Mr ICON

Doppelt Guter

Theaterstar und Bestsellerautor: Joachim Meyerhoff hat viele Facetten. Im Interview spricht er über Verletzungen, Männerbilder und die Seidenschals älterer Frauen.

Ein Besprechungszimmer in einem Verlag in der Berliner Friedrichstraße. Joachim Meyerhoff ist mit dem Rad gekommen, eine Fahrt durch die halbe Stadt bei Kälte und Regen. »Ein Theaterschauspieler, der nicht auftreten darf, ist ein den Irrsinn herausforderndes Unding«, sagt der 53-Jährige. Deswegen versuche er, depressive Anflüge in motorische Energie zu verwandeln. Seine Schuhe gehören der Bühnenfigur, die er als Nächstes spielen wird, einen Obdachlosen. Deshalb müssten sie »noch ein bisschen kaputt« werden.

ICON: Herr Meyerhoff, als der Burgtheater-Star Gert Voss wegen einer Herzkrankheit viele Wochen ausfiel, klagte er, es gebe in Theatern nur sehr wenige Menschen, die sich um kranke Kollegen kümmern würden: „Wir tun immer wahnsinnig intim, indem wir uns dauernd anfassen, umarmen und küssen, aber in Wahrheit sind damit unmittelbare Interessen verbunden. Schon meine Schauspiellehrerin warnte mich: ‚Vermeide den Kontakt mit Schauspielern im Privatleben. Sie sind neidisch, bösartig, benutzen dich.‘“ Haben Sie nach Ihrem Schlaganfall ähnliche Erfahrungen gemacht?

Meyerhoff: Ja, aber ich bewerte meine Erfahrungen anders als Gert Voss. Großschauspieler wie er sind Einzelgänger und Eigenbrötler. Sie haben eine soziale Beschädigung, die sie auf der Bühne vehement ausleben. Privat aber schirmen sie sich extrem ab, weil sie einen Rückzugsraum brauchen. Deshalb wäre es abenteuerlich zu erwarten, dass alle kommen, wenn was mit ihnen ist. Ich war nicht zu enttäuschen, weil ich nichts erwartet und nichts gewollt habe. Ich war ganz klein und habe zu meiner Frau gesagt: „Sag du bitte dem und dem Bescheid und übernimm auch die Gespräche mit dem Theater.“

 Je berühmter der Star, desto größer seine Kränkbarkeit: Stimmen Sie zu?

Das ist von der Generation abhängig. Nehmen Sie Leute wie Peter Zadek, Claus Peymann, Peter Stein, Martin Walser oder Günter Grass. Mein Eindruck ist, diese Generation hat ihre Kunst oft aus einer tiefen Lebenskränkung heraus betrieben – die Männer erstaunlicherweise noch mehr als die Frauen. Man bezog seine Energie daraus, wahnsinnig kränkungsanfällig zu sein. Kein Verriss wurde je verziehen. Die heutigen Generationen sind anders. Ein Stuckrad-Barre ist innerlich getrieben, aber spielerischer und mit Posen jonglierend und weniger masochistisch.

In Ihrem Buch „Die Zweisamkeit der Einzelgänger“ erlebt der Ich-Erzähler auf der Bühne ein grandioses Fiasko. Über die Reaktion der Kollegen schreiben Sie: „Die Blicke der anderen Schauspieler waren von Genugtuung wie poliert.“

Erstaunlicherweise wächst das Kollegiale mit dem Erfolg – vielleicht weil man um die Abgründe weiß, in die man stürzen kann. Als ich erfolglos in Kassel, Bielefeld, Ulm und Dortmund hockte, war es für mich eine mir selbst unangenehme Genugtuung, schlechte Kritiken zu lesen. Ich fand es immer gut, wenn irgendwo was ganz schlecht war. Es tröstete mich, das Gefühl zu haben, auch die anderen sind schlecht. Am trostreichsten waren Verrisse über bewunderte Großschauspieler von Theatern, wo man vorgesprochen hat, aber nicht genommen wurde. Dass ich jeden Abend meine Haut zu Markte trug und mich angreifbar machte, kompensierte ich mit Gehässigkeit und Bösartigkeit und der Gier nach Bestätigung. Gleichzeitig wusste ich, dass in einem Ensemble nichts verpönter ist, als beim Scheitern eines Kollegen zu triumphieren.

