Wenn er am Flügel sitzt, vergisst er die Welt um sich herum. Und die Welt bewundert ihn. Der Pianist Lang Lang ist ein Ausnahmekünstler. Mode-Shootings sind nicht so seine Sache. Für uns machte er eine Ausnahme.
MELODIEN FÜR MILLIONEN
Der Zoom-Call einige Wochen nach dem Shooting in Berlin beginnt mit einem Beethoven-Concerto. Lang Lang sitzt am Klavier, sein Blick wandert ziellos, aber seine Aufmerksamkeit ist umfänglich auf das Instrument unter seinen Händen gerichtet. Erst nach ein paar Minuten stellt er fest, dass auf dem Bildschirm vor ihm seine Gesprächspartnerin wartet. Das Klavier muss warten, obwohl Lang Lang mitten in einer Tournee steckt. Er hat bereits Konzerte in Los Angeles, Boston, New York und Philadelphia hinter sich, Auftritte in Europa und Asien folgen. Als einer der erfolgreichsten und berühmtesten Klassik-Stars füllt der 40-Jährige die größten Konzertsäle der Welt, nicht nur mit den Kompositionen klassischer Meister. Sein jüngstes Album, „The Disney Book“, interpretiert Songs aus Disney-Filmen wie „Das Dschungelbuch“, „Fantasia“ oder „Die Schöne und das Biest“, offenbart den vielschichtigen Charakter dieser altbekannten Melodien. Für Lang Lang, der mit seiner Stiftung die musikalische Erziehung von Kindern fördert, symbolisiert die Auseinandersetzung mit Disneys Werk auch den Austausch mit einer Kunstform, die ihn erstmals an klassische Musik herangeführt hat.
Ihr erstes großes Konzert, auf dem Sie „The Disney Book“ gespielt haben, fand im September im „Hollywood Bowl“ in Los Angeles statt. Wie reagieren die Menschen auf diese Musik? Ist die Stimmung anders als bei einem klassischen Konzert, bei dem Sie Bach oder Beethoven spielen?
Das war ziemlich beeindruckend, um die 20.000 Menschen haben zugeschaut. Diese Musik berührt die Menschen emotional offenbar sehr. Fast jeder hat eine persönliche Beziehung oder Geschichte mit Disney-Musik und -Cartoons, oder mit Zeichentrick generell. Und ich glaube, es beeindruckt das Publikum, wie sich diese Lieder durch die Interpretation am Klavier verändern können.
Ist es das, was Sie an dem Projekt gereizt hat?
Absolut, ich wollte zeigen, was man mithilfe der klassischen Musik aus diesen Melodien herausholen kann. Wir haben sie schließlich nicht einfach so übernommen, jeder Song wurde für das Album neu arrangiert. Ich hoffe sehr, dass es Kinder dazu inspirieren wird, klassische Musik zu entdecken. Ich habe immer wieder im Rahmen von Bildungsprogrammen vor Schulklassen gespielt und sehr oft haben sie mich gefragt, ob ich ihnen Disney-Lieder vorspielen könnte.
Was hatten Sie dann parat?
Alles, was ich beherrschte, war „Let it go“ aus dem Film „Frozen“. Aber dadurch kam mir die Idee, dieser Musik ein Album zu widmen, zumal ich persönlich ein großer Fan von Zeichentrick bin. Er war immer ein wichtiger Teil meiner Kindheit und hat mich sehr inspiriert. Es war einfach der richtige Moment, um mir einen Kindheitstraum zu erfüllen.
Die Geschichte, wie Sie Musik für sich entdeckt haben, ist inzwischen legendär: Sie haben als Zweijähriger die Folge „Das Katzenkonzert“ aus der „Tom & Jerry“-Reihe gesehen, in der die „Ungarischen Rhapsodien“ von Franz Liszt gespielt werden. Daraufhin wollten Sie Klavierspieler werden. Richtig?
Es waren die Figuren, die eine Art visuelle Verbindung zur Musik im Hintergrund geschaffen haben. Ein Kind kann ja manchmal nicht sofort einordnen, wie Klänge und Bilder miteinander interagieren oder sich voneinander unterscheiden. Für mich gehörte das eng zusammen.
Erinnern Sie sich an Ihren ersten Disney-Film?
Ja, das war „Schneewittchen“. Danach habe ich mich eine Weile vor Äpfeln gefürchtet (lacht). Und jeden Sonntag liefen im chinesischen Fernsehen „Micky Maus“- und „Donald Duck“- Filme, die habe ich geliebt. Der schönste Moment eines langen Übungstages waren immer die 20 Minuten, in denen ich einen Zeichentrickfilm sehen durfte.
