Mr ICON

„Es ist schwer, Tränen zu drucken“

Er ist Deutschlands größter Theaterstar. Einer, der Rollen fließend wechselt, nicht nur auf der Bühne, und sich Einordnungen verweigert. Gerade sieht man Lars Eidinger in der 20er-Jahre-Serie „Babylon Berlin“, bis zum Shutdown stand er als Peer Gynt auf der Berliner Schaubühne. Und er drehte in Hamburg, wo Dagmar von Taube ihn in einer Cafeteria in Bahnhofsnähe zum Interview traf.  Sein Körper sei etwas erschlafft nach sieben Monaten Spielpause, sagt er. Sein schütteres Haar, ein aktenfüllendes Thema, sitze aber gut an diesem Tag.

Herr Eidinger, Sie gelten bei vielen als Symbolfigur einer neuen Sorte Mann. Können Sie noch definieren, was „männlich“ ist, oder sollten wir uns von diesem Wort verabschieden?

Vielleicht von den Werten, die diesem Begriff zugeordnet sind.

Worum geht es dann?

Ich finde den englischen Begriff „Sex“ sehr treffend. Er steht sowohl für das biologische Geschlecht als auch für den sexuellen Akt, die Einswerdung, nach der wir uns alle sehnen. Die Eingeschlechtigkeit ist das Ideal und die Trennung in zwei Geschlechter Ursache allen Übels. Damit sind wir bei Adam und Eva und der Erbsünde.

Und was wird aus dem sexuellen Begehren? Steuern wir dann auf eine autoerotische Gesellschaft zu?

Die Regisseurin Maren Ade hat zu dem Thema 2008 in nahezu prophetischer Manier einen Film gemacht. Gleich am Anfang fragt der Mann die Frau: „Findest du mich eigentlich männlich?“ Sie lacht und fragt zurück: „Was soll das sein – männlich?“ Und dann wird diese Problematik durchexerziert: Sie schminkt ihn wie ein Mädchen, er zeigt sich schwach und verletzlich und kompensiert seine Unsicherheit durch Dominanzgebaren. Dafür beginnt sie ihn zu verachten. Und das ist im Grunde der schier unüberwindbare Konflikt, dass wir uns zwar auf der einen Seite einen Partner wünschen, der sich schwach und verletzlich zeigt, er aber darüber auch an Attraktivität einbüßt.

Was sind das für Frauen, die keine Schwäche dulden?

Boris Beckers Ex-Frau Lilly sagt in einer Dokumentation, als beide noch ein Paar waren: „Ich liebe Boris so sehr, weil er auch dann noch Stärke zeigt, wenn er am Boden liegt.“ Vor wem, wenn nicht vor unserem Partner*in, können wir uns dann schwach zeigen? Wirkliche Intimität entsteht doch erst, wenn man sich dem anderen gegenüber angreifbar macht.

Das hört sich schlimm an. Wie ertragen Sie das? Haben Sie eine Lösung?

Ich weiß nicht, ob es mir als Mann zusteht, das zu sagen, aber der weibliche Orgasmus setzt voraus, dass sich die Frau öffnet und hingibt – man kann ihn nicht erzwingen. Das weibliche Geschlechtsorgan ist ja wie eine Wunde. Erst, wenn wir uns gegenseitig verletzlich gegenübertreten, kann es zu einer Begegnung kommen. Nicht, wenn wir uns gegenseitig dominieren oder beherrschen und auch nicht, wenn wir uns voreinander schützen. In der Bibel steht dafür der Begriff des sich gegenseitigen Erkennens und das meint auch, sich zu erkennen geben.

Lars Eidinger auf einem Stapel Stühle in der Tiefgarage der Hamburger Kunsthalle, wo er sich spontan noch hat fotografieren lassen

Sie sind seit 21 Jahren mit einer Opernsängerin zusammen, die heute als Verhaltenstherapeutin arbeitet. Wer ist bei Ihnen zu Hause dominanter: Ihre Frau oder Sie?

Meine Frau.

Mögen Sie das, was man „starke Frauen“ nennt?

„Stärke“ ist ein Attribut, das durch eine männerdominierte Welt seine positive Konnotation erfährt. Es gibt nicht von ungefähr diese Geschlechter-Kategorien, weil wir uns an ihnen festhalten können. Und wir haben Angst davor, dass wir, wenn sie uns genommen werden, nicht mehr wissen, an was wir uns orientieren sollen. Vielleicht müssen wir unser Wertesystem komplett infrage stellen. Vielleicht liegt der Schlüssel im weiblichen Prinzip. Und vielleicht müssen die Männer den Mut aufbringen, sich diesem gegenüber zu öffnen, statt es im wahrsten Sinne des Wortes zu beherrschen.

