Intim

Tote Hose

Auch das Begehren leidet in der Pandemie, ob allein vorm Rechner oder lustlos zu zweit. Therapeutin Katrin Hinrichs behandelt immer mehr Männer. 

Katrin Hinrichs ist klinische Sexualtherapeutin. Nichts Menschliches ist ihr fremd. Schon am Telefon klingt sie zugewandt und unerschütterlich. Die Hamburgerin arbeitet nach dem sogenannten Sexocorporel-Prinzip, einer körperbezogenen Therapieform, die ursprünglich aus Kanada kommt, von ihr in der Schweiz erlernt wurde und die Gesprächstherapie mit Körperübungen verbindet. In ihrer Praxis im Stadtteil Eppendorf behandelt Hinrichs Menschen, die unter Lustlosigkeit, Erektions- oder anderen Sexualstörungen leiden. 40 Prozent ihrer Patienten sind männlich. Seit dem Beginn der Pandemie sind es aber deutlich mehr geworden. Vor allem junge Männer.

ICON: Nach einem Jahr Corona: Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf das Sexualleben von Männern?

Katrin Hinrichs: Gerade junge Single-Männer tun sich schwer. Alles, was ihr Leben auszeichnete, fiel plötzlich weg. Die Freiheit, die Möglichkeiten – auch sexuell. Stattdessen Einsamkeit, Isolation, Langeweile, Ängste. Das kannten diese Männer gar nicht. Auch wenn das natürlich schwer zu vergleichen ist: Sexuell erinnert mich die Situation an die frühen 80er-Jahre, als Aids sich ausbreitete. Damals waren junge Männer auch gezwungen, ihr Sexualverhalten komplett neu zu bewerten. Statt Alles-ist-möglich hieß es: Der Penis bleibt erst mal zu Hause.

Damals gab es aber kein Internet …

Stimmt. Und die Sexualität hat sich in der Pandemie noch weiter ins Digitale verschoben. Die meisten der jungen Männer, die zu mir in die Praxis kommen, sind – man kann es nicht anders sagen – pornogeschädigt.

Für die Generation Pornhub war die Situation, monatelang allein mit ihrem Bildschirm zu sein, sicher nicht förderlich.

Jedenfalls nicht für eine gesunde Sexualität. Es ist tatsächlich so, dass sich viele junge Männer eine Art Pornosucht angeeignet haben. Das war schon vor Corona ein Riesenproblem. Jungs fangen ja mit 13, 14 Jahren an, stehen auf dem Schulhof und schauen sich die ersten Pornos an. Klar wissen sie, was sie da sehen – aber wissen sie auch, was es mit ihnen macht? Es gibt dazu wissenschaftliche Studien: Wenn junge Männer mit 17 oder 18 ihr „erstes Mal“ erleben, haben fast alle schon eine „Karriere“ von vier, fünf Jahren Pornokonsum hinter sich. Wir reden in der Sexualtherapie gern davon, welche Skripte sich junge Männer angelegt haben. Sexualität ist ja ein erlernter Prozess, die fällt ja nicht wie Manna vom Himmel. Und diese jungen Männer haben im Kopf: Sex ist immer scharf, wild, hart, schnell, leidenschaftlich, und der Mann muss immer kommen. Zudem muss sein Penis eine gewisse Größe haben, ebenso die Brüste der Frauen. Auf der anderen Seite stehen dann sie selbst – und die Frauen, auf die sie dann im analogen, echten Leben treffen.

Und dann kommt es zum Clash?

Ja, und mir tut das so leid. Mit echtem Spüren, mit Spaß am eigenen und anderen Körper hat ein Pornoskript nichts zu tun. Das kann nur schiefgehen. Ich will dem Sexualunterricht nichts vorwerfen, aber da kommt doch im Maximalfall die Banane mit dem Kondom zum Einsatz. Was aber Sexualität bedeutet, was es für eine Beziehung bedeutet, für die Beziehung zum eigenen Körper, das lernen sie ja nicht. Sexualität mit jemandem zu haben bedeutet: Du fühlst dich angenommen, du fühlst dich begehrt, du fühlst dich geliebt. Pornografie dagegen fokussiert sich auf eine Sache – die dann auch noch allein am Bildschirm erlebt wird.

