Im Zirkus

Die Fabrik der Träume

Keine Marke hat unsere Vorstellung von italienischem Design so geprägt wie Alessi. Jetzt wird sie 100. Zu diesem Anlass tauchen wir noch einmal in ihren Kosmos ein.

Manche halten Alessi für einen Designer. Tatsächlich sind weder Giovanni Alessi, der das Unternehmen 1921 am norditalienischen Ortasee als Manufaktur für Metall-Haushaltswaren gründete, noch sein Enkel Alberto Alessi, der es heute leitet, Designer im landläufigen Sinn. Nur Albertos Vater Carlo entwarf bis 1945 Produkte wie das Tee- und Kaffeeservice „Bombé“, das bis heute im Programm ist. Carlo, bis zu seinem Tod 2009 Firmenpatriarch, erkannte Möglichkeiten des Wandels. Er brachte 1945 mit einem riesigen Posten Messingschöpfkellen für die US-Army den ersten großen Wachstumsschub für das Familienunternehmen, dessen Name später weltweit zum Synonym für Design wurde.

Aufbruch in Farbe

Alberto Alessi trat 1970, mit gerade 23, in die Firma ein. Die ist längst ein etabliertes Unternehmen für Metallverarbeitung – und Albertos Weg im Familienbetrieb scheint vorgezeichnet. Von wegen. „Ich wollte die Atmosphäre verändern“, erinnert er sich. Damals konzentrierte sich die Produktion auf „glänzende und gebürstete Stahlprodukte. Mein Wunsch war es, Farbe und Schwung reinzubringen.“ Schon in den 1950ern hatten Mailänder Architekten mal coole Cocktailshaker für Alessi entworfen. Aber nun leitete Alberto zunächst langsam, später mit großem Nachdruck, den Strategiewechsel ein, der das Experiment mit Material, Form und Farbe zum Ausgangspunkt für jedes neue Produkt nahm. Um sich vorwiegend Marketing, Kommunikation und Design widmen zu können, holte Alberto, seit 2009 Präsident von Alessi, seine beiden Brüder und den Cousin zur Verstärkung. Gemeinsam verwandelten sie den Laden der Alten in die „la fabbrica dei sogni“, die „Fabrik der Träume“.

Sparring-Partner

„Ein gutes Designstück muss Emotionen vermitteln, Erinnerungen wecken, überraschen, gegen den Strom schwimmen“, sagt Alberto Alessi. Populär sein zu wollen und dabei auch ein wenig widerständig, das ist seine Herausforderung. Er suchte sich dafür Gestalter aus aller Welt als Partner. Etwa Richard Sapper, ein 1958 nach Mailand ausgewanderter Münchner, der Schöpfer der berühmten Schreibtischleuchte „Tizio“. Ettore Sottsass empfahl ihn, und eigentlich sollte er für Alessi ein Besteck entwerfen. Nach 18 (!) Jahren Entwicklungszeit war das perfekt in der Form, stellte die Produktion aber vor unlösbare Probleme. Doch in der Zwischenzeit entstanden gestalterische Meilensteine wie „9090“, seine Neuinterpretation der italienischen Espressomaschine für den Küchenherd. Sapper entwarf sie als puristische kleine Dampfmaschine. Sie hat, praktisch wie ästhetisch, einen Schnappverschluss und kann nicht explodieren, sollte man sie auf dem eingeschalteten Herd vergessen. Auch Sappers Wasserkessel mit melodischer Flöte „9091“ wird zur Designikone. Hält man dessen Oberfläche blank, spiegelt sich darin das Umfeld: Der Gegenstand nimmt Beziehung auf zu seiner Umgebung. Sapper wurde Alberto Alessis erster Mentor.

Tee- und Kaffegarnitur „Tea & Coffee Piazza“ Design Alessandro Mendini, 1983.

Ein Projekt, viele Ideen

Der Architekt und Designer Alessandro Mendini wurde 1977 zum langjährigen Berater und Freund. Er koordinierte unter anderem das Forschungsprojekt „Tea & Coffee Piazza“. Es brachte 1983 den internationalen Durchbruch für Alessi: Tee- und Kaffee-Services aus Silber, gebaut wie Mikro-Architekturen, gestaltet von elf der damals bekanntesten Architekten und Designer. Richard Meier war dabei, auch Aldo Rossi, der später die berühmte Espressomaschine „La Cupola“ entwarf, und Michael Graves, von dem auch der Wasserkessel mit dem Vögelchen als Pfeife stammt. Alessi stellte sich damit in die Tradition der Arts-&-Craft-Bewegung, schloss ins Luxussegment auf und signalisierte: Wir können auch anders.