Vorne schön tun und hintenrum meucheln: Ist das im Theater eher Regel als Ausnahme? 

Bösartige Kollegen wie Paulus Manker sind fast ausgestorben – was schade ist. Die eigenwilligen und komplizierten Schauspielertypen haben es sehr schwer, weil die Szene konformer geworden ist. Das Tolle an Regisseuren wie Frank Castorf oder Andrea Breth ist doch, dass man vor einer Inszenierung gemeinsam die Verabredung trifft, sich auf furchtbare, aber eben auch fruchtbare Weise zu nahe zu treten. Wir verzeihen uns unsere Übertretungen, weil sie für etwas gut sind. Wir spielen ein Spiel. Diese Verabredung ist heute fast nicht mehr möglich, weil jede Verletzung sofort ins Desaster führt. Wäre er in einem Unternehmen angestellt, würde der sich gekränkt fühlende Schauspieler empört rufen: „Ich beschwere mich beim Betriebsrat! So etwas darf nie wieder passieren!“ Diese Mentalität verhindert viel. Exzessives, über Grenzen gehendes Arbeiten wird erschwert. Andererseits ist es natürlich ein Segen, dass die absolutistisch agierenden Regiegötter vom Thron stürzen.

Ihr Kollege Will Quadflieg gestand mal: „Das sogenannte wahre Leben erscheint dem Schauspieler als dilettantisches, stümperhaftes Theater. Echte Menschen haben für mich immer etwas Humoristisches. Dieses schlecht gespielte Menschsein möchte man wie ein Theaterkritiker dauernd verreißen.“ Teilen Sie diese Wahrnehmung?

Quadflieg kam aus einer Generation, die noch an das ungebrochene Theaterpathos glaubte. Wenn man so spielte wie er, kam einem die reale Welt natürlich seltsam schal vor. Mir geht es nicht so. Indem ich meinen Schlaganfall in einem Buch beschreibe, versuche ich ihm den Stellenwert eines großen und lebensbestimmenden Ereignisses zu geben. Ich habe nie zu den Kollegen gehört, die sagen, sie erleben auf der Bühne Gefühlsdimensionen, die sie privat nie erleben. Mich hat die Sprache zum Theater gezogen. Ich erlebe es als Befreiung und Geborgenheit, in ein Kleist-Stück einzutauchen und für Momente aus unserem Alltags-Gestottere zu entweichen. Das Extreme bei mir ist meine Text-Besessenheit. Wenn ich von einem Text infiziert bin, wird er zu meiner ratternden Gebetsmühle und lässt mich nicht mehr los. Als ich in Zürich Hamlet spielte, wohnte ich über dem Theater. Wenn die Gedanken um Mitternacht nicht aufhörten, ging ich zur Probebühne runter und machte das Licht an. In der Totenstille saß ich zwei, drei Stunden auf einem Stuhl und versuchte aus diesen zu Tode genudelten Sätzen irgendetwas zu machen, was mehr ist als Pose.

Ein berühmtes Theaterstück von Peter Handke heißt „Publikumsbeschimpfung“. Was sollten Zuschauer endlich mal kapieren?

Dass sie nicht wegbleiben sollen. Wenn nur hundert Leute dasitzen, wird Theater klamm und armselig und schnürt dem Schauspieler die Kehle zu. Man verliert das Selbstbewusstsein und die Chuzpe, den Leuten was zu servieren. Jeder Schauspieler, der länger nicht aufgetreten ist, ruft laut: „Ich vermisse mein Publikum!“ Darauf würde ich nicht kommen. Ich vermisse da niemanden.

