Designerin Sarah Burton

Die den Sturm jagt

Als Nachfolgerin des Genies Alexander McQueen konnte Sarah Burton eigentlich nur scheitern. Tat sie aber nicht. Die Modedesignerin hat die Marke zu neuen Höhen geführt. Mit Treue zu ihrem Lehrmeister und eigenem Kopf.

Für eine kleine Weile trotzte am frühen Morgen das helle Licht am Horizont noch der schweren Wolkendecke, bis sie sich wie ein schwerer Schleier auch über dieses Eckchen des Himmels legte