Von Kathmandu nach Borken und zurück: Das Dwarika’s ist das berühmteste Hotel Nepals. Eine Geschichte von Rebellion und Tradition. Heike Blümner folgte ihr.
Zimmer mit Weitsicht
Fenster sind im Dwarika’s kein rein praktisches Feature. Im übertragenden Sinne sind sie das Fundament, auf dem das vermutlich bekannteste Hotel Nepals vor 60 Jahren gegründet wurde. Stößt man hier morgens die Fensterläden seines Zimmers auf, blickt man auf den Innenhof, auf dem sich das Hotelleben wie auf einer südasiatischen Piazza mit den Ritualen des Tages abspielt: Frühstück oder auch das traditionelle Dal Baht werden hier eingenommen, Bekanntschaften geschlossen, Gespräche geführt. Oder es wird einfach nur geguckt, denn das Dwarika’s ist nicht nur ein familiengeführtes Hotel mit Gästen aus aller Welt, sondern auch ein gesellschaftliches, kulturelles und in gewisser Weise politisches Zentrum des Landes: Diplomaten, Journalisten, Ärzte und Mitarbeiter von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen treffen hier auf Touristen und hin und wieder dem ein oder anderen dem Buddhismus nahestehenden Hollywoodschauspieler.
Blick in den Innenhof, auf die Säule, die die Asche des Gründers Dwarika Shresta enthält
Es ist wie ein kleines Dorf, ein Areal von über 6000 Quadratmeter mitten in Kathmandu. Bäume und Blumen wachsen auf dem Hof, der auf allen Seiten von mehrgeschossigen Backsteinhäusern mit historischen Holz-Giebeln, Fenstern und Vorsprüngen begrenzt wird. Ein paar helle Sonnenschirme mit Tischen stehen locker verteilt. Dazwischen ragt eine Säule empor, ebenfalls aus ornamentalem Backstein mit einem geschwungenen “D” aus Stahl als Krone. Darin befindet sich ein Teil der Asche des 1992 verstorbenen Gründers des Hotels, Dwarika Shresta. Jeden Morgen kommt seine Familie dort hin, „um ihm Respekt zu zollen und um seinen Segen für den Tag zu bitten”, sagt seine Tochter Sangita Shresta Einhaus. Die 65-Jährige hat das Dwarika’s zu dem gemacht, was es heute ist, und leitet es zusammen mit ihrem 37-jährigen Sohn Vijay in zweiter beziehungsweise dritter Generation. Sie ist es auch, die diese Säule errichtet hat:
„Mein Vater war davon überzeugt, dass unsere Familie eine Säule der Gastfreundschaft, der Gesellschaft und unseres Landes sein soll“
Viele Menschen zählen auf die Kontakte und konkrete Hilfe, die von hier ausgeht. Und die Strahlkraft der Hoteliersfamilie reicht weit über den asiatischen Kontinent hinaus – sogar bis in die westfälische Kleinstadt Borken.
Alles beginnt jedoch im kleinen Kreis. Dwarika Shresta, der Hotelgründer, war ein für seine Zeiten außergewöhnlicher Mann, verheiratet mit einer mindestens ebenso außergewöhnlichen Frau: Ambica Shresta ist 90 Jahre alt und eine höchst lebendige Erscheinung. Wie die ganze Familie lebt sie heute in einem privaten Bereich des Hotels. Ambica ist die bekannteste Frauenrechtlerin Nepals, politische Aktivistin, Beraterin von Unicef, Konsulin von Spanien und Vorsitzende zahlreicher gemeinnütziger Organisationen. Sie hat den ersten Kindergarten für Arbeiterinnen einer Fabrik in Nepal gegründet, sich unter anderem für Krankenhäuser, den Zugang zu Verhütungsmitteln, das Stillen und die Alphabetisierung im Land engagiert. Sogar am Brandenburger Tor demonstrierte sie für ihre Anliegen. Die Anzahl ihrer Auszeichnungen, Urkunden und Medaillen ist nicht mehr zu überblicken, junge nepalesische Mädchen bitten sie um Autogramme oder um ein Foto. Sie ist eine Berühmtheit, eine Influencerin im besten Sinne, die Social Media nicht braucht.