Fasziniert vom Schwung der Reihen. „Das ist mir nie aufgefallen, ich war noch nie hier oben.“ Lang Lang im oberen Rang des Boulez-Saals. Dass der Samtmantel von Etro farblich perfekt zu den Sitzen passt, amüsiert ihn.
Sie haben praktisch Ihre gesamte Kindheit dem Klavierspiel gewidmet. Mit neun Jahren sind Sie und Ihr Vater von Ihrer Heimatstadt Shenyang nach Peking gezogen, in der Hoffnung, dass Sie es dort aufs Musikkonservatorium schaffen. Sie haben in Ihrer Autobiografie „Musik ist meine Sprache“ viel darüber geschrieben, wie streng Ihr Vater mit Ihnen war, dass er Spielzeugfiguren aus dem Fenster geworfen hat, um Sie zum Üben zu zwingen. Hat Ihnen das nie die Freude an der Musik genommen?
Ich habe das Glück, dass ich Musik seit meiner Kindheit wirklich und innig liebe. Ohne diese Liebe wäre dieses harte Training nur schrecklich gewesen. Aber es gab zwei Momente in meinem Leben, die ereigneten sich schon recht früh in meiner Karriere, in denen ich am liebsten alles hingeschmissen hätte.
Sie beschreiben in Ihrem Buch eine Situation, als Sie nach einer Probe spät nach Hause kamen und Ihren Vater in einem hysterischen Zustand vorfanden. Er war überzeugt, dass Sie wertvolle Übungszeit verschwendet hatten, und drängte Sie deswegen zum Selbstmord.
Das war der Moment, in dem alles eskalierte. So weit hätte es nie kommen dürfen. Nach diesem Vorfall haben wir uns alle etwas beruhigt. Ich habe meinen Vater später oft gefragt, warum er das getan hat. Er konnte mir nie richtig darauf antworten. Aber wenn Journalisten ihn darauf angesprochen haben, hat er oft geweint und sich entschuldigt, er hat mir gezeigt, wie leid es ihm tut. Das hat sehr geholfen.
Was bedeutet Ihnen Deutschland?
Sehr viel. Als ich zwölf Jahre alt war, hat mich meine allererste Auslandsreise hierhergeführt. In Ettlingen, dieser wunderschönen Stadt in der Nähe von Baden-Baden, gewann ich den Internationalen Wettbewerb für junge Pianisten. Heute verbindet mich eine noch innigere Beziehung zu dem Land, weil meine Frau deutsch-koreanischer Abstammung und in Wiesbaden geboren ist.
Ihre Frau ist die Pianistin Gina Alice Redlinger, Sie beide sind im Januar 2021 Eltern eines Sohnes geworden. Ein Lied aus dem Album „The Disney Book“ haben Sie Ihrem Sohn gewidmet: „When You Wish Upon a Star“ stammt aus dem Film „Pinocchio“ und ist eine Zusammenarbeit mit Ihrer Frau. Wie hat das Vatersein Sie als Künstler verändert?
Es hat mich weicher gemacht, mitfühlender, geduldiger. Und ich lerne so viel von meinem Sohn. Was er braucht, wie er auf meine Frau und mich reagiert, das ändert sich jeden Tag. Gleichzeitig lernt man, was bedingungslose Liebe ist, und wie sehr ein Kind diese Liebe braucht.
Am Steinway- Flügel: Lang Lang trägt ein kragenloses Oversized-Shirt von Prada. Als er es übergezogen hat, blickt er an sich herunter, sagt: „Ich sehe aus wie ein Asiate“, und lacht. Hose: privat
Hat ein Projekt wie das „Disney Book“ auch etwas Befreiendes?
Darum geht es mir nicht. Ich würde einfach sagen, dass ich jeder Art Musik immer offen gegenüberstehe. Ich sehe mich absolut als Vertreter der klassischen Musik, ich verehre die Tradition dahinter und habe den höchsten Respekt vor ihr. Aber ich glaube, es ist wichtig, neue Ideen in das Genre einzuführen und es einem breiteren Publikum zugänglicher zu machen. Das tut mir gut, das tut der Branche gut, und, gerade im Fall der Disney-Musik, auch den Kindern.
2023 sollen Sie mit einem Stern auf dem „Walk of Fame“ in Los Angeles geehrt werden. Gibt es einen Star dort, den sie bewundern?
Auf dieser Straße finden sich so viele unglaubliche Talente, ich kann mich nicht auf nur einen festlegen. Aber über einen Platz in der Nähe der Capitol Studios, wo Frank Sinatra oder Nat King Cole Songs aufgenommen haben, würde ich mich freuen.