Steve McQueen meinte, Schauspielen sei der unmännlichste Beruf, den man sich vorstellen könne. Ist da etwas Wahres dran?

…..

Wie reagieren Ihre Kolleginnen auf Sie?

Ich habe gerade in Lyon einen Film mit Isabelle Huppert gedreht. Ich kannte Isabelle bereits, da sie sich alle unsere Vorstellungen anschaut, wenn wir mit der Schaubühne in Paris auf Gastspiel sind. Im Anschluss waren wir ein paarmal gemeinsam essen. Einmal sind wir sogar bis 4 Uhr morgens tanzen gewesen. Auf der Leseprobe zu „Joan“, so heißt der Arbeitstitel des Films, habe ich direkt neben ihr gesessen. Wir trugen alle einen Mund-und-Nasen-Schutz. Mir fiel auf, dass sie physisch nahezu nicht anwesend war. Körperlich ist sie eine wahnsinnig filigrane und zerbrechliche Erscheinung. Dennoch hat sie eine überbordende Präsenz, die von ihrem Geist auszugehen scheint. Es ist ein Spirit, der sie umgibt, der eine schier unerschöpfliche Potenz ausstrahlt. Dann fiel mir ein, dass auf call sheets von Photoshootings als Zuordnung „Talent“ steht. Nicht Model, Schauspieler oder Künstler. Wenn ich also dieses Isabelle-Huppert-Phänomen beschreiben sollte, das, was sie umgibt und ihr innewohnt, dann ist es genau das: Talent!

„Talent“ ist doch der gebräuchliche Begriff bei Shootings für die Hauptdarsteller. Das meinen Sie?

Ich meine damit etwas Transzendentes, etwas Geniales, Unerschöpfliches, das nichts ausschließt, sondern allumfassend und unendlich ist.

Pardon, eine Zwischenfrage: Ich stell mir vor, Sie sitzen Madame Huppert gegenüber, erst geht man essen, dann tanzen. Hat diese Frau außer dieser Talent-Ausstrahlung auch noch eine erotische Faszination? Oder ist sie ein reines Geistes-Prinzip, auf dem „Talent“ steht?

Talent meint ja genau das alles: dass eben alles da ist. Auch die Gleichzeitigkeit von Widersprüchen. Es ist ein total asexuelles hochgradig sexuelles Wesen. Oder wenn ich sie beim Schauspielen beschreiben würde: die imperfekte Perfektion. Isabelle Huppert kultiviert das nicht zu Kultivierende. Das ist wirklich beeindruckend, wenn das jemand vermag. Und ich merke gerade, immer wenn man mich fragt, ob ich nun Künstler oder Schauspieler oder was ich überhaupt bin, dass ich eigentlich genau das sein will: Talent. Das ist für mich der treffendste Begriff, weil er etwas Grenzenloses, Uneingeschränktes beschreibt. Das anarchische Moment. Wir müssen uns nur öffnen, um es zuzulassen. Nicht durch Kontrolle, sondern durch Hingabe.

Ich merke gerade, immer wenn man mich fragt, ob ich nun Künstler oder Schauspieler oder was ich überhaupt bin, dass ich eigentlich genau das sein will: Talent. Das ist für mich der treffendste Begriff, weil er etwas Grenzenloses, Uneingeschränktes beschreibt. Das anarchische Moment. Wir müssen uns nur öffnen, um es zuzulassen. Nicht durch Kontrolle, sondern durch Hingabe.

Stimmt es, dass ein überlebensgroßes Foto von Ihnen, 1.50 Meter mal 2 Meter, in Ihrem Wohnzimmer hängt?

Ja, ich verehre den Fotografen Juergen Teller. Er hat das Bild vor zehn Jahren für ein „Zeit Magazin“-Cover gemacht und mir einen Abzug geschenkt. Den hab ich mir eingerahmt und an die Wand gehängt.

 

Auf dem Foto sieht man Sie mit Dreck beschmiert, bekleidet nur mit einer Unterhose. Auf Ihrem Kopf sitzt eine Krone, verkehrt herum – der Männlichkeits-Zustand aus Ihrer Sicht heute? Sozusagen die überwundene Männlichkeit?

Das Bild zeigt mich in der Rolle des Hamlet.

Wie finden Ihre Frau und Ihre 13-jährige Tochter das?