Geboren wurde sie in einer Zeit als Nepal noch ein von der Außenwelt abgeschlossenes Reich war und für Mädchen eigentlich nur die Ehe vorgesehen war – auch ihre mit Dwarika aus Kathmandu war arrangiert. Doch ihre einflussreiche Familie, die den indischen Bundesstaat Sikkim prägte, schickte das wissbegierige Mädchen nach Indien aufs Internat: „Ich saß nie ruhig zu Hause rum und ich brauchte Bücher”, erzählt sie, als wir abends bei einem Glas Rotwein in ihrem Büro sitzen und sie ihr Leben Revue passieren lässt. Ihre junge Ehe mit Dwarika begann mit einem Bruch:
Standesgemäß lebten sie zunächst mit seiner Großfamilie in Kathmandu, aber für ihre progressiven Vorstellungen war dort wenig Platz.
Eindrücke und architektonische Details vom Hotelgelände
Tochter Sangita war gerade geboren, als die Eheleute den Entschluss fassten, auszuziehen: „Die Familie, auch noch mit einem Baby zu verlassen, galt als unerhört. Wir brachen die Regeln und wurden verbannt. Das führte zu viel Not und harter Arbeit.”
1957 ziehen sie auf das heutige Hotel-Grundstück, das damals abseits von Kathmandu lag, „in die Wildnis.” Sie wohnten in dem kleinen Haus, in dem heute die Hotelbar untergebracht ist, hatten Vieh, betrieben Landwirtschaft. Dwarika war in zahlreiche Unternehmungen involviert, arbeitete später auch für die Regierung. Eine seiner Entscheidungen sollte jedoch besonders folgenreich sein: Bei seinen Spaziergängen durch die Stadt stellte er fest, dass die Bewohner die historischen Holzschnitzarbeiten wie Fenster und Säulen im Zuge von Modernisierungsarbeiten abrissen und verbrannten: „Die Leute hatten keine Ahnung, was sie taten. Für sie war es Müll, niemand kümmerte sich darum”, erzählt Ambica.
Ihr Mann erkannte die unwiederbringliche kulturelle Vernichtung, die sich vor seinen Augen abspielte und schritt ein. Er gab den Hausbesitzern neues Holz für ihre Renovierungsarbeiten, wenn sie im Gegenzug versprachen, die historischen Arbeiten nicht zu zerstören und ihm zu überlassen. So rettete er unzählige Stücke: Die ältesten von ihnen stammen aus dem 13. Jahrhundert. Er ließ sie restaurieren und hielt so auch das vom Aussterben bedrohte Handwerk der Holzschnitzer am Leben. Wenn etwas in der ursprünglichen Funktion nicht mehr verwertbar war, wurde daraus ein Tisch oder ein Dekorationsobjekt gefertigt:
„Säulen, Fenster, Türrahmen.
Wir haben alles angenommen – egal in welchem Zustand”, erzählt Sangita.
Die Werkstatt zur Restaurierung der antiken Holzschnitzereien liegt neben dem Hotel-Gelände. Hier wird nicht nur am Erhalt der Kunstwerke, sondern auch an der Bewahrung des traditionellen Kunsthandwerks gearbeitet
So kam es über die Jahrzehnte zu einer unvergleichlichen Sammlung historischer Kunsthandwerkschätze, die größte ihrer Art weltweit mit tausenden von Stücken.
Auch heute betreibt das Dwarika’s eine eigene Werkstatt. Sangita führt mich an einem Morgen dort hin. Die Werkstatt liegt etwas außerhalb des Hotels in einer kleinen, staubigen Seitengasse und wenn die Chefin in goldenem Gewand dort erscheint, richten sich alle Augen erst einmal auf sie. Fünf Männer und eine Frau sitzen auf dem Boden und arbeiten teilweise an feinsten Schnitzereien mit Meißeln. Hinter ihnen stapeln sich einige restaurierte, aber vor allem beschädigte Stücke in jedem erdenklichen Zustand. Heute würden diese Kunstwerke natürlich nicht mehr weggeworfen, erzählt sie. Ihr Wert werde inzwischen erkannt und langsam komme es auch in Nepal wieder in Mode, nach der traditionellen Art der Newari zu bauen. Inzwischen restaurieren sie hier ihre eigenen Stücke aus dem Hotel oder es werden aus dem ganzen Land die Fenster hier zur Restaurierung hingebracht. Die meisten von ihnen sind aus Teak- oder Magnolienholz. „Jedes Motiv und jedes Symbol hat eine Bedeutung”, sagt die Chefin und deutet auf einen Fensterrahmen aus dem 17. Jahrhundert. Der Lotus eine religiöse, die Taube bringe Glück. Man könne auch erkennen, aus welcher gesellschaftlichen Klasse die ehemaligen Besitzer stammten, und hinter den engmaschigen Holzgittern trockneten die Frauen ihr Haar, ohne dass die Außenwelt sie dabei sehen konnte:
Präzisionsarbeit Arbeit an den historischen Einzelstücken
„Unsere Vorfahren waren schlaue Leute”, sagt Sangita.