Dürfen Sie sich die Stelle für Ihren Stern aussuchen?
Eigentlich nicht. Aber man darf ja träumen.
Das Gespräch führte Silvia Ihring
der pierre boulez saal in berlin
Wenn man in einem Ensemble musiziert, ist es essenziell, auf die eigene Stimme, aber auch auf die der anderen zu hören. Ein Orchester als Synonym für Völkerverständigung: Das ist das Herzensthema des Dirigenten Daniel Barenboim und Gründungsethos seines West-östlichen Divan Orchesters. Afrikaner sagen „Ich seh dich“ zur Begrüßung. „Ich hör dich“ ist das „Hallo!“ von Daniel Barenboim, der sein Können, seinen Ruhm, seine Netzwerke dem friedlichen Miteinander widmet. 2012 gründete er die Barenboim-Said Akademie, benannt nach ihm, dem argentinisch-israelischen Pianisten und Dirigenten und dem amerikanisch-palästinensischen Literaturkritiker Edward Said. Vier Jahre später stand das Haus dazu in der Französischen Straße in Berlin, dessen Herzstück, entworfen von Frank Gehry, der Boulez-Saal ist. Dass die Stuhlbezüge aussehen wie einer U-Bahn entliehen, ist wahrscheinlich praktisch, faszinierend, aber ist die elliptische Form des Saals, der Schwung der Ränge, im Zentrum die Bühne, Grenzen aka Ausgrenzung sind aufgehoben, auch für die Töne. Benannt ist der Saal nach dem 2016 verstorbenen Franzosen Pierre Boulez, der 1925 unweit von Saint-Étienne geboren wurde und als einer der universellen Vordenker der Musikszene gilt. Ähnlich wie Leonard Bernstein, von dem der legendäre Satz stammte, wonach man nicht zwischen U- und E-Musik unterscheiden solle, sondern nur nach guter und schlechter Musik, folgte auch Boulez, enger Freund von Barenboim, dem Credo von lebenslanger Weiterbildung und Neugier. „Ein Komponist sollte immer weit vorausschauen.“
Was lag also näher, als Lang Lang, der auch schon unter dem Dirigat von Barenboim gefeiert wurde, zu einem Shooting in den Boulez-Saal zu bitten. Dass er als Solist und Superstar die Zuhörer in Bann zieht, ist kein Widerspruch zum Credo von Gemeinsamkeit. Der chinesische Pianist, der seit Jugendtagen die Welt bereist, ist selbst Grenzgänger. Zwischen den Welten und vor allem in der Musik, Berührungsängste gehören nicht zu seinem Repertoire. Sei es als Werbeträger für große Marken wie lange für Montblanc oder aktuell Hublot und schon gar nicht, wenn es um Musik geht. Da hält er es wie Bernstein. Grad hat er mit der „Deutschen Grammophon“ ein zauberhaftes Album herausgebracht, „The Disney Book“, seine Interpretation von beliebten Disney-Klassikern. Über das Cover fliegt Sternenstaub. Mary Poppins summt bestimmt auch gern mit.
Er spielte auch schon mal als Wetteinlösung von „Wetten dass..?“ in einem Hotel-Foyer Konstantin Weckers „Kleines Herbstlied“, hatte einen Gastauftritt auf Mike Oldfields „Musik of the Spheres“, trat im Rahmen der Fußball-Europameisterschaft mit „Schiller“ auf, eröffnete die Olympischen Sommerspiele in Peking, spielte auch bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an Barack Obama, und zum Diamant-Jubiläum der Queen, trat mit Jackie Chan auf, aber auch mal mit Metallica.
Als Lang Lang an diesem sonnigen Vormittag in die Akademie kommt, füllt seine Präsenz gleich das Foyer. Er hat keine Allüren, vielmehr umgibt ihn eine Art von höflicher Ungeduld, die stets schlagartig endet, wenn er am Flügel sitzt. Dann sind die Musik und er im Universum. Wir trafen uns das erste Mal, als er noch ein Teenager war, und ein großes Faible für Sneaker hatte. Gilt das immer noch? Lang Lang, verheiratet mit der deutsch-koreanischen Pianistin Gina Alice Redlinger und seit einem Jahr selbst Vater eines Sohnes (er scrollt durchs Handy, ein echter Wonneproppen) schüttelt den Kopf: „Damals war es etwas Besonderes. Heute sind sie Mainstream.“ Für seine Musik aber darf wohl beides ruhig gelten. Hauptsache, sie erklingt.
Inga Griese