Der Schriftsteller Daniel Kehlmann, Sohn eines Theaterregisseurs, meint: „Schauspieler sind angenehme Leute, und in ihrer Nähe zu sein ist belebend. Erst später bemerkt man einen Mangel an charakterlicher Substanz. Es hat mit dem Beruf zu tun.“

Kehlmann verwaltet die Kränkung seines Vaters, der vom Regietheater an die Wand gedrückt wurde. Das Vorurteil, das in seinen Sätzen mitschwingt, ist weit verbreitet. Die Sorge der Leute ist, von Schauspielern betrogen zu werden. Man weiß nicht, woran man bei ihnen ist. Weil sie so viele unterschiedliche Charaktere annehmen können, unterstellt man ihnen, das ginge nur, wenn man per se eine Charakterschwäche habe und innerlich wertlos sei. Wer eine starke Persönlichkeit habe und als Charakter integer sei, könne gar nicht andere Charaktere spielen. Über mich heißt es immer wieder mal, ich sei „der Schauspieler, der auch schriftstellert“. Sie werden kaum die Schlagzeile finden: „Die Juristin Juli Zeh hat ein neues Buch geschrieben.“ Wenn von mir die Rede ist, schwingt die Sorge mit, ich würde den Schriftsteller nur spielen. Es sei eine Pose, eine Rolle. Das hat was Kränkendes, und ich widerspreche vehement. Es gibt genauso viele hallodrihafte Ärzte und Richter wie Schauspieler. Ich kenne viele hochgebildete Kollegen, aber unser Pech ist, dass wir auf einer Schauspielschule waren und Fechten gelernt haben, statt auf der Uni in Heidelberg oder Tübingen unseren Doktor zu machen.

Ist Schauspielerei ein Demütigungsberuf?

Man muss als Schauspieler immer bereit sein, sich von einem Regisseur verführen zu lassen – und ehe man sich’s versieht, fährt man eine halbe Stunde mit einer Krone auf dem Kopf nackt mit dem Fahrrad im Kreis und denkt, das sei das Tollste, was man je auf der Bühne gemacht hat. Wenn es einem dann dämmert, dass man sich gerade zum Vollidioten macht, wird der Beruf unerträglich. Je peinlicher einem etwas ist, desto mehr hasst man den Beruf. Auch in Kassel oder Bielefeld denkt man: Knie dich rein, es geht um alles, die Welt wird gerade neu erfunden. Und dann sitzen da 30 Leute im Saal, die einen angucken, als wäre man meschugge, und man merkt, man ist mal wieder auf die Pseudoeinfälle eines überambitionierten Regisseurs reingefallen.

Sie haben auf der Bühne unzählige Figuren gespielt. Leben die in einem Winkel Ihres Bewusstseins fort und führen eine Art Eigenleben wie Untote auf einem Rollenfriedhof?

Ja, aber nicht als Untote, sondern wie Lebendige. Ich pflege auch mit den Toten meiner eigenen Biografie einen sehr lebendigen Umgang. Meine Romane sind auch dazu da, dass die Verlustmenschen lebendig bleiben. Von den Theaterfiguren begleiten mich manche mehr, manche weniger. Am meisten denke ich an die ungelösten, ja unerlösten Figuren. Vor langer Zeit habe ich in Hamburg Wladimir in „Warten auf Godot“ gespielt. Ich spürte es regelrecht als Druck im Kopf, dass ich den Wesenskern und die Abgründe der Figur nicht umsetzen konnte. Aus diesem Grund ist Wladimir bis heute einer meiner ständigen Begleiter. Eine echte Überidentifikation mit Figuren hatte ich hauptsächlich zwischen 20 und 30. Von Hans Castorp im „Zauberberg“ war ich völlig besessen. Ich hatte geradezu Sehnsucht nach Tuberkulose und wollte in Decken gehüllt auf dem Balkon vor mich hin atmen.

Wird man durch die dauernde Einfühlung in fremde Leben über sich selbst klüger, oder wissen die besten Schauspieler am wenigsten über sich selbst?

Man wird eher über das allgemein Menschliche klüger. Man begreift die Bösartigkeit und schonungslose Gewalttätigkeit, die in jedem von uns darauf lauert, loszuschlagen. Ich habe aber nie Theater gespielt, um mich selbst zu erkunden. Dieser psychoanalytische Spielansatz ist mir fremd. Ich genieße es vielmehr, von mir selbst abzusehen, den Blick abzuwenden von der eigenen Begrenztheit. Es gibt ja wirklich zwei völlig verschiedene Schauspielertypen: die Wandelbaren und die Unverwechselbaren. Die grandiose Sophie Rois bleibt doch immer die grandiose Sophie Rois, egal ob mit Cowboyhut oder gepuderter Perücke. So jemand wie Gert Voss dagegen wollte für jede Rolle ein gänzlich Anderer sein: andere Körperhaltung, andere Intonation, andere Aura.

