Suitou Nakatsuka

Schönheit und Leerstelle

Rhythmus und Spiritualität bilden die Voraussetzungen für Suitou Nakatsukas Kalligrafiekunst. Jetzt gestaltet sie die Verpackungen der Luxuskosmetikmarke Sensai – als Verbindung zum japanischen Kunst- und Kulturerbe.

Kalligrafie gilt gemeinhin als die Kunst des Schönschreibens. Suitou Nakatsuka hat es damit weit gebracht: Sie ist Shodo-Künstlerin und ihre Arbeit international bekannt. 2016 hatte sie eine groß angelegte Ausstellung im Salon des Beaux Arts im Louvre, und vor allem Luxusmarken wie der Uhrenhersteller IWC oder auch das Pariser Hotel „Le Meurice“ schätzen ihre Arbeit. Ihr Stil ist fließend, modern und assoziativ – einfach sehr persönlich. Jetzt ist die 41-Jährige erstmals eine Kooperation mit Sensai eingegangen und gestaltete mit ihren Pinselstrichen die Verpackungen der bestverkauften Produkte des japanischen Kosmetikkonzerns. Der aktuellen Lage entsprechend fand das Interview nicht in Tokio statt, wo die Künstlerin lebt, sondern per Telefon.

Frau Nakatsuka, seit Ihrem vierten Lebensjahr sind Sie mit der Kalligrafie vertraut, was machte das für ein Kleinkind so anziehend?

Ich war fasziniert davon, wie ausdrucksstark ein einzelner Strich mit einem Pinsel sein kann. Die Elastizität des Pinsels, seine Bewegungen erschienen mir tierähnlich.

Welche Fähigkeiten braucht man als erwachsene Kalligrafin?

Bei der Kalligrafie ist ein stabiler Geisteszustand wesentlicher Teil der Technik. Jeder Mangel an Vertrauen kann sich in der Arbeit zeigen. Darüber hinaus achte ich auf die Bedeutung von ‚Yohaku-bi‘. Das ist der japanische Ausdruck für Leerraum, also das, was zwischen Zeichen passiert.

Eine Art Rhythmusgefühl?

Ja, das ist sehr wichtig. Obwohl einige rhythmische Techniken mit der Zeit erlernt werden können, ist es aber vor allem die Kanalisierung eines kreativen Flusses, die erforderlich ist, um diesen rhythmischen Flow zu beherrschen.

Wie bringen Sie sich in diesen Flow?

Zu Beginn zeichne ich oft einen „enso“, was die japanische Bezeichnung für „handgezeichneter Kreis“ ist und auch den Moment ausdrückt, in dem der Geist frei ist, den Körper gestalten zu lassen. Ich stelle mir eine schöne Welt vor, um mich mit Ruhe dem Papier nähern zu können.

Ist Kalligrafie eine Kunst- oder eine Designform?

Es ist vor allem etwas Persönliches, die Kunst, sich selbst durch Schrift auszudrücken. Eine Art Spiegel, der das zukünftige Selbst zeigt. Ihr gegenwärtiger Geisteszustand und der Ihres Herzens werden tendenziell reflektiert, aber auch der gewünschte Zustand in einer künstlerischen Projektion.

Also braucht es spirituellen Zugang?

Es kommt darauf an, ob der Betrachter in einer Arbeit einen künstlerischen Entwurf oder eine spirituelle Botschaft sieht. In Japan wurden Kalligrafie und Kunst einst als getrennte Einheiten betrachtet. Mit dem Aufkommen des Expressionismus in den westlichen Kulturen begann auch die Kalligrafie als Kunst anerkannt zu werden. Inzwischen ist sie auch eine Gestaltungstechnik.

In Japan haben Sie einen Bestseller über das Erlernen von schönerer Schrift geschrieben. Hat Sie der enorme Erfolg Ihres Buches und das Interesse an Ihrer Arbeit überrascht?

Ja, schon. In den letzten Jahren haben bequemere Methoden wie Tippen das Schreiben ersetzt. Ich glaube jedoch, dass ein handgeschriebener Text, der physische Akt des Schreibens, Emotionen und Gedanken hervorruft, die durch die Bequemlichkeit des Tippens verloren gehen.

Die Kraft der Striche: Suitou Nakatsuka übersetzt Energien und Gefühle – so auch das ICON-Logo

Ist es deswegen wichtig, Traditionen zu pflegen?

Die Verbreitung des Internets hat die Welt kurzsichtiger gemacht. Bei der Suche nach Antworten gerät die Bedeutung des Entdeckungsprozesses in Vergessenheit. Die Kenntnis von Geschichte, Tradition und Kultur führt zu einer größeren Sorgfalt und Gründlichkeit. Und das kann uns im Leben stärken.

Die Kooperation mit Sensai ist Ihre erste Zusammenarbeit mit einer Kosmetikfirma, wie passen die Welten zusammen?

Der Wunsch, einen einzelnen schönen Moment auszudrücken, ist beiden Kunstformen, ich würde Make-up dazu zählen, gemeinsam. Und Make-up kann einen Menschen selbstbewusster machen, indem es ihm erlaubt, seine Persönlichkeit so auszudrücken, wie sie aus ihm herausfließt.

Sehen Sie Parallelen zwischen Ihrer Kunst, Ihrer Arbeitsweise und der eines Maskenbildners?

Wir benutzen beide Pinsel. Maskenbildner können den Ausdruck einer Person verändern, indem sie nur einen einzigen Schatten auf dem Gesicht erzeugen, und Shodo-Künstler können die gesamte Energie eines Werks mit einem einzigen Tintentropfen oder Pinselstrich verändern.

Was erhoffen Sie sich von Kundinnen, die Ihre Arbeit in der Hand halten?

Ich wünsche mir, dass sie sich sowohl körperlich als auch geistig wohlfühlen, dass sie aufblühen – mit geschmeidiger Haut und sanftem Herzen.

Text
Susanne Opalka