Systemsprenger

Kunst oder Mode?

Er schafft in seinen Kollektionen beides. Die Entwürfe des Designers Tom Van Der Borght lassen sich nämlich in keine Schublade stecken. Das ist ihm ganz recht so.

Für das Zoom-Interview hat sich Tom Van Der Borght das perfekte Oberteil ausgesucht. Ein blau-rotes Hemd mit auffälligem Kettenprint, der Stil Vintage-Versace gemixt mit „New Celine“. „Hat einen Euro gekostet“, sagt der Designer schmunzelnd. Secondhandmode mag gerade in aller Munde sein, aber der Belgier erfreut sich nicht erst seit gestern an Schätzen, die frühere Besitzer nicht mehr haben wollen. Sein Haus in seiner Heimatstadt Gent sei voll mit Fundstücken. „Erst sammelte ich diese aus der Not heraus, weil man sich als Künstler nun mal nichts Teures leisten kann und Schönheit in den Dingen findet, die sonst niemand haben will.“ Inzwischen bestimmt diese Notlösung nicht nur Van Der Borghts persönliche Garderobe und Einrichtung, sondern seine Arbeit.

Denn der 42-jährige Designer kreiert von Hand extrem komplexe und detailreiche Mode-Entwürfe, in denen er oft Gefundenes und Weggeworfenes aus banalen Alltagsmaterialien verarbeitet. Das Ergebnis ist Handwerk auf Haute Couture-Niveau. Ein Look von Tom Van Der Borght sieht nicht selten aus wie eine explodierte Wundertüte, deren kunterbunter Inhalt zu einer kokonförmigen Silhouette gefroren ist. Da sprießen Plastik-Halme aus Kopf und Füßen, Bommel, Fransen und Lametta schmücken den Torso wie einen im Drogenrausch dekorierten Weihnachtsbaum, ein Allerlei aus aufgestickten Symbolen, Worten und Mustern bedecken alte Wollstoffe, die der Designer in Recycling-Geschäften in seiner Heimatstadt aufgesammelt hat. Van Der Borght stellt seine Entwürfe an Männern vor, doch als „Männermode“ würde er sie nicht beschreiben. „Ich denke generell nicht in Schubladen. Ich bin spezialisiert darin, kein Spezialist zu sein“, sagt er und versteht sich eher als multidisziplinärer Kreativer denn als Modedesigner. Doch sein Mut, Grenzen zu überschreiten, hat gerade in der Mode viel Aufsehen erregt. Auf dem bekannten Mode-und-Fotografie-Festival von Hyères gewann der Belgier in diesem Jahr den wichtigsten Modepreis, verliehen von einer Jury unter der Leitung von Jonathan Anderson, ebenso wie den Publikumspreis. Als Gewinner darf er im kommenden Januar auf der Mercedes-Benz Fashion Week Berlin seine Kollektion vorstellen.

Eine Chance für einen aufstrebenden Designer, doch Tom Van Der Borght ist streng genommen gar nicht mehr so aufstrebend. Sein Label TVDB gründete er im Jahr 2013, ein Jahr nach seinem Abschluss an der Modeschule Stedelijke Academie voor Schone Kunsten in Sint-Niklaas. Sein Studium dort begann er erst im Alter von 30 Jahren, da hatte er schon eine Karriere als Sozialarbeiter hinter sich. „Für mich stand eigentlich mit 18 schon fest, dass ich entweder ans Theater oder in die Mode gehen wollte. Als Kind lebte ich in meiner eigenen Welt. Ich spielte mit den Puppen meiner Schwester, kleidete sie in selbst genähte Mode, inszenierte Theaterstücke im Wohnzimmer.“ Die Eltern beeindruckte das nicht: Sie bestanden auf einer Ausbildung in einem Beruf jenseits von Bühne und Laufsteg. Doch auch wenn der Sohn dann in seiner Arbeit aufging – seine eigene Erfahrung als Außenseiter, sagt er, habe ihm beim Umgang mit orientierungslosen Jugendlichen geholfen –, seine eigentliche Leidenschaft vergaß er nie. Und der Drang, sie auszublenden, wurde umso stärker, als bei ihm mit 26 Jahren eine seltene Neuropathie namens Charcot-Marie-Tooth diagnostiziert wurde. „Diese Krankheit bewirkt, dass die Nerven in meinen Armen, Händen, Beinen und Füßen im Laufe meines Lebens zunehmend verkümmern. Jede Muskelbewegung kostet mich dreimal so viel Anstrengung wie andere Menschen“, sagt er und fügt lachend hinzu: „Nach der Diagnose verstand ich, warum ich im Sportunterricht immer so schlecht war.“

Es ist nicht nur Tom Van Der Borghs gelassener und offener Umgang mit seiner Krankheit, die so beeindruckt. Sondern die Tatsache, dass er diesen schweren Moment als Chance nutzte, um seinen Traum wahr zu machen. „Mir war einfach klar: Das Leben ist begrenzt. Und ich sollte einfach das machen, was ich will.“ Umso besser, dass sich die Nähmaschine als perfektes Trainingsgerät entpuppte, das seine Muskeln beansprucht aber nicht überstrapaziert. Mit ihr vollbringt der Designer Meisterleistungen, die die Gesellschaft Menschen mit Handicaps oft nicht zutraut. Gerade deswegen wolle er seine Geschichte erzählen. „Ich habe meine Krankheit nie als Hindernis betrachtet.“

Tom Van Der Borght

Am Montag, 18.1. um 18 Uhr eröffnet Tom Van Der Borght die Mercedes-Benz Fashion Week in Berlin. Diese findet diese Saison rein digital statt. Von 18. bis 20. Januar 2021 wird aus dem Kraftwerk in Berlin Mitte ein vielfältiges Programm aus Laufstegpräsentationen, Ausstellungen, virtuellen Panel Talks und Atelierbesuchen gestreamt. https://mbfw.berlin/

 

Text
Silvia Ihring