Truman Capote stellte einmal fest: „Schauspielerinnen sind mehr als Frauen, und Schauspieler sind weniger als Männer.“ Ist Schauspielerei der unmännlichste Beruf, den man sich vorstellen kann? 

Das ist sehr böse. Der junge Götz George hat gern Vollblutmänner mit bloßem Oberkörper gespielt. Das wäre heute schrecklich. Ich erlebe eher, dass 25-Jährige es interessanter finden, wenn einer auf der Bühne nackt mit einer Krone auf dem Kopf im Kreis Fahrrad fährt als das ewige Rekapitulieren pseudomännlicher Posen. Die Erwartungen, was man als Mann draufhaben muss, haben sich geändert. Mir ist ein selbstironischer, verspielter, vielleicht manchmal weinerlicher Typ lieber als ein wiedergeborener Götz George. Trotzdem stimmt das Capote-Zitat ein bisschen, auch wenn es schmerzlich ist, das zuzugeben. Schauspieler sind fremdbestimmt, sie stecken in einem Marionettendasein, das ist das Wesen dieses Berufs. Du ziehst Klamotten an, die jemand anderer für dich aussucht, du sagst einen Text, den jemand anderer geschrieben hat, du mimst eine Stimmung, die ein anderer vorschreibt. Meine Romane sind auch der Versuch, auf meine jahrelangen Postbotendienste als Schauspieler eine eigene Antwort zu geben.

Bei Ihren Lesungen vor bis zu 1800 Zuschauern werden Sie angehimmelt, zumal von Frauen. Produzieren Sie diese Wirkung wie ein Schauspieler oder sind Sie mit einem gewinnenden Naturell zur Welt gekommen?

Ich dachte lange, ich schildere in den Büchern meine ureigensten Erlebnisse, vom Aufwachsen in einer vom Vater geleiteten psychiatrischen Anstalt mit 1500 Patienten bis zu meiner Großmutter, die eine bekannte Schauspielerin war. Wenn ich nach Lesungen Bücher signiere, höre ich aber, dass viele Menschen meine Erfahrungen als allgemeingültig empfinden. Die halbe Republik scheint in einer Irrenanstalt aufgewachsen zu sein! Ich hätte ihnen auch geholfen, über sich selbst zu lachen, und das würde sie momentweise glücklich machen. Weil ich Offenheit und Teilnahme anbiete, fühlen sich die Menschen mir nah. Früher dauerten meine Lesungen fünf, sechs Stunden. Nach vier Stunden fingen die Leute an reinzurufen und selber von sich zu erzählen. Das war eine Art kollektiver Rausch.

Hemd: Balenciaga. Baumwollhose: Bottega Veneta. Sneaker: Air Jordan Nike

 

Haben Sie Groupies?

Ich habe mal in Bielefeld gelesen. Auf der Bühne zog es so stark, dass ich dachte: Wenn ich jetzt hier eine Stunde lese, bin ich tot. Also sagte ich zum Publikum: „Auch wenn ich mich wie ein völlig verzärtelter Burgtheaterschauspieler anhöre, hätte vielleicht irgendjemand einen Schal oder ein Tuch für mich?“ Daraufhin flogen bunte Chiffontücher alter Damen zu mir hoch, die alle nach unglaublich penetrantem Parfüm rochen. Da wusste ich, dass ich kein Rockstar bin und wo meine Zielgruppe zu Hause ist. Das gilt es mit Freude zu akzeptieren.

Kennen Sie einen zweiten Schauspieler, der sein Leben in fünf Büchern aufschreibt und 2,3 Millionen Exemplare verkauft?

Nein, das erstaunt mich selbst.

Verbessert Erfolg den Charakter, oder radikalisiert er dessen unheimlichste Seiten?

Das kommt drauf an, in welchem Alter einen der Erfolg trifft. Ich war schön lange sehr unerfolgreich und fühlte mich in den Jahren meiner konstanten Erfolglosigkeit nicht unglücklicher oder glücklicher als heute. Ich war an der Burg nicht glücklicher als in Bielefeld. Das ist leider so. Ich würde gern sagen, dass die Karriereleiter auch eine Glücksleiter ist – ist sie aber nicht.

