Männermode

Phygital

Willkommen im Headquarter von Zegna. Auf dem Berg in Trivero, von dem heute die Männerkollektion für den Sommer 2021 präsentiert wurde. Zurück zu den Wurzeln, hin in die Zukunft.

Schier endlose Gänge, Mietshaus-hohe Regale in einer riesigen Halle. Dicht an dicht stehen die alten hölzernen und modernen Plastik-Container in den Regalen nebeneinander. Auffällig sauber alles. Der Mensch ist klein in diesem Industrie-Ambiente, und doch wirkt es einladend. Man möchte in jede der großen Boxen schauen, über die dicken Garnrollen darin streichen. Sie sind der Ariadne-Faden zur großen Tradition italienischer Stofffertigung. Willkommen im Headquarter von Zegna. Auf dem Berg in Trivero nahe Biella im Piemont, von dem aus Firmengründer Ermenegildo die ganze Region veränderte seit er 1910 als 18-Jähriger in die Firma seines Vaters einstieg, der hier eine kleine Weberei unterhielt.

Er ließ Straßen bauen; in den 30er-Jahren die Stofffabrik errichten, die noch heute feinstes Tuch produziert; er sorgte dafür, dass seine Arbeiter in einem eigenen Krankenhaus medizinisch versorgt werden konnten; ließ 500.000 Nadelbäume in die Berge pflanzen. Die Zeitgenossen wussten manchmal nicht, ob sie ihn für verrückt oder genial visionär halten sollten. In jedem Fall bewunderten sie ihn.

Sein Wohnhaus steht neben der Fabrik, das Grab ist in Sichtachse und auch das Haus, in dem der heutige CEO Gildo Zegna und seine Schwester Anna, Imageberaterin und Leiterin der Stiftung umhertobten, steht hier. Zegna ist ein global agierendes Milliarden-Unternehmen. Und zugleich so familiär und bodenständig, wie es nur noch selten vorkommt.

In der Fabrik kann man Beobachter eines beinahe absurden Aufwands werden: Da werden Merino, Seide, Kaschmir und Vikunja angeliefert, Fasern für Kammgarne parallelisiert und Fäden gesponnen, die zu fein fürs bloße Augen sind; da werden Farben und Garne gemischt, Zentimeter um Zentimeter auf vollelektronischen Stühlen komplizierte Muster gewoben, von Frauen in Kitteln kontrolliert, korrigiert, wieder kontrolliert, gewaschen und gebügelt, bis sie endlich in die Luxus-Welt entlassen werden.

Die Keylooks der Sommer 2021 Kollektion

Es war naheliegend, dass der „Artistic Director“ Alessandro Sartori sich für die Männer-Kollektion, die heute präsentiert wurde, von den Wurzeln des Hauses inspirieren ließ. „Wo alles begann.“ Es war Zufall, dass das Timing insofern perfekt war, als durch Corona auch alle üblichen Schauen-Pläne durcheinander kamen und Sartori neu denken musste, wie er seine Kollektion – „die schönste die er je gemacht hat“, wie der CEO sagte, einem großen Publikum präsentiert.

Zegnas Antwort auf die neue Zeit lautet „Phygital“, also eine Mischung aus Mensch und Technik. Ein Film vom Laufsteg, der in diesem Fall über verschiedene Strecken auf dem Werksgelände führt. Über den Rasen, auf dem ganz früher schon Kollektionen gezeigt wurde, durch die langen Gänge im Lager. 3,3 Kilometer insgesamt, zurück zu den Wurzeln, hin in die Zukunft könnte der Untertitel heißen.

Die Umkleide war im langen Gartenhaus mit den großen Gemälden von Ettore P.Olivera über historische Stoffproduktion untergebracht, absolut Hygienevorschrifts-gerecht, vor den Bildern reihten sich Ständer mit den einzelnen Looks und Moodboards, die Models guckten beim Warten in ihre Smartphones oder plauderten, eine Schminkstation, die typische Atmosphäre, nur weniger wuselig als sonst und das Essen stand in einzelnen weißen Papiertüten bereit.

An der Stirnseite des Raumes, wo die Bügel-Frauen sich eingerichtet hatten, zeigt ein Gemälde einen Händler und einen Edelmann auf einem Marktplatz, in der Hand halten sie ein schmales Tuch: eine Schutzmaske. Wie sie einst getragen wurde, wenn die Pest kam. Das war bislang nie weiter aufgefallen. Und hat den Erfolg nicht aufgehalten.

 

 

 

Text
Inga Griese