ON the road

Da oben

Man muss nicht fliegen können, um in den Wolken zu leben. In den Allgäuer „Baumchalets“ kann man seinen Ausblick finden.

Eines Tages kletterte der kleine Baron auf die Steineiche und beschloss, nie wieder den Boden zu betreten. Auf diese Weise brach der Held des Romans „Der Baron auf den Bäumen“ von Italo Calvino mit festgefahrenen Gepflogenheiten. Ein Perspektivwechsel, der nicht nur ihm ein neues Universum eröffnete, sondern auch jenen, die ihn trafen. Einmal genauso wie er die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, das wäre es – einmal in den Bäumen wohnen. Mit dieser Idee und Lektüre ging es ins Allgäu zu den Baumchalets.

Die Welt auf dem Kopf zu sehen, das war Aron Holterman ten Hove nicht fremd. Als Freestyle-Snowboarder stemmte er sich früh der Schwerkraft entgegen. Mit zwölf Jahren wurde er bereits Profi in einer Sportart, in der es vom Boden aus wirkt, als würde sich der Sportler vorwiegend in der Luft befinden. Auf diese ereignisreiche Zeit folgten Studien der Wirtschaftswissenschaften und des Sportmanagements und weltumspannende Reisen. Doch eine Idee ist dem heute 34-jährigen Allgäuer nie aus dem Kopf gegangen: Er wollte ein Baumhaus bauen. Am liebsten in seiner Heimat. Einen Baum zu finden, der ein Haus trägt, das ist nicht einfach. Und die Lärchen, Tannen und Fichten des Allgäus eignen sich dafür eher schlecht. Er fragte ein befreundetes Team von Architekten und Tischlern vom Upcycling Studio Innsbruck und entwickelte mit ihnen zusammen die Idee der Baumchalets auf Stelzen. Ein Grundstück fand er auf der Thaler Höhe auf 1000 Meter Höhe. Ein Gelände, wie für seine Idee gemacht. Es fällt steil zu einem Bach hin ab und ermöglicht so einen ebenerdigen Eingang. Niemand muss hier klettern, und nebenan liegt auch noch direkt ein Skilift.

Einmal im Haus, eilt man von der großen Terrasse zu dem Geländer, um hinunterzuschauen: beeindruckend hoch. Dann blickt man durch eine einzige Fensterfront in einen Wohnraum, der sich über zwei Etagen zieht „Eigentlich ist der beste Tag für ein Baumchalet ein Schlechtwettertag“, sagt Holterman. Dann kann man in seinem hölzernen Kokon den Nebel die Hänge hinaufkriechen sehen, am besten aus der Sauna heraus, die in jedem der fünf Chalets ihren Platz gefunden hat. Wer sich jetzt ein knorziges Interieur vorstellt, liegt falsch. In minimalistischem Design wurden heimische Fichtenhölzer maßgefertigt, sie sind modern, zweckmäßig, ökologische Aspekte wurden selbstverständlich berücksichtigt. In einem Hängeboden beziehungsweise einer Hängematte kann man zwischen den Etagen schweben.

Fünf Jahre hat der junge Eigentümer an der Umsetzung seiner Idee gearbeitet. Im nahe gelegenen Dorf fand er Unterstützung. „Ohne diese Zusammenarbeit geht es nicht. Und das ist auch das Schöne.“ Alles ist von hier. „Auch der kleine Gruß im Kühlschrank von Schäffler Bräu aus Missen.“ Perfekt. Wir sitzen zusammen auf der Terrasse, bei schönstem Wetter. Sonnenstrahlen blitzen zwischen den Blättern auf. Die Schatten der Lärchen tanzen auf dem hölzernen Boden. Der Bach rauscht. Das Konzert der Grillen stemmt sich gegen das kontinuierliche Läuten der Kuhglocken. Der Wind rauscht in regelmäßigen Abständen durch die Wiesen und Blätter.

Sonst nichts. Ruhe.

Der Abend zieht ein, die tiefstehende Sonne wird von den Holzschindeln der Chalets goldig reflektiert. „Ein Fuchs, ein Fuchs“, ruft der Städter unten an der Feuerstelle, der sich gerade abmüht, ein Lagerfeuer zu entfachen. Das Tier schaut sich kurz interessiert um, ist aber dann genauso schnell verschwunden, wie es auftauchte. Es wird dunkel. Das einzige Licht erleuchtet unser Chalet. Mit WLAN ausgestattet, könnte man jetzt sogar über ein Tablet sich Neuigkeiten über Corona antun oder Filme schauen. Kein Bedarf. Die Lärche wirft noch ein paar Zapfen hinunter, die klopfend auf dem Dach landen. So schläft man ein.

Am Morgen weckt uns das erste Licht, das sich seinen Weg durch mit Moos überwucherte Bäume bahnt. Anders als der Romanheld sind wir wieder von den Bäumen heruntergekommen. Unser Blick geht hinauf durch die Wipfel gen Himmel. Wir haben uns etwas bewahrt: das Glück des Perspektivwechsels.

Foto
Massimo Rodari
Text
Barbara Krämer