Ihr Vater war als Psychiater auf die Erkundung menschlicher Seelen spezialisiert. Warum wollte er aus Ihnen ausgerechnet einen Polizisten machen?

Ich war Legastheniker und ein Zappelphilipp, dafür aber durchtrainiert und ein guter Basketballer. Von der Polizeischule hieß es, dass man dort viel Sport mache. Ich war über einen erstaunlich langen Zeitraum tief fasziniert von der GSG 9. Die Befreiung der Geiseln aus der Landshut-Maschine in Mogadischu hatte für mich etwas Magisches – Sonderkommando, das klang schon nach was. Dann hat mich aber doch das Entsetzen gepackt, und in mir rief irgendwas laut: „Jungsirrsinn! Notbremse ziehen! Bewirb dich an der Schauspielschule.“

Weil Sie rasende Wutanfälle hatten, wurde Ihnen als Kind der Beiname „die blonde Bombe“ verpasst. Wie explosiv sind Sie heute?

Ich bin schaumgebremst, wie meine Frau das so eigenartig sagt. Wahrscheinlich bezieht sich das auf Flugzeuge, die durch einen Schaumteppich gebremst werden. Wenn ich mich in Beziehungen oder am Theater ungerecht behandelt fühlte, hatte ich furchtbare cholerische Anfälle. Hinterher kam die Scham, wie bei einem Alkoholiker, der sagt: „Es ist wieder passiert.“ Oft brauche ich diesen Zorn aber, um mich überhaupt mitteilen zu können.

„Mein Zorn“, schrieben Sie mal, „ist auch eine Waffe, durch den Zorn transzendiere ich mich in ein anderes Level von Bewusstsein. Ich werde dann eloquent.“

Ich konnte sehr klar, sehr scharf, sehr böse sein, weil ich immer im Kopf rede und mir Gedanken mache, was man in bestimmten Situationen mal sagen könnte. Diese inneren Monologe sind mein Trainingslager. Als Kind hatte ich im Zorn oft ein Glückseligkeitsirrsinnsgefühl.

Der russische Schriftsteller Gogol stellte sich hin und wieder vor einen Spiegel und rief mit Abscheu und Entfremdung seinen Namen. Kennen Sie diesen Impuls?

Ja, und wie! Beim Schreiben eines Buchs arbeiten Sie sich mit allem, was Sie können, daran ab, den richtigen sprachlichen Ausdruck für bestimmte Zustände zu finden. Nur die passende Form und der treffende Ton machen es mir möglich, Persönliches preiszugeben. Dann kommt das erste Interview, und der Journalist sagt: „Jetzt erzählen Sie doch mal, wie das so war, als Sie bei Ihrem Schlaganfall umgekippt sind.“ Das ist natürlich enttäuschend, trotzdem sage ich dann auch noch bereitwillig: „Ich saß am Küchentisch und mir wurde plötzlich komisch…“ Ich hasse mich dafür, dass ich das mache, statt zu sagen: „Lesen Sie das Buch! Mehr will ich dazu nicht sagen.“ Das Gleiche passiert im Theater. Man spielt vier Stunden lang, und bei der anschließenden Publikumsdiskussion fragt jemand: „Es muss sehr belastend für Sie gewesen sein, so eine schwere Rolle so lange durchzuhalten, oder?“ Dann muss man runter ins Persönliche, grauenhaft. Noch schlimmer kann es in Talkshows werden, denn da bewirbt man im Grunde sein Buch und will irgendwie unterhalten. Dann kann es ganz schnell ganz klebrig werden. Wenn ich nach Hause komme, sage ich mir: „Es ist erbärmlich, was du machst, und wie du die Geschichte deines Schlaganfalls vermarktest. Lass es!“ Ein Hoch auf Gogol.

Ihre fünf Bücher haben Sie in einer Filiale der Bäckereikette Ströck in Wien geschrieben, Ihr Tisch stand auf dem Gang zum Klo. Warum diese schnöde Umgebung?

