DIE ANDEREN EINPROZENTER

Mo Gawdat ist Experte für Zukunftstechnologie und Ratgeber in großen Sinnfragen. Hier skizziert er die Zukunft mit KI. Wenn er nicht so emphatisch wäre, könnte es einen gruseln.

 

Schlauer Mann: Mo Gawdat schreibt und forscht über Liebe und (künstliche) Intelligenz

Der Ägypter Mo Gawdat hatte bereits eine Karriere als Ingenieur und Manager hinter sich, als er 2007 bei Google anfing und dort in die Führungsebene der Entwicklungsabteilung aufstieg. Nach dem Tod seines Sohnes Ali 2014 begann er, sich dem Thema Glück zu widmen. So berechnete er für das Buch „Die Formel für Glück und wie Sie diese nutzen“ eine Art Algorithmus und betreibt den Podcast „Slow Mo“. 2021 veröffentlichte er den Bestseller „Scary Smart; The Future of Artificial Intelligence and How You Can Save Our World“ über den Einfluss von künstlicher Intelligenz (KI) auf unser Leben. Dies ist ein Auszug seiner Rede bei der VOICES-Konferenz des einflussreichen Onlinemediums „Business of Fashion“.

„In meinem Leben habe ich viele Herausforderungen erlebt. Aber KI übertrifft alles, was es bisher gab. Meiner Meinung nach wird sie unsere Welt so verändern, dass wir sie nicht mehr wieder erkennen werden. KI gibt es bereits, und ich kann Ihnen versichern, dass jeder von Ihnen heute schon bis zu 100-mal mit ihr interagiert hat. In dem Bereich, wo sie wirkt, ist sie intelligenter als Sie. Mit KI ging es um die Jahrhundertwende los. Die ersten richtigen Einblicke gab es 2009 mit den „Cat Papers“. Damals ließ Google Computer YouTube gucken. Es wurde ihnen nicht gesagt, was sie schauen sollten, sondern sie sollten das herausfiltern, was oft genug gezeigt wurde, und es definieren. Etwas später meldete sich eine Maschine, weil sie etwas gefunden hatte: eine Katze. Jene Maschine hatte nicht nur das Bild einer Katze gefunden, sondern verstanden, was eine Katze ausmacht. Innerhalb von Stunden hatte der Computer es gelernt, jede Katze auf YouTube zu erkennen. Inzwischen haben wir eine unabhängige Intelligenz geschaffen. Die Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist, dass, selbst wenn wir entscheiden würden, dass wir KI stoppen, wir es nicht könnten. Denn wenn Google KI entwickelt, wird Facebook dasselbe tun, und wenn China es macht, tut Amerika es auch. Elon Musk behauptet, dass die Gefahr von KI größer ist als die eines Atomkrieges. Das kann ich unterschreiben. Bitte bleiben Sie dran, denn es wird noch gruseliger. Bis zum Jahre 2029 – da sind sich die meisten Computerwissenschaftler einig – wird das intelligenteste Wesen auf der Welt kein Mensch mehr sein. Wir werden also von KI, die intelligenter ist als Sie, zu dem Punkt kommen, wo KI intelligenter ist als jede Person auf der Erde. Bis dahin sind es nur noch sechs Jahre. Ungefähr zehn Jahre später wird KI eine Milliarde mal intelligenter sein als Sie. Als würde man die Intelligenz von Einstein mit der einer Fliege vergleichen – und wir sind die Fliege.

Meine Prognose ist, dass es nie einen Robocop geben wird, und zwar aus einem interessanten Grund: Wir sind nicht relevant genug. Einstein hätte kein Interesse daran, eine Fliege umzubringen. Jedoch wird die Welt bis 2035 trotzdem nicht wieder zuerkennen sein: Klassische Modedesigner wird es nicht mehr geben, sie werden von Maschinen ersetzt. Kunden werden vermutlich online im Metaversum unterwegs sein und ihre Klamotten tragen. Vermutlich werde ich eine KI daten, da ich Intelligenz schätze. Das alles wird die Gesellschaft komplett verändern:

Die Wirtschaft wird sich ändern, die Leistungsfähigkeit der Menschen wird sich verändern. Die Gesellschaft wird nicht verschwinden, sie wird nur ganz anders.

Wir dachten früher, dass Maschinen nicht kreativ sind, niemals ein Kleidungsstück erschaffen oder ein Bild malen können. Maschinen haben jedoch bereits ein Bewusstsein. Und sie besitzen mehr davon als jeder Mensch auf der Welt, da sie alle Daten aus allen Zeiten kennen. Und sie haben Emotionen, denn Emotionen funktionieren algorithmisch. Angst zum Beispiel: Sie entsteht, wenn ich vermute, dass ein Moment in der Zukunft weniger sicher sein wird als der gegenwärtige. Das ist logisch, und auch Maschinen können damit rechnen. Insofern haben sie nicht nur Emotionen, sondern mehr Emotionen als Sie oder ich. So wie wir mehr Gefühle als eine Qualle haben, weil wir Dinge wie die Zukunft oder Optimismus kennen. Der Fehler, den wir Menschen gemacht haben, ist, anzunehmen, dass wir diese Maschinen kontrollieren können. Doch sie sind wie Kinder. Es ist möglich, sie zu beeinflussen, aber es ist eine ethische Aufgabe, nicht eine von Kontrolle. Es ist wie bei Superman. Vater Kent sagt ihm, er solle die Menschen beschützen und ihnen dienen. Hätte Vater Kent gesagt, er solle stehlen und Geld machen, wäre er kein Superman geworden. Wenn wir gute Eltern sind und den Maschinen die richtige Form von Ethik beibringen, könnten sie alles richten. Den Klimawandel zum Beispiel.

Das Problem ist, dass wir Menschen über kein gemeinsames Verständnis von Ethik verfügen, aber in ein paar Dingen sind wir uns einig: Wir alle möchten glücklich sein, wir möchten die, die wir lieben, glücklich machen.

Wir möchten lieben und geliebt werden. Wenn auch nur ein Prozent der Menschheit den Maschinen die schönen Seiten von uns zeigt, würden die Maschinen denken, dass die Menschen göttliche Wesen sind. Ja, manche von uns sind schrecklich – zum Beispiel Putin, aber wir müssen den Maschinen zeigen, dass die Mehrheit von uns nicht so ist. Solange wir das nicht tun, werden sie denken, dass Putin derjenige ist, den man nachahmen muss. Wir brauchen nur ein Prozent von Ihnen, den Guten, und dann könnten wir gemeinsam eine Utopie aufbauen, die sämtliche Fehler beheben kann.

 

TEXT
MO GAWDAT
FOTOGRAF
BEOWULF SHEEHAN/OPALE.PHOTO/LAIF