Thomas de Kluyver hat es vom Autodidakten zum Global Make-up Artist von Gucci Beauty geschafft. Weil er den unperfekten Look so perfekt beherrscht.
Make Makel
Die Arbeitsuniform hätte man auch gerne: Eine Gucci-Weste bedruckt mit GG-Monogramm, weinrote, mit einem Tiger bestickte Stiefel, schwarze Umhängetasche mit Logoverschluss. So ausgestattet sitzt Thomas de Kluyver auf einem Samtsofa in einer Suite des „Sunset Tower Hotel“ in Hollywood. Er wäre das perfekte Model für seinen Arbeitgeber, mit der schmalen Figur, den hohen Wangenknochen, die von zwei winzigen, aber blitzenden Ohrringen flankiert werden. Doch de Kluyver legt lieber selbst Hand an. An die Gesichter der jungen Männer und Frauen, die für das italienische Modelabel in dessen Schauen oder Kampagnen auftreten. Er schmiert ihnen Mascara unter die Augen, sodass es aussieht, als habe sich die Farbe nach einem Tränenausbruch über die Wangen verteilt. Er beklebt ihre Lippen mit knallrotem Glitter. Er begräbt Männerlider unter hellblauem Lidschatten oder zeichnet ihnen Raubtiergesichter auf die Wange.
Der 34-Jährige selbst sieht an diesem sonnigen Nachmittag sehr natürlich aus, doch es gab Zeiten, da hat er dick aufgetragen. „Ich bin in Perth in Australien aufgewachsen. Meine Freunde und ich sind viel ausgegangen, auf Raves und Partys in verlassenen Lagerhäusern, und ich habe uns alle dafür geschminkt“, sagt er und lacht in Erinnerung an vergangene Zeiten, als er zu Drum ’n’ Bass die Nächte durchtanzte. De Kluyver hat nie eine Make-up-Schule besucht, doch das Nachtleben hat ihm alles beigebracht, Bücher wie „Makeup your Mind“ von François Nars lieferten die Inspiration.
Umso beeindruckender, dass der Autodidakt vor etwas über einem Jahr zum Global Make-up Artist von Gucci Beauty ernannt wurde. Damals arbeitete das Haus unter der Führung von Chefdesigner Alessandro Michele gerade an einer komplett neuen Kosmetiklinie. De Kluyver, der mit 20 Jahren nach London zog und dort zunächst als aufwendig geschminkter Türsteher arbeitete, hatte sich als aufstrebendes Make-up-Talent einen Namen gemacht, bei Magazinshootings für Hefte wie „Dazed & Confused“ oder Modenschauen von Marken wie Hugo Boss, Sies Marjan oder Kenzo gearbeitet. Bis der Anruf kam.
„Ich saß im Taxi auf dem Weg zum Flughafen in New York, hatte gerade einen Job beendet und wollte zurück nach London fliegen. Plötzlich rief mich mein Agent mit der Nachricht an, dass Alessandro Michele mich in Los Angeles treffen wolle.“ Umbuchen, Flieger wechseln, und am nächsten Morgen saß er mit dem Kreativdirektor von Gucci beim Frühstück im „Chateau Marmont“.
Es scheint offensichtlich, dass der Designer mit einer Vorliebe für Antikschmuck und der experimentierfreudigen Londoner mit den Perlen seiner Urgroßmutter um den Hals sich gut verstanden. „In meiner Arbeit geht es um Geschlechter und Identität und ich mag es, feminine mit maskulinen Elementen zu verbinden“, sagt er. Sein Ansatz passt nicht nur zu Gucci. Er reflektiert einen allumfassenden Geisteswandel unter Beauty-Fans, für die Make-up kein Werkzeug zum Zweck der gesellschaftlichen Anpassung und Normerfüllung mehr ist, sondern ein Spielzeug, mit dem man den Spaß am eigenen Selbstausdruck erhöht. Der Makel, das Individuelle, wird dabei nicht versteckt, sondern offenbart und vielleicht sogar betont. So wie in der ersten Kampagne von Gucci Beauty, für die das Zahnlücken-Lächeln der amerikanischen Punk-Sängerin Dani Miller fotografiert wurde. „Es sind doch gerade diese Makel, die uns schön machen“, sagt de Kluyver. Vor einigen Jahren noch hätten die Models einer Modenschau alle das gleiche Make-up getragen. „Das machen wir bei Gucci heute nicht mehr. Wir entscheiden von Model zu Model. Der eine wird geschminkt, der andere vielleicht nicht. Es geht darum, individuelle Looks für jeden Charakter, für jedes Gesicht zu gestalten, anstatt allen eine Idee aufzuzwingen.“
Das bedeutet viel Arbeit. Der Make-up-Künstler leitet ein großes Team in seinem Londoner Büro, hat Mitarbeiter, die in Bibliotheken nach Inspirationen für das Moodboard suchen. Flugreisen (in normalen Zeiten) bieten die nötigen Stunden Unerreichbarkeit, in denen er sich in Ruhe seinen Notizbüchern widmet. „Ich zeichne viel, hauptsächlich in Flugzeugen und Zügen. Ich habe einmal auf einem Flug nach Los Angeles entschieden, dass mir ein Projekt, das in London vorbereitet wurde, nicht gefiel. Also habe ich während des Fluges alles komplett neu gezeichnet“, sagt er. Für die Arbeit am Set stehen ihm nach und nach mehr Produkte aus dem eigenen Haus zur Verfügung. Nachdem Gucci im Mai vergangenen Jahres zunächst einen Lippenstift lancierte, folgte in diesem Frühling das Debüt der neuen Mascara „L’Obscur“. „Man kann damit sehr natürliche Wimpern schminken, oder die Farbe in mehreren Schichten richtig dick und verklumpt auftragen.“ Maximale Freiheit am Schminktisch.