Wien ist klein, und anders als der Berliner ist der Wiener ein bisschen übergriffig. Wenn Sie als Burgschauspieler in einem Kaffeehaus sitzen, werden Sie angesprochen. Zu Hause zu arbeiten war wegen meiner Kinder auch keine Option. Die Bäckereifiliale war der Unort per se. Es gab keinen Handy- und Internetempfang, und ich konnte fünf Stunden vor meinem Kaffee sitzen, ohne dass jemand kam und fragte: „Wollen Sie noch was bestellen?“ Wer in Wien sitzt, der sitzt.

Wo schreiben Sie in Berlin?
Während des Lockdowns dachte ich oft: schreib! Aber ich weiß nicht über was. Ich war nie ein Schriftsteller, der sich eine tolle Geschichte ausdenkt und sie dann niederschreibt. Ich habe in zehn Jahren fünf Romane geschrieben. Das ist eine ziemlich ertragreiche Quote, aber vielleicht war’s das. Ich habe schon überlegt, etwas nur zu machen, um später drüber schreiben zu können. Ist Hape Kerkeling auf dem Jakobsweg gewandert, nur um ein Buch daraus zu machen?

Warum schreiben Sie nicht über Ihre 14 Jahre an der Wiener Burg, dem intrigantesten und großartigsten Theater der Welt? So ein Buch würde man Ihnen aus den Händen reißen.

Ich habe es öfters versucht, aber ein Schauspieler, der seine besten Anekdoten auspackt? Das wäre eine schale, traurige Veranstaltung. Von einer Sache kann man eben nicht erzählen, und das ist vom eigenen Erfolg.

Produziert Erfolg nicht ebenso schöne Ironien wie blamables Scheitern?

Ja, aber ich kann nur erzählen, wenn auch Komik die Handlung vorantreibt – und komisch ist Erfolg nicht. Misserfolg ist komisch. Von Buster Keaton, Jerry Lewis, Woody Allen und Loriot bis zu Molière und den Figuren von Beckett geht es immer nur um eines: scheitern, scheitern, scheitern.

In den Porträts über Sie heißt es, Sie hätten ADHS und seien ein heilloser Zappelphilipp. Davon ist bei diesem Interview nichts zu sehen.

In meinen Büchern schreibe ich, dass ich als Kind ein vom Zorn getriebener Hochdruckzappler war. Dieses Bild hat sich bei Journalisten verselbstständigt, obwohl ich heute anders bin. Mein fünfjähriger Sohn tritt allerdings gerade glorreich in meine Fußstapfen.

Bis 16, 17 war Lesen für Sie wegen Ihrer Hibbeligkeit eine Tortur. Wie ist aus Ihnen ein Büchermensch geworden?

Durch nicht mehr weiterwissen. Als Austauschschüler in den USA hatte ich noch die totale Buchphobie. Dann starb mein Bruder bei einem Autounfall. Er stand mir sehr nah. Ich fühlte mich wie zerhackt, und es gab nichts, was half, auch nichts Religiöses. Durch den Schmerz über seinen Tod bekam ich eine Sozialphobie und zog mich über Jahre zurück. Lesen gab mir das Gefühl, ich entkomme dem Unglück über den Verlust meines Bruders, indem ich mir eine eigene Welt baue. Endlich war mal Ruhe im Karton. Eines der ersten Bücher damals war „Germinal“ von Émile Zola. Der Kummer, den man in sich trägt und der einen zu verdunkeln droht, wird zur Leinwand, auf der sich umso farbenfroher Geschichten entfalten.

Ihr Schlaganfall war im Winter 2018. Glaubt man dem Augenschein, sind Ihnen Spätfolgen erspart geblieben.

Psychische Probleme sieht man nicht auf den ersten Blick. Bei mir ist das Selbstverständnis angeschlagen. Stattdessen: Verunsicherung, Labilität, Angst, dass es einem wieder passiert. Und jetzt sind auch noch die Theater geschlossen! Ich sitze tagsüber auf einer Bank rum wie so ein Opa. Wenn ich ehrlich bin, ist dieser Zustand hin und wieder nicht eindeutig von einer Depression zu unterscheiden. Ich sitze da, es wird langsam dunkel, und ich denke: Was soll nur werden? Es ist, als hätte jemand den Hauptschalter umgelegt, und man wundert sich, dass man plötzlich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen muss.