Das Bild ist eine Stilisierung. Es ist kein privates Schauspieler-Porträt in Schwarz-Weiß auf einem umgedrehten Stuhl mit der Hand unterm Kinn. Natürlich haben wir uns gefragt, was Klassenkameraden*innen meiner Tochter denken, wenn ihr Papa überlebensgroß in Unterhose an der Wand hängt, aber für die war das vor allem der Vater als Schauspieler in einer Rolle. Allerdings habe ich gerade neulich erst gedacht, es ist an der Zeit, es abzuhängen.

Wieso denn?

Ich hab ein anderes Bild von Juergen Teller geschenkt bekommen. Kurt Cobain, schwarz-weiß, wie er in sich versunken seine Gitarre stimmt. Eines der ersten Bilder, die Juergen überhaupt gemacht hat.

Sie sind selbst ein guter Fotograf und haben gerade den Bildband „Autistic Disco“ herausgebracht. Ihr Buch beginnt mit einem Hamster, der aus einer Klorolle hervorlugt.

Das ist mein Goldhamster Speedy. Ich war sechs, als ich das Foto gemacht habe.

Man sieht viele Hotelzimmer. Wie oft schlafen Sie in fremden Betten?

In den letzten zwei Jahren bin ich auf 160 Hotels gekommen.

Wann macht ein Hotelzimmer einsam?

Ich bin gern alleine. Einsam fühle ich mich nicht. Ich liebe die Anonymität eines Hotelzimmers. Zu nichts in dem Raum habe ich einen persönlichen Bezug. Es ist wie ein simuliertes Zuhause. Das beruhigt mich.

Haben Sie nicht manchmal brutale Einsamkeitsanfälle in diesen anonymen Häusern oder Pensionen mitteldeutscher Kleinstädte?

Mich fasziniert jede Kategorie Hotelzimmer. Je fremder, desto besser. Mein preiswertestes Zimmer war neulich im Urlaub in Dijon, meine Frau hat es gebucht: ein Einzelbett, in dem wir zu dritt geschlafen haben.

Lars Eidinger ist leidenschaftlicher Fotograf seit seinem sechsten Lebensjahr: Der Fotoband „Autistic Disco“ (Hatje Cantz, 128 Seiten) zeigt Aufnahmen von 1982 bis heute. Dabei: Ein Grab in Gernsbach, Berliner Bau-Charme, eines von vielen Hotelzimmern.

Welches Getränk aus der Minibar, um sich allein die Langeweile zu verdünnen?

Minibars sind für mich wie Instagram. Das hat mehr mit Sucht zu tun als mit Genuss. Ich bediene mich daran, aber find’s eigentlich schlimm, dass es so ist. Wenn man sich daran gewöhnt, dass es schön ist nach einem Drehtag, den Kühlschrank aufzumachen und das Bier rauszuholen – für mich lauert hinter jeder Form von Gewohnheit auch immer eine Bedrohung. Ich kann mir zum Beispiel ein Leben ohne Kaffee nicht vorstellen, ich komm auch vom Fleisch nicht los, obwohl ich vom 17. bis 24. Lebensjahr Vegetarier war. Manche Sachen schaff’ ich auch einfach nicht. Zwei Gründe für mich, morgens aufzustehen, sind Kaffee und Fleisch. Ich bin darauf nicht stolz, im Gegenteil, es beschämt mich, aber ich komme davon nicht los.

Buchen Sie Raucherzimmer?

Um Gottes willen! Ich bin trockener Raucher. Eine Zigarette und ich hinge wieder an der Nadel. Wenn ich in einer Rolle rauchen muss, vergewissere ich mich tausendfach, ob die Zigarette auch wirklich nikotinfrei ist. Man sagt ja, die Summe der Laster eines Menschen bleibt immer gleich. Meine Ersatzdroge heißt Instagram!

Vor zwei Jahren sagten Sie in der „Süddeutschen Zeitung“: „Wenn ich ehrlich bin, beschäftige ich mich am Tag vielleicht drei Stunden mit Instagram. Wenn ich ganz ehrlich bin, sogar noch mehr. Morgens greife ich, wenn ich allein bin, als Erstes zum Telefon, und schwupps ist eine Stunde rum. Ich finde das schwer zu kontrollieren.“

Und ich fürchte, es ist noch schlimmer geworden. Meine Frau lehnt Instagram komplett ab und hofft, dass ich endlich verstehe, wie stark einen das beschädigt. Aber müssen wir darüber reden? Das Thema ist mir wirklich unangenehm. Instagram ist eine unschöne Sucht, unter der ich leide. Ich bin einfach ein Suchtmensch, schon immer gewesen. Sagen wir so: Ich rede mir meine Handysucht ein bisschen schön, indem ich sie als eine Ablenkung sehe, die mir hilft, mich aus meiner Überkonzentration zu lösen, um mich dann wieder neu zu fokussieren.

