Reportage

Nach der Show ist vor der Show. Was das bei Dior bedeutet, hat Inga Griese auf einer Reise nach Sussex gelernt. Designer Kim Jones widmete die Frühjahr/Sommer Kollektion der Bloomsbury Group.

 

Lewes Station, Charleston, Farleys House, Alfriston, Cuckmere River, The Ram Inn, Berwick, Rodmell, Firle – es scheint, die englischen Krimischriftstellerinnen lassen grüßen. Doch wir sind an diesem schönen Herbsttag mit dem Orientexpress nicht in einem Roman unterwegs, gestorben und ermittelt wird auch nicht, nur gestaunt und genossen. Am späten Vormittag haben wir in der Victoria Station den British Pullman, den Luxuszug der Belmond-Gruppe, an der Hand eines zuvorkommenden Butlers betreten und im „Gygnus“-Waggon mit seinen australischen Walnussholzvertäfelungen und samtigen Polstermöbeln Platz und Champagner zu uns genommen. Gleiten gen Sussex. Passieren (denken Sie beim Lesen gern an Loriots geniale Partnerin Evelyn Hamann) Brixton, Twickenham, Purley, Earlswood, Three Bridges, Haywards Heath und steigen in Lewes aus. Es ist ein ganz normaler Dienstag. Aber womöglich stand der Zug auf Gleis 9 3/4? Wir waren jedenfalls zwei Tage auf einer in jeder Hinsicht zauberhaften Tour – oder waren es doch zwei Wochen? Und das alles dank Kim Jones. Dem künstlerischen Direktor der Männermode bei Dior seit 2018.

Kim Jones, Künstlerischer Direktor der Männermode bei Dior und der Frauenmode bei Fendi ist passionierter Sammler

Der halt nicht mal eben durch einen Bildband blättert oder im Unternehmensarchiv stöbert auf der Suche nach einer Inspiration für die nächste Kollektion. Sondern auf einen Fundus an Leidenschaft, Erlebtem, Gelesenem, Gehörtem und Gesammeltem zurückgreifen kann. Der seine zeitgenössischen Künstlerfreunde zu Dior brachte für Kooperationen. Der es ernst meint, wenn er sagt: „Ich arbeite für den Kunden.“ Und der seine Passion gern teilt. Deswegen reisen wir seiner Pariser Modenschau ein paar Wochen später noch einmal hinterher. Nicht dass das Event im Kloster Val de Grâce nicht schon beeindruckend genug gewesen wäre. Der riesige Zeltbau, eigens errichtet, verwandelt in einen englischen Garten, die Models spazierten heran, verschwanden in der Fassade eines hübschen Cottage, kamen hinten wieder heraus und wanderten über blühende Hügel zum nächsten Haus. In Sachen, bei denen Mann (und ehrlicherweise auch ich) bei jedem Look versucht war, „Hier!“ zu rufen. Jetzt sind sie als Frühjahr/Sommer-Kollektion in den Geschäften.

Gewidmet hatte der Brite alles Charleston und der Bloomsbury Group, die von 1905 an bedeutsamen Einfluss auf Englands kulturelle Modernisierung hatte, miteinander verwoben durch Verwandtschaft, Freundschaft und Ehen, durch Orte und Leidenschaften. Man konnte das wissen. Aber selbst wenn nicht, verfehlten Setting und Looks in Paris nicht ihre bezaubernde Wirkung. Wenn man dann noch mit Kim Jones in Sussex war, dann versteht man, in welchen Dimensionen so eine Kollektion gedacht wird. Es braucht einen Global Player wie Dior, um so eine Show zu arrangieren und zu finanzieren. Aber es braucht auch einen Designer, der dem Luxus eine Seele gibt.

Das Charleston Farmhouse in Sussex stand Pate bei der Dekoration und der eklektischen Frühjahr/Sommer Kollektion, die Kim Jones für Dior in Paris präsentierte. Die Farben sind eine Referenz an die Künstler der Bloomsbury Group, die Attitüde an ihre unkonventionelle, dabei schöpferische Haltung
Praktisch, witzig, lässig: Die Schlau­fen an Köfferchen, Umhänge­ oder Gürteltaschen. Für Schals, Flaschen oder was sonst noch mit nach
draußen will.

Die gibt er preis, als wir in der Scheune von Charleston House stehen. Wir, eine kleine Gruppe Journalisten und Dior-Mitarbeiter, sind direkt vom Bahnhof in Lewes dorthin gefahren, das letzte Stück Weg gelaufen, linker Hand die berühmte Hügelkette, die einst Virginia Woolf bei einem Spaziergang dazu brachte, ihrer Schwester Vanessa Bell zu schreiben: „Ich habe das perfekte Haus für dich gefunden!“ Sie sollte recht behalten, dazu gleich mehr. Erst einmal stehen wir gebannt vor den Zeichnungen und Büchern, die auf einem langen Tisch mit Papierdecke liegen, als sei es ein Flohmarkt. Von wegen. Es sind Schätze aus der musealen Bibliothek von Kim Jones, liebevoll von ihm hochgehalten, vorgeblättert, erklärt. Erstausgaben, handsigniert.