Und sie funktioniert doch!

1986 entwarf ein noch unbekannter französischer Designer eine surreal anmutende Zitronenpresse, die ihm Berühmtheit und dem Unternehmen seinen größten Bestseller einbrachte und die Designwelt bis heute spaltet: Die „Juicy Salif“ von Philippe Starck hat mehr von einem Science-Fiction-Insekt als von einem Gebrauchsgegenstand. Dass sie ihren Zweck nicht erfüllt, ist übrigens ein Vorurteil, wohl in die Welt gesetzt von Form-Follows-Function-Anhängern, die mit ihr Orangen auspressen wollten. Das Ding ist aber eine Zitronenpresse – und als solche funktioniert sie.

Zitronenpresse „Juicy Salif“, Design Philippe Starck, 1986.

Im Märchenwald

Zugleich macht Juicy Salif klar: Es geht nicht allein um die perfekte Erfüllung einer einzelnen Funktion, sondern darum, Ideen in die Welt zu setzen, die neue Wege eröffnen. Ab den 1990er-Jahren befeuerte Alessi das „Mare degli Ogetti“, das Meer der Objekte, wie es Mendini nannte, mit Geschichten, Hausgeistern, bunten Figurinen und (für Alessi) neuen Materialien, hauptsächlich Kunststoff. Es ist die Zeit von „Anna G.“, Mendinis Korkenzieher mit dem lächelnden Gesicht, aber auch von Pinocchio-Trichter und Zahnseide-Abroll-Männchen, von „Merdolino“, der Klobürste als stilisierter Topfpflanze und einer Keksbox in Butterkeksform, die einem aufblasbaren Kissen gleicht. Mit solchen Entwürfen schien Designer Stefano Giovannoni mit ein paar Gleichgesinnten das Portfolio von Alessi zu beherrschen. Stets bewegt er sich irgendwo zwischen Kitsch, Humor und Provokation und liefert verlässlich Bestseller, die auch in Deutschland Küchen und Badezimmer füllen und Design popularisieren, aber auch einiger Inhalte berauben. Jasper Morrison und Naoto Fukasawa setzten ihre sachlichen Metallobjekte dagegen, die sie selbst „Super Normal“ nennen. Im Universum Alessi hat alles Platz, auch der Widerspruch.

Trichter „Pino“, Design Stefano Giovannoni und Miriam Mirri, 1993.
Korkenzieher „Anna G.“, Design Alessandro Mendini, 1994.
Eierbecher „Cico“, Design Stefano Giovannoni, 1993.
  Nussknacker „Circus Strongman“, Design Marcel Wanders, 2016 – 2019.
Shaker „870“, Design Carlo Mazzeri & Luigi Massoni, 1957.
Spieluhr „The Ballerina“, Design Marcel Wanders, 2016 – 2019.
Wasserkessel „9093“, Design Michael Graves, 1985.

Mehr über Alessi.com

Im Zirkus

Als „Italian Design Factory“ kooperiert Alessi mit mittlerweile 300 Gestaltern und Gestalterinnen. Das Netzwerk für neue Autoren offen zu halten, sieht Alberto Alessi als eine seiner wichtigsten Aufgaben. So gesehen lieferte der Niederländer Marcel Wanders 2016 vielleicht das schönste Porträt der Firma in Einzelobjekten: ein Clown als Korkenzieher, ein dressierter Elefant als Spieluhr und ein starker Mann als Nussknacker. Hübsche kleine Sensationen, keineswegs unentbehrlich. Gerade deshalb möchten wir sie unbedingt um uns haben. Die Kollektion heißt „Circus“. Es ist klar, wer der Direktor ist.

Zum Geburtstag

Anfang 2019 erlebte Alessi eine massive Krise, organisierte den Vertrieb neu, reduzierte Kosten, strich schmerzhaft die Backlist zusammen. Es wurde ein Investor (Oakley Capital) gefunden, der hilft, sich dem globalisierten und digitalisierten Markt anzupassen, ohne dass Designkompetenz und Stärke der Marke leiden. So kann jetzt befreit gefeiert werden. Jeden Monat bis März 2022 werden Dinge neu aufgelegt, die die Werte der Firma verdeutlichen. Den Anfang machen Objekte von Ettore Sottsass, Andrea Branzi und Kuno Prey aus der „Twergy“-Kollektion von 1989, mit der Alessi das traditionelle Holzhandwerk der Region um den Ortasee für sich erschloss.

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Thomas Edelmann