Ihre nächste Premiere ist „Das Leben des Vernon Subutex“ von Virginie Despentes an der Schaubühne in Berlin. Gehen Sie nach Ihrem Schlaganfall noch an die Grenze zur totalen Verausgabung, oder werden Sie als zurückhaltender Sidekick plaudernd am Bühnenrand auf einem Stuhl sitzen?

Ich habe das Stück an der Schaubühne mit dem Wissen vorgeschlagen, dass ich noch Zeit brauche, um nach dem Schlaganfall wieder das volle Zutrauen zu mir zu finden. Ich war nie ein psychologisch besonnener, charismatischer Schauspieler, der die Menschen mit seiner genauen Figurenzeichnung in den Bann zieht. Bei mir lief es über die eigene Verausgabung, über das sich total Erschöpfen. In „Vernon Subutex“ spiele ich einen arbeitslos gewordenen Plattenhändler, der alles verloren hat, aber nicht aufbegehrt. Statt zum Kämpfer zu werden, schaut er seinem Absturz erstaunt bis gelassen zu. So eine Figur kann man spielen, ohne den Turbo einzuschalten.

Weil die Theater wegen der Corona-Pandemie geschlossen sind, standen Sie zuletzt im März vergangenen Jahres auf einer Bühne. Hatten Sie in den vergangenen Monaten Entzugsgefühle, oder fühlten Sie sich endlich mal wie in einem Sanatorium, in dem Ihnen freundliche Schonung zuteil wurde?

Anfangs war ich geradezu erlöst und habe die freie Zeit genossen, wie so viele, die wegen Familie und Beruf immer kurz vor dem Kollaps stehen. Derzeit überwiegen beklemmende Gefühle. Ich komme mir vor wie ein flugunfähiger Vogel, ein Kiwi, dessen Flügel verkümmern, weil er sie nicht mehr braucht. Ich weiß gar nicht, wie das werden soll, wenn es dann plötzlich wieder heißt: „So, Abflug bitte!“

Noch ein paar Fragen zu Mode und Stil. Achten Sie aufs Label, wenn Sie einen Anzug kaufen?

Ich habe keinen Anzug. Ich würde gern einen haben und hatte mal den großen Plan, ab 50 nur noch Anzüge zu tragen. Es gibt so tolle Vorbilder, von Jürgen Gosch bis Herbert Fritsch. Leider sehe ich in Anzügen immer aus wie ein Provinzpolitiker.

Po-Scheitel, bedruckte Unterhose, Krawatte zum Kurzarmhemd: Was waren Ihre Stilsünden denn so?
Ein hennarot gefärbter Afro, dazu Creolen im Ohr mit fünf Zentimeter Durchmesser. Das war schon ziemlich daneben. Mich haben stets Menschen beeindruckt, die einen extravaganten Modestil gefunden haben. Wegen meiner Erziehung habe ich Hemmschwellen, mich stilmäßig weit aus dem Fenster zu lehnen. Ich könnte auch nie Schuhe kaufen, die mehr als 80 Euro kosten.

Wie viele Paar besitzen Sie?

Zwei. Ein Paar gehört mir allerdings nicht selbst. Ich trage zurzeit die Schuhe von Vernon Subutex. Weil er auf der Straße landet, müssen die Schuhe noch ein bisschen kaputt werden. Zu Hause habe ich noch ein Paar Turnschuhe. Ich trage seit 30 Jahren dasselbe Modell, Adidas Gazelle, meine ewigen Schuhe.

Was würden Sie an Ihrem Aussehen ändern?

Alles. Ich hätte gern tolle Haare, nicht so müde Augen, ich wäre gern wieder so schlank und durchtrainiert wie mit 25, als man das Gefühl hatte, die Kraft zu haben, die Welt vor sich herzuschieben, ohne überall anzustoßen. Ich wäre wirklich für eine Komplettsanierung. Außerdem hätte ich gern Schuhgröße 43 statt 46/47. Im Schauspielerolymp sitzen sicher lauter Typen mit Schuhgröße 43.

Für welches körperliche Merkmal bekommen Sie am häufigsten Komplimente?

Wie toll das wäre, jetzt drei aufzählen zu können. Kriege ich aber nicht hin. Ich habe allerdings einen sehr hoffnungsvollen Blick.

Für welches körperliche Merkmal haben Sie jemals ein Kompliment bekommen?