Funktioniert das?

Meiner Leistung als Schauspieler scheint es keinen Abbruch zu tun, im Gegenteil. Darum habe ich tatsächlich das Gefühl, dass diese Spielerei zwischendurch meinem Kopf guttut. Da ich allerdings zur Zeit drehe, habe ich eine extrem hohe Bildschirmzeit. Ich möchte jetzt ungern die genaue Anzahl der Stunden nennen, aber es ist zu viel. E-mailen, telefonieren und fotografieren allerdings mit eingerechnet.

Raumspray, Entsafter, Massagekissen – gibt es Dinge, die immer mit Ihnen reisen?

Ich reise mit einem Aktiv-Lautsprecher. Der läuft praktisch durchgehend. Wenn ich unterwegs bin, kann ich endlich Popmusik hören, wobei ich mit Popmusik jede Form von Musik meine, die in einem popkulturellen Zusammenhang steht. Auch Techno. Meine Frau lehnt Popmusik kategorisch ab. Auf längeren Strecken mit dem Auto hören wir Hörbücher oder Podcasts, darauf können wir uns einigen. Ich fahre zwischendurch dann mal für zwei Stunden mit Kopfhörern.

Disco ist Glitzer und Glamour, in „Autistic Disco“ aber sieht man triste Bilder. „Es ist schwer, Tränen zu drucken“, hat Karl Lagerfeld, der Modeschöpfer, einmal gesagt. Sie scheinen es zu können.

‚Es ist schwer, Tränen zu drucken‘ – kann das bitte die Überschrift für dieses Interview sein! Im Vorwort meines Buchs schreibt Simon Strauß von der „Angeschnittenen Traurigkeit im Kosmos der stillen Zeichen“. Das fand ich sehr treffend.

Woher kommt diese Stimmung bei Ihnen, dass sie immer wieder Thema ist? Gibt es darüber schon Laborbefunde?

Es hat vielleicht auch mit meiner Sozialisierung zu tun, mit den 80ern. Ich habe mir schon mit zehn, elf in dieser melancholischen Attitüde gefallen. Und ich habe früh gemerkt, dass das bei den Mädchen in meiner Klasse überhaupt nicht gut ankam. Der traurige Junge, das war nicht attraktiv. Aber ich wollte immer der traurige Junge sein – ein Robert Smith von The Cure, schwarz gekleidet, mit Lidstrich und verschmiertem Lippenstift.

Können Sie sagen, was der wundeste Punkt in Ihrem Leben war?

Meine Geburt. Das ist das Trauma, an dem ich mich abarbeite. Ich mache ihr das nicht zum Vorwurf, aber meine Mutter hat während der Schwangerschaft geraucht. Ich bin also schon als Süchtiger auf die Welt gekommen. Kaum war die Nabelschnur durchtrennt, hatte ich den ersten Entzug.

Stille und gestillt zu werden sind paradiesische Zustände, nach denen wir uns alle sehnen. Für mich meint das eine Todessehnsucht.

Sie wollen in den Mutterleib zurück?

Ich denke, dass wir alle eine Sehnsucht in uns tragen, dahin zurückzukehren, woher wir gekommen sind. Gestillt zu werden war für mich kein paradiesischer Zustand, sondern etwas, das mich unbefriedigt ließ. Danach hätte ich am liebsten noch eine Zigarette geraucht, aber die wurde mir natürlich nicht angeboten. Ich bin eher wie ein Minnesänger, der sich in der ewigen Sehnsucht ergießt. Am meisten spürt man die Liebe doch im Schmerz der Nichterfüllung.

Hilft Erfolg?

Ich werde tieftraurig, wenn ich so etwas wie einen genialen Moment erlebe, in dem ich den erlösenden Moment von Erfüllung vermute. Statt Freude oder Euphorie erlebe ich genau das Gegenteil. Was mit Weltschmerz gemeint ist, habe ich schon als Kind gewusst. Mir bleibt nur das Wissen um diese Leere, vor der ich mich fürchte. Aber man kann sich, was ich ja tue, ablenken mit Reizen. Apropos „Tränen sind schwer zu drucken“: Wenn Tattoo, dann die Träne unter dem Auge.

Text
Dagmar von Taube
Fotos
Philipp Rathmer