Da ist Woolfs „Orlando“, gleich in mehreren Ausführungen. Sein Lieblingswerk, das die Britin 1928 für ihre damalige Liebe Vita Sackville-West geschrieben hat. Es geht darin um Wandel, Verlust, Gewinn, um die Rollen von Mann und Frau, die gesellschaftlichen Stellungen und Grenzen, die Anerkennung von künstlerischer und literarischer Arbeit. „Orlando“ als Synonym für den Geist, der auch in Charleston weht. Auf einer Staffelei steht ein Gemälde von Duncan Grant. Jones besitzt einige, auch Roger Frys. Unter anderem. Seine Sammelleidenschaft beschränkt sich nicht, angetrieben vielleicht von der Erfahrung als Kind. Immer wenn die Familie umzog – der britische Vater war Hydro-Geologe, die dänische Mutter Bibliothekarin, sie lebten in der Karibik, Südamerika, verschiedenen Ländern Afrikas –, durfte er nur drei Spielzeuge mitnehmen. Als Teenager lebte er mit der Mutter in London, sie war meist krank, starb früh, da war er 17 Jahre. Die Ausflüge nach Sussex bedeuteten auch Freiheit.

1916 also zogen Vanessa Bell und ihr Mann Duncan Grant mit dessen Liebhaber David Garnett und Vanessas Söhnen Julian und Quentin aus der Ehe mit dem Kunstkritiker Clive Bell nach Charleston. Dort wurde zwei Jahre später auch die gemeinsame Tochter von Vanessa und Duncan geboren, Angelica. Die später wiederum Garnett heiratete. Die Männer arbeiteten auf einer Farm in der Nachbarschaft, ein Bruch mit dem Klassensystem, wie überhaupt alle häuslichen und sexuellen Konventionen der prüden Viktorianer sie nicht interessierten. Wobei es weniger um gesellschaftliche Provokation ging, sondern ihre Idee von Freiheit. Chaotische Kreativität war ihr Lifestyle, Kunst das Zuhause aller Bewohner, Duncan malte Vanessas Schlafzimmer aus, sie seines, überhaupt blieb nichts im Haus unberührt von den wunderbaren Tönen, der Palette der Bohemians, die für die visuelle Identität der Bloomsbury Group stehen, starke Pastellfarben, der scheinbare Widerspruch ergibt ja durchaus Sinn.

Auch Persönlichkeiten und Individualisten wie der Ökonom John Maynard Keynes, eben Virginia Woolf, ihr Mann Leonard, T.S. Eliot gehörten zur Clique. Die Fotografin Lee Miller und ihr Mann, der Surrealist Roland Penrose, wohnten ab 1949 nicht weit entfernt in Farleys House bei Chiddingly, dort gingen Picasso, Man Ray, Max Ernst und Miró ein und aus. Im Fliesenschild über dem alten Herd ist ein Picasso eingelassen, Sohn Anthony Penrose führt Haus und Skulpturengarten heute auch als Museum.

Der Erfolg und Nachhall der Gruppe, die sich an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Mischungen traf, hatte mit den Begabungen der Mitglieder zu tun, aber eben auch damit, dass sie sich das Gefühl gaben, dazuzugehören, überhaupt zu etwas zu gehören, konventionsfrei sein zu können, ohne die viktorianischen Fesseln. Fast 60 Jahre lang seit Gründung Anfang des vergangenen Jahrhunderts hatten die Freundschaften und Beziehungen Bestand. In Charleston stand das Haus offen, es war ein Ort, an dem die Freunde zusammenkamen, um zu arbeiten, zu malen, zu schreiben, sich die Gesellschaft anders vorzustellen, die Aura ist gegenwärtig. Wenn sie da jetzt säßen am großen, runden, so schön verzierten Esstisch und diskutierten, man wäre keinesfalls verwundert, würde nur gern einen Stuhl mit ranziehen.

Charleston House, beliebter Treffpunkt der Bloomsbury Group, ist heute ein Museum, im Garten schrieb John Maynard Keynes 1919 sein „Economic Consequences of the peace“.
Monk’s House, das Landhaus von Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard. Jeden Morgen ging sie durch den Garten zur ihrem Schreibhäuschen, ihr Schreibtisch ist quasi unberührt
Die bezaubernde „Berwick Church“ mit den klaren Fenstern zum Garten und Friedhof. 1941 malten die Künstler Duncan Grant, Vanessa und ihr Sohn Quentin Bell sie, arrangierten Personen der Gegenwart im biblischen Kontext.

 MOMENTS CAPTURED BY INGA GRIESE: 

Kim Jones, 43, kam zum ersten Mal hierher, als er ungefähr 14 Jahre war. Er interessierte sich für Kunst und Mode und die Art, wie Vanessa, Duncan und ihre Freunde bescheiden lebten und liebten, diese im Wortsinn verrückte Art schien so cool und aufregend zu sein. „Und schon die Tatsache, dass jede einzelne Oberfläche bemalt oder dekoriert ist, dass und worüber nachgedacht wurde – es war immer Wandel, nie Stillstand, immer wurde gearbeitet, still, immer fortschrittlich.“ Ein „Orlando“. Und ein Ort, „der sich bewohnt anfühlt und immer noch sehr lebendig ist, auch ohne Menschen.“ Ihre Haltung sei nach hundert Jahren noch relevant. „Wie wird es sein, wenn in 200 Jahren auf uns geblickt wird?“

Für den einstigen Londoner Punk-Teenager hat der Geist der Bloomsbury Group Paralellen zur generationsprägenden Jugendkultur. „Sie waren Verweigerer aus Gewissensgründen. Sie wollten nicht so leben, wie die Leute im viktorianischen Zeitalter es taten. Wir würden nicht so leben, wenn es nicht Leute wie diese gegeben hätte. Wenn man die Sichtweise junger Menschen ändert, ändern sich die Dinge politisch, sie ändern sich in der Umwelt, sie ändern sich auf viele verschiedene Arten.“

Der Designer ist auch so ein Weiterentwickler. „Ich habe zuerst ein paar Keramiken gekauft, und dann hat mir ein guter Freund, den ich bei eBay kennengelernt habe, sehr geholfen. Ich war davon ausgegangen, alles sei hier, aber sie waren so produktiv, dass ihre Arbeiten überall verstreut sind. Und dann habe ich sozusagen die Wände in meinem Haus gefüllt.“ Sagt es und lacht ein bisschen. Mittlerweile hat er eine so große Sammlung an Gemälden, Objekten und Literatur der Bloomsbury Group und vor allem von Virgina Woolf zusammengetragen, Bücher, Signaturen, Manuskripte, Korrekturabzüge, dass sie ein Museum füllen kann.

Eines Tages werde er die gesamte Bibliothek dem Charleston Trust schenken, sagt er. Dem Verein, der gegründet wurde, um das Haus zu retten. „Es musste in großem Umfang restauriert und konserviert werden“, berichtet Direktor Nathaniel Hepburn. „Es ist jetzt ein Museum, das das ganze Jahr über für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Es soll kein Mausoleum für tote Ideen werden. Wir veranstalten vier Festivals im Laufe des Jahres und viele Ausstellungen. Es geht darum, die zeitgenössische Bedeutung der Bloomsbury Group für die heutige Gesellschaft und das künstlerische, soziale, sexuelle und wirtschaftliche Leben zu erforschen.“ Leonard Woolf hat der Sussex University einiges hinterlassen, Jones will seine Schätze zugänglicher machen. In Rodmill hat Jones ein Anwesen gekauft für das Vermächtnis. Um zusammenzuhalten, was zusammengehörte.

In Rodmill kaufte auch Virginia Woolf 1919 mit ihrem Mann das Monk’s House, ein Cottage, das ihr viel zu klein und heruntergekommen schien. Doch die Bescheidenheit hatte offenbar etwas Kontemplatives; es galt: „dieses wird unsere Adresse für immer werden“, wie die Schriftstellerin notierte, nachdem sie den Zuschlag bei einer Auktion erhalten hatten. Da war sie gerade dabei, ihre zweite Novelle „The Voyage out“ zu korrigieren. Das Landhäuschen wurde zum Ruhepunkt außerhalb ihrer Lebens in London, an Wochenenden, Weihnachten und Ostern. Und nach der Zerstörung ihrer Londoner Wohnung im Krieg für immer – bis sie sich 1941 im nahe gelegen Fluss Ouse das Leben nahm.

Und dann folgt man dem langen, schmalen, gepflasterten Weg durch den so englischen Garten, den sie jeden Morgen genommen hat, und steht plötzlich an ihrem Schreibtisch in der kleinen Gartenlaube, der Blick reicht weit in die Landschaft hinein. Rechter Hand könnte man, wäre da ein Fenster, die trutzende Kirche sehen. Und die alte Dame, die den Garten davor bestellt, als wäre das Bücken in ihrem Alter kein Problem. Alles liegt noch da, als sei Virginia Woolf gerade erst aufgestanden, um auf einem der Liegestühle vorm Häuschen Platz zu nehmen und mit Freunden zu diskutieren. Man will sich am liebsten setzen und auch was schreiben. Soll man nicht, macht man instinktiv nicht. Es ist wie im Charleston House, die Aura ist geblieben. „Between the Acts“, ihr letztes Buch, posthum 1941 veröffentlicht, ist hier entstanden.

Am Morgen, bevor wir zum Monk’s House kamen, wartete vor unserem Quartier, dem „The Star“ in Alfriston, einem ehemaligen Hostel für Mönche und Pilger aus dem 15. Jahrhundert und jetzt ein wirklich empfehlenswertes, geschmackvolles Hotel, eine kleine Flotte Oldtimer mir Fahrern, die wahrscheinlich Miss Marple schon kutschierten. Wir zuckelten durch die beschauliche Landschaft und hielten als Erstes an der Berwick Church, drei Meilen westlich von Charleston.

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