Für meine Hände. Es sind große, starke Hände.

Welche Komplimente einer Frau verunsichern Sie?

Ich stehe nicht im Sperrfeuer ununterbrochener Komplimente. Sie mögen da wegen der alten Damen bei meinen Lesungen einen falschen Eindruck haben.

Was halten Sie von Männern, die beim Einkaufen im Supermarkt ihren Fahrradhelm aufbehalten?

Dämlich, beknackt. Auch diese ganze Funktionswäsche ist eine Zumutung.

Sollte ein Mann einen Autoreifen wechseln können oder reicht es, die Nummer eines Pannennotdienstes im Handy zu haben?

Unbedingt den Pannendienst anrufen. Bloß nicht selbst den Reifen wechseln. Kreuzschraubenschlüssel: ein absolutes No-Go! Ich würde tatsächlich so weit gehen, Frauen grundsätzlich zu raten, sich von handwerklich begabten Männern fernzuhalten.

Sollte ein Mann einen Knopf annähen können?

Unbedingt. Wer schon mal gesehen hat, wie Peter Handke einen Faden einfädelt, weiß, das führt direkt zum Nobelpreis. Ich kann den Kreuzstich und kann Knöpfe mithilfe eines Streichholzes im richtigen Abstand vom Stoff annähen, damit das Hemd nachher auch zugeht. Ich kann Hirschhornknöpfe annähen und Druckknöpfe mit Gegenknopf. Dass ich ein Knopfannähspezialist bin, verdanke ich meinem Vater.

Welches Buch soll eine Frau lesen, um Männer verstehen zu lernen?

„Gespräche mit Freunden“ von Sally Rooney. Ein tiefer Blick in den männlichen Hirnknast.

Welches Buch soll ein Mann lesen, um Frauen verstehen zu lernen?

„Reise im Mondlicht“ von Antal Szerb. Die Geschichte von einem jungen Ehepaar auf Hochzeitsreise. Alles geht schief, und die beiden trennen sich. Ein fantastischer Roman.

Gelingt es Ihnen, sich eine schöne Frau nicht nackt vorzustellen?

Ich stehe gar nicht so auf Nackte. Das Angezogene ist mir viel lieber. Ich komme aus einer Generation, für die „Hustler“ und „Playboy“ das Nonplusultra waren. Hatte man wenig Geld, gab es die „Neue Revue“. Die war schon ein bisschen flatteriger, und das Papier ein bisschen armselig. Ich erinnere mich noch meiner völligen erotischen Überforderung, als im „Stern“ nackte große, kalte Frauen gezeigt wurden, die Helmut Newton fotografiert hatte. Diese Frauen guckten einen an, dass man dachte: Du liebes bisschen, die sind aber selbstbewusst! Unerreichbar! Meine erotische Schule war, sich mit 16, 17 verstohlen diese Magazine anzugucken, vielleicht auch zu kaufen. Man war bei erotischem Material immer komplett in der Unterzuckerung. Mein Vater las verstohlen „Emmanuelle“-Büchlein oder leicht pornografische Büchlein, bei denen man nicht viel lesen musste, weil an den Stellen, wo es erotisch wurde, am Seitenrand der Hinweis des Verlags stand: „sexy Passage“. Diese Druckwaren standen mit dem Buchrücken nach hinten im Bücherregal meiner Eltern. Als ich um die 30 war, fing die Internet-Pornowelt an. In den ersten Jahren war ich davon wie besessen, weil ich es nicht für möglich halten konnte, dass es das überhaupt gibt. Irgendwann hatte ich aber so die Schnauze voll davon und fand es nur noch ernüchternd, desillusionierend, grauenhaft und traurig.

Tanzen Sie?

Ich bin sogar ein großer Tänzer! Allerdings tanze ich zum Entsetzen meiner Frau nur auf der Bühne. Als Theaterfigur habe ich schon die tollsten Tänze hingelegt. Wenn meine Frau mit mir tanzen will, sage ich immer: „Ich tanze nur beruflich.“

Kaschmirpullover und Hose mit Smokingstreifen: Dior Men
INTERVIEW
Sven Michaelsen
FOTOS
Xiomara Bender
STYLING
Silja Lange
LOCATION
Redaktion „Blau“ in Berlin