Hat der Pornokonsum auch körperliche Auswirkungen?

Es ist doch so: Da sitzen die Männer vor dem Computer, allein, die Körperhaltung eher verkrampft, die Maus links, die Hand rechts um den Penis. Ich frage meine Patienten sehr konkret: Wie viel Druck üben Sie auf den Penis aus? Auf einer Skala zwischen eins und zehn? Oft kommt dann: neun oder zehn. Das funktioniert ja beim Solosex prima, aber wenn diese jungen Männer auf eine echte Frau treffen …

Ein Beispiel?

Ein junger Mann, Student, wurde mir von einem Urologen geschickt. Er hatte den typischen Weg hinter sich: Pornografie, seit er 13, 14 war, mehr und schärfer. Mit 18 verliebte er sich, es sollte zum ersten Mal kommen, er war aufgeregt – und es ging nichts bei ihm. Darauf hat er sich das Viagra besorgt, aus der Apotheke seines Onkels. Das funktionierte, aber nicht so verlässlich, wie man meinen sollte. Es geht ja immer darum, die Erektion zu halten und auch steuern zu können. Irgendwann hat es auch mit Viagra nicht mehr geklappt – und da wurde er echt panisch. Der Urologe, der ihn durchgecheckt hat, befand: Körperlich ist eigentlich alles in Ordnung.

Konnten Sie ihm helfen?

Ja, aber das war ein längerer Weg. Konkret vereinbarte ich mit ihm: Pornografie reduzieren, nur noch zweimal die Woche. Dafür Sport machen. Und wenn das Bedürfnis kommt, einfach mal Augen schließen und Fantasien entwickeln. Es ging bei ihm darum, den eigenen Körper neu und anders kennenzulernen. Wir sind über Monate alles durchgegangen. Wie atmet er wann? Wie bewegt er sich? Wie fasst er sich an? Er musste lernen, sich und seinen Penis erst mal wieder zu resensibilisieren.

Gibt es bei Frauen auch ein Pornoproblem?

Viel weniger. Der Großteil der Konsumenten sind Männer. Junge Frauen schauen aber zunehmend Pornografie, weil sie wissen wollen, was die männliche Seite von ihnen erwartet. Frauen reagieren dabei ebenso auf Bilder und Skripte. Durch Pornos, Instagram und Co. setzen sich Bilder im Kopf fest, wie man aussehen muss. Denn sie wissen von Online-Datings: Du musst sofort „matchen“ oder du wirst weggewischt. Es gibt keine Chance auf einen zweiten Blick.

Und welche Folgen hat das?

Nicht zufällig haben wir bei jungen Frauen bereits so viele Schönheitsoperationen. Die lassen sich die Brüste vergrößern oder die Vulva verkleinern. Die Jungs machen Fitness oder rasieren sich den Körper. Bei Penisverlängerungen, gerade bei jungen Männern, ist Deutschland sogar führend. Auch die Nachfrage und Nutzung von Sextoys, das höre ich in meiner Praxis, ist enorm gestiegen.

 Was erwarten Männer von Ihnen?

Es geht oft darum, Blockaden aufzulösen, sich wieder spüren zu wollen, Sex nicht als Stress zu empfinden, Alternativen aufgezeigt zu bekommen. Denn es geht beim Sex nicht darum, als Schnellster am Ziel zu sein, sondern um Erleben und Genuss.

Wie bedeutend ist aktuell die jeweilige Lebenssituation?

Probleme haben alle mit der Situation, aber in unterschiedlichen Ausprägungen. Männer, die in Beziehungen leben, haben oft sogenannten Dichtestress. Die hocken mit ihrer Partnerin in einer Weise aufeinander, wie sie es noch nie erlebt haben. Erzwungene Nähe kann ganz schnell toxisch werden. Wenn dann auch noch Kinder dazukommen, die auch die ganze Zeit da sind und gestresst von der Situation sind, dann potenziert sich der Dichtestress.

