuppen-Läden riesig ist, sondern weil eine Mahlzeit allein manchmal mit so vielen verschiedenen Aromen und Texturen überrascht, wie man sie in Europa im Verlauf eines Tages nicht schmecken würde. Das liegt hauptsächlich an den „Banchan“: Die vielen kleinen Beilagen, die in traditionellen koreanischen Restaurants zum Hauptgericht gereicht werden, von der Lotoswurzel zur Misosuppe über den eingelegten Rettich hin zu den würzigen Perilla-Blättern. Das wichtigste „Banchan“ ist Kimchi, der fermentierte Kohl, dem in Korea ganze Festivals gewidmet werden. Nur wenige Familien bereiten diese Spezialität noch selbst zu, doch viele besitzen einen eigenen Kimchi-Kühlschrank, um ihren Vorrat zu verstauen (und um zu vermeiden, dass der säuerliche Geruch auf andere Lebensmittel übergeht.)






Abenteuerreise in der Markthalle Gwangjang Market
Die Frage nach dem besten Kimchi beeinflusst schon mal die Wahl eines Restaurants, aber wie überall auf der Welt zieht man auch für diese Entscheidung inzwischen die Experten auf Social Media zurate. Gerade in Seoul kann man nach den Hashtags der jeweiligen Stadtviertel suchen und auf diese Weise Bilder von anderen Usern der beliebtesten Gerichte in seiner Nähe finden. Es liegt daher auch im Interesse eines Lokals, möglichst fotogene Gerichte zu servieren, was die Restaurants in Szenevierteln wie Seongsu oder Sinsa ohnehin perfektioniert haben.
Bei Nanpu, einem Fusion-Lokal in Seongsu, versteckt sich ein Türmchen aus Nudeln in einem Sesamdressing unter einem grünen Salat und silbrig glänzendem Oktopus, der geriebene Käse auf Pfannkuchen aus Kartoffeln und Shrimps erinnert an frisch gefallenen Schnee, mit Reis gefüllte Perilla-Blätter glänzen wie grün lackierte Golfbälle.

Lunch im „Nanpo“; der Fast-Food-Klassiker Fried Chicken
Als kleine Kunstwerke entpuppen sich oft auch die Desserts, für die man meistens eigene Cafés besuchen muss, doch Schokolade, Zucker oder Zimt finden ihren Weg auch jenseits des Nachtischs auf den Teller: In amerikanisch inspirierten Lokalen werden schon mal Pommes frites mit Zucker bestreut und frittiertes Hähnchen, ein koreanischer Fast-Food-Klassiker, gibt es auch mit einer zimtigsüßen Glasur. Jeder am Tisch wartet geduldig, bis alle ihre Fotos gemacht haben, dann wird gegessen – und geteilt natürlich, denn fast immer bestellt man mehrere Gerichte, von denen alle essen. Wer allein isst, ruft im schlimmsten Fall das Mitleid anderer hervor – es sei denn, man tut es im Fernsehen, wo Food-Sendungen über essende Menschen ein besonders beliebtes Format sind. Ein eher wenig interessantes Fotomotiv, aver nicht minder essenziell für eine koreanische Mahlzeit ist Reis, worauf man höchstens verzichten kann, wenn man in einem Restaurant einkehrt, das europäische Küche serviert.

Solche Lokale sind in Seoul meistens besonders beliebt und teuer, vor allem wenn sie französisches oder italienisches Essen servieren. Das passt insofern, als auch diese beiden Länder für ihre Ergebenheit zum Essen bekannt sind. In der „Gucci Osteria“, die im vergangenen März auf dem Dach der „Gucci Gaok“-Stores in Itaewon eröffnet hat, wurde dies mal wieder deutlich, als ein Kellner bei einem Abendessen dort von seiner Begegnung mit Massimo Bottura berichtete – der Sternegekrönte Chef der „Osteria Francescana“ in Modena steckt hinter der Küche in allen Gucci-Restaurants in Florenz, Los Angeles, Tokio und nun auch Seoul. „Bottura ist eigens angereist, um uns einzuweisen“, sagte der Kellner mit sanfter Stimme. Zu sanft für den energischen Bottura, der den Kellner bei seinem Besuch angewiesen haben soll, seine Tortellini in Parmigiano Reggiano-Creme mit etwas mehr Hingabe anzupreisen. „,Ich bin ein Tortellino‘ hat er gesagt“, erzählte der Kellner und lacht. Was Bottura wohl meinte: Die Nudeln sind für ihn nicht nur ein Gericht auf der Speisekarte, sie sind ein Teil von ihm selbst.




Der „Emilia Burger“, der in einer rosafarbenen Schachtel mit „Gucci Osteria“-Logo serviert wird, ist dann vielleicht doch eher ein Instagramtauglicher Gag für die, die mit ihrem Smartphone jeden Gang dokumentieren. Die Einrichtung aus goldumrahmten Spiegeln, petrolfarben gepolsterten Stühlen, saftig grün bemalten Holzwänden und sternenförmigen Lichtern an der Decke sollte man jedoch nicht nur durch die Kameralinse bewundern.
Die Lifestyle- und Foodbranche schmeißt gern und so oft mit dem Wort „Erlebnis“ um sich, dass man manchmal vergisst, dass dahinter nicht nur Image-Kampagnen stecken, sondern Gefühle. In Korea darf man essen gehen durchaus als Erlebnis bezeichnen, erst recht den Besuch einer Markthalle wie des Gwangjang Market, wo unzählige Stände eine Vielzahl an Gerichten anbieten: Mungobohnen-Pfannkuchen, Blutwürste aus Mungobohnen und Reis, gefüllte Nudeltaschen, lange, schmale, an Sushi erinnernde und mit Seetang umwickelte Reisrollen namens „Mayak Gimbap“, was übersetzt auch „Droge“ bedeutet (wer sie probiert, weiß, warum). Dazu gibt es Soju oder Makgeolli, fermentierten Reiswein. Wer sich traut und ein Rindertatar bestellt, das mit rohem Oktopus serviert wird, der so frisch ist, dass die Tentakel noch zucken, wird all die Gefühle durchmachen, die ein gutes Erlebnis auslöst:
Erstaunen, Aufregung, Ekel, pures Glück.