„Es gab immer einen Grund, warum sie bauten, was sie bauten.”
Dass sie diejenige sein würde, die viele Jahre nachdem ihr Vater die Werke einsammelte und archivierte, nach und nach in die Hotelbauten integrieren würde, war zunächst nicht absehbar. Als Sechsjährige besuchte sie bereits ein Internat in der Nähe von Darjeeling. Später holte ihr Vater sie zurück nach Kathmandu, wo das Mädchen aus einer hinduistischen Familie auf eine katholische Nonnenschule ging. Es war ein Leben im Hintergrund. Doch als sie 14 Jahre alt war, kam ihr älterer Bruder bei einem Motorradunfall ums Leben: „Von dem Moment an legte mein Vater seinen Fokus auf mich.”
Denn mit der Öffnung von Nepal in den 50er-Jahren begann auch der Tourismus sich zu entwickeln: Das Land zog zunächst vor allem Abenteurer, Wissenschaftler und sonstige Sinnsuchende an, und Dwarika sah das Potenzial. Als 1960 eine Amerikanerin ihn nach einem ruhigen Ort für die Arbeit an ihrer Dissertation fragte, baute er den Kuhstall um. Nach und nach verwandelte er sein Zuhause in ein einfaches Gästehaus. 1972, zur Krönung von König Birendra, kam ein bis dahin ungekannter großer Schwung von ausländischen Gästen und Beobachtern in das abgelegene Reich – und Dwarika mietete Häuser in der Nähe für Zimmer und überließ seiner Teenager-Tochter Sangita die Einrichtung und Gestaltung: „Schon damals achtete ich darauf, dass sich die Kultur des Landes und das Handwerk in diesen Räumen widerspiegelte”, erzählt sie. 80 Zimmer und Suiten gehören heute zum Dwarika’s, die im Durchschnitt 90 Quadratmeter groß sind. Das „kleinste” Zimmer allein hat 75 Quadratmeter. Neben den historischen Holzarbeiten stammen Möbel, Stoffe und Materialien wie Stein aus der Region. Seifen und kosmetische Produkte werden in einer eigenen Werkstatt hergestellt, Obst und Gemüse kommt aus den Gärten und Feldern eigener landwirtschaftlicher Betriebe: „Wir importieren nur, was es hier nicht gibt.”
Diese ästhetische Vorliebe hat sich inzwischen zu einem unumstößlichen Konzept ausgewachsen: “Platz ist Luxus für mich. Das gilt für alles, was ich baue. Was mich nicht interessiert ist Bling Bling”, sagt Sangita.
Platz ist Luxus: Die Zimmer im Dwarika’s sind geräumig und mit traditionellem Mobiliar und Kunstwerken ausgestattet
Der Stolz auf die Geschichte und das kulturelle Erbe zieht sich als Leitmotiv durch dieses Anwesen wie auch durch Erscheinung und Charakter der Familie. Nach dem großen Erdbeben von 2015 wurde das Dwarika’s übergangsweise zum Zeltlager, Sangita koordinierte internationale Hilfe – auch aus Deutschland. Denn bevor die Tochter nach dem Tod des Vaters Anfang der 90er-Jahre das Hotel übernahm und ausbaute, studierte sie in Paris, lernte dort ihren deutschen Ehemann kennen und führte viele Jahre ein Leben in Borken in Westfalen, wo auch ihre beiden Söhne aufwuchsen. Kathmandu und Borken liegen nicht nur von der Kilometerzahl weit auseinander: „Wahrscheinlich war ich die erste Nepalesin, die jemals Borken besucht hat”, sagt Sangita und lacht. „Aber meine Zeit in Deutschland ist so wertvoll für mein Leben. Ich bin daran gewachsen und ich bin so dankbar wie die Menschen mich dort behandelt haben. Sie haben mich willkommen geheißen und wertschätzten mich so wie ich war und das empfand ich wiederum auch als Respekt vor meinem Land.“
Im Deutsch ihres Sohnes Vijays, der das Hotel heute mit zusammen mit der Mutter leitet und der inzwischen mit seiner nepalesischen Frau und kleinem Sohn ebenfalls hier lebt, klingt der westfälische Singsang nach. Sein Bruder Sean lebt mit seiner amerikanischen Frau in München und ist ehemaliger Golf-Profi und Yogalehrer. In einer Familie, die aus starken Persönlichkeiten und einer Aktivistinnen-Großmutter besteht, findet nun diese Generation ihren Platz: „Ich möchte gerne eine Marke entwickeln, die 100 Prozent nepalesisch ist und international bestehen kann”, beschreibt Vijay sein Ziel.
Ein Schritt dahin ist die Expansion: Inzwischen gibt es die „Dwarika’s Group“. Unter diesem Dach eröffnete 2017 das Dwarika’s Resort eine Stunde Autofahrt westlich von Kathmandu – eine Anlage mit Bungalows, die in die grünen Ausläufer-Hügel des Himalayas gebaut sind. Es ist ein Retreat, das Besinnung einfordert und dem Gast das Land auf eine sinnliche und spirituelle Ebene näherbringt. Im Wald verstreut liegen Meditationshöhlen, Holzhäuser, die von innen mit Himalayasalz-Brocken und Kristallen ausgestattet sind und die Entgiftung fördern sollen. Es werden Koch-, Mandala-, Meditations- oder Yogakurse angeboten, oder es gibt die Möglichkeiten die umliegenden Bio-Bauernhöfe zu besuchen, die sowohl dieses Resort als auch das Dwarika’s in der Hauptstadt beliefern. Es ist der ideale Ort, um in Nepal anzukommen, oder um sich nach dem Wandern oder Bergsteigen einige Tage zu entspannen.
„Für mich hat Nepal ein Potenzial, das nicht ausgeschöpft ist”, sagt der Junior-Chef. „Wenn man Nepal hört, denkt man an Backpacking, Mount Everest, Trekking, oder soziales Jahr.” Weniger daran, dass Nepal – neben der überwältigenden Landschaft und Kultur – etwas biete, was nur wenige andere Destinationen heute noch im Angebot haben und was auf gewisse Art unbezahlbar ist:
Das Dwarika’s Resort in Dhulikel, zwei Stunden westlich von Kathmandu. Hier liegen auch die Biobauernhöfe der Familie
„Keinen Massentourismus. Man möchte in die Berge gehen, um alleine zu sein.”
Die Ausläufer des Himalaya in Dhulikel
Der Enkel vom Dwarika’s Gründer, der in Borken aufgewachsen ist, in Wiesbaden studiert hat und seit elf Jahren vollständig in Kathmandu lebt, sagt über seinen Hintergrund: “Wie ein Deutscher denkt, versteht kein Nepalese und umgekehrt. Mein Vorteil ist, dass ich beide Seiten verstehe.”
Und so hält die Globalisierung inzwischen auch auf privaten Lebenswegen im Dwarika’s Einzug. Die Familie Shresta Einhaus steht nicht nur für den behutsamen Auf- und Ausbau des anspruchsvollen Tourismus im Land, sondern eben auch für soziales Engagement: „Wir sind sehr privilegierte Menschen”, sagt Sangita. “Wenn Hilfe gebraucht wird, unterstützen wir, wo es nur geht.”
Im offenen Foyer des Hotels sind diese und andere Aktionen dokumentiert. Dort hängt auch eine Gedenktafel für den Gründer Dwarika. Weiter hinter auf dem Anwesen baut die Familie gerade einen weiteren Hotel-Annex – ein turmartiges Gebäude: „Danach ist hier auf der Anlage Schluss mit der Expansion”, sagt Sangita.
Das mit den Säulen der Gesellschaft hat sie geschafft. Nun ist es an den Söhnen, ein Leuchtturm der nepalesischen Gesellschaft zu werden.
Bild des Gründers Dwarika Shresta