Wird die erzwungene Zweisamkeit zu einer Corona-Baby-Welle führen?

Wir reden hier über Sex. Sex bedeutet Begehren. Was ständig vor deiner Nase sitzt, das begehrst du nicht. Deshalb rate ich meinen Patienten auch immer: Lass den Partner auch mal in Ruhe. Und zu den Corona-Babys: Ein Ereignis wie der Stromausfall in New York, der zu einem Babyboom führte, war eine einmalige Situation. Die kann animierend sein. Ein monatelanger Lockdown ist Zermürbung. Dazu vielleicht ein Partner, der von morgens bis abends in seiner Lieblingshose in der Wohnung sitzt. Wie soll da sexuelle Spannung aufkommen?

Gibt es Unterschiede, wie Männer und Frauen auf die Pandemiesituation reagieren?

Frauen machen sich deutlich mehr Sorgen, haben oft starke Zukunftsängste, die den Gedanken an Sex in den Hintergrund treten lassen. Bei Männern gibt es viele, die Sex gerade in so einer Situation brauchen. Diese Männer – auch ein großes Beziehungsthema – verlieren sich dann übrigens auch gern in Pornografie, was wiederum zu Heimlichkeit und Scham führt. Und dazu, dass sie keine Lust mehr auf koitales Begehren haben.

Und was passiert dann?

Wenn das Nicht-mehr-begehren-Können zu Erektionsproblemen führt, was oft so ist, dann ist natürlich das Selbstbildnis eines Mannes massiv bedroht. Er steht, er ist, ich bin – die Identitätskarte eines Mannes ist die Erektion.

Und wie reagieren Männer, wenn sie nicht mehr „Ich bin“ sagen können?

Hilflos, gerade junge Männer. Neulich hatte ich einen Beau von einem Kerl, zwanzig, der nur noch geweint hat. Der bekam Panikattacken, wenn ein Mädchen womöglich Sex mit ihm will. Was war passiert? Er wollte sein erstes Mal, hatte zu viel getrunken, es hat nicht funktioniert. Passiert vielen jungen Männern, so ein „Anfangshänger“. Es kam zum zweiten Versuch, er bekam wieder keine Erektion – und dann hat das Mädchen das Malheur per Whats-App in der ganzen Klasse verbreitet. Damit war alles aus. Versagensängste, totale Vermeidungsstrategie – und das bei einem, der den Ruf des It-Boys hat. Sein Vater hatte ihn bei mir angemeldet, was eher unüblich ist – er hatte es ihm „gebeichtet“. Das fand ich ganz toll.

Und wie gehen Sie dann konkret vor?

Ich mache immer eine klassische Anamnese. Dann frage ich: Wann hatte er Lust? Wie war das? Ich rede auch viel über den Körper: Atmung, Spannung, Beweglichkeit. Es geht um den Beckenboden. Total unsexy. Männer verdrehen dann immer erst mal die Augen. Dann sage ich: Wo sitzen Sie denn gerade drauf? Mache Übungen und gebe auch welche für zu Hause mit. Dann merken sie Veränderungen und beginnen sich zu beobachten und zu lernen. Wenn alle Männer wüssten, was ihnen so ein Beckenboden Gutes tun kann, dann würden sie im Fitnessstudio nicht ihren Bizeps trainieren, sondern ihren Beckenboden.

Und was ist mit dem „neuen“ Mann, der ein anderes Bild von Männlichkeit lebt?

Hört sich prinzipiell gut an. Die das erfolgreich leben, sehe ich aber nicht in meiner Praxis. Natürlich haben wir heute eine große Freiheit. Mit der Freiheit ist aber auch der Druck gewachsen: Ein toller Liebhaber soll der Mann sein, erfolgreich, ein cooler Typ. Dazu aber auch der beste Kumpel, ein guter Zuhörer, sensibel, lustig, ein guter Vater und in der Nacht genau wissen, was er mit ihr macht – ohne dass sie ihm ihre Wünsche groß erklären muss. Der Performancedruck ist riesig.

Text
Volker Corsten
Bilder
Getty Images