Vision für eine neue Mode

Moda Povera vs. Haute Couture

Der Modehistoriker Olivier Saillard nutzt die Woche der Königsliga der Schneiderkunst für ein Herzensprojekt: Seine Vision für eine neue Mode, die Moda Povera.

Von wegen neue Post-Corona-Bescheidenheit und Pro-Klima-Askese, so wie sie im ersten Lockdown-Schock von Giorgio Armani ausgerufen wurde: Die großen Modehäuser kehren zur großen Geste zurück. Von China über Italien und Monaco bis nach Paris und Athen. Armani wollte keine bombastischen Spektakel um ihrer selbst willen mehr, keine aufwändigen Croisière-Schauen, für die tausende von Gästen und Akteuren tausende von Kilometern für 20 Minuten Defilee um den Globus geflogen werden. Schnee von gestern, so scheint es. Man will wieder sorglos schwelgen, als gäbe es kein Morgen. More is more.

Nicht so Olivier Saillard. Er, Jahrgang 1967, ist einer der profiliertesten Modekenner und -beobachter in Paris. Er liebt die Mode und ist gleichzeitig ihr größter Kritiker. Von 2010 bis 2018 war er der Direktor des Modemuseums Palais Galliera und machte sich durch innovative Ausstellungskonzepte und Performances mit Stars wie Tilda Swinton oder Charlotte Rampling einen Namen. Heute verantwortet er als Kreativdirektor das Design der französischen Schuhmanufaktur J.M. Weston in Limoges und leitet als künstlerischer Direktor die Fondation Azzedine Alaïa.

Nebenbei betätigt er sich, wie er selbst formuliert, als „Sonntagsschneider, dieser seltenen Spezies, die aus ihrer Leidenschaft kein Geschäft machen wollen.“ Für die vierte Ausgabe seines Moda Povera-Projekts hat Olivier Saillard, nach einfachen T-Shirts oder weißen Herrenhemden, diesmal günstige Herrenanzüge des französischen Billiganbieters Kiabi in der Übergröße 8XL erworben, 45 Euro das Jackett und 25 Euro die Hose, wie er bereitwillig vorwegschickt. Diese wurden von Modestudenten kunstvoll umgearbeitet und von dem grauhaarigen Mannequin Axelle Droué graziös vorgestellt, ganz bescheiden und intim in seinem Pariser Hinterhofatelier, vor weißen Leinwänden und schmucklosen Holzrahmen und vor einem kleinen Publikum von etwa 20 Gästen.

 

 

  „Die Idee von Moda Povera ist, einfache Basiskleidung von Haute-Couture-Profis so umzumodeln und zu drapieren, dass daraus ein Unikat entsteht. Gleichzeitig assistieren ihnen Modestudenten, wodurch auch Handwerkswissen weitergegeben wird. Diesmal haben sie sich Romain und Antonin von den ehemaligen Modellistinnen von Madame Grès und Balenciaga anlernen lassen. Moda Povera versteht sich auch als Modekonservatorium. Wir verzichten auch auf Labelling und verkaufen die Stücke direkt vor Ort. Wie ein Gemüsebauer, der sein Produkt auf den Markt trägt, wenn es reif ist. Ohne Etikett“, sagt er.

  

In der 40-minütigen Performance zeigte Droué, die in ihrer Jugend bei eben genau jener berühmten Madame Grès modelte und in den 80ern enge Mitarbeiterin von Claude Montana war, etwa 40 verschiedene Looks aus demselben, schwarzen Kiabi-Herrenanzug, der sich in Bolerojacken, ärmellose Westen, drapierte Hosen, Zwitter aus Rock und Hose  oder kimonoartige Mäntel verwandelte. „Es gibt ein Zuviel an allem“, meint er. „Erst in der Beschränkung der Mittel zeigt sich echte Kreativität. Ich würde mir wünschen, dass die Mode wieder ein bisschen so wird, wie die all die Häuser einmal angefangen haben. Kleiner, exklusiver, menschlicher. Dass wir jedem Stück wieder Würde geben. Kleidung müsste so gedacht werden wie Luxusuhren, die man ein Leben lang behält.“

 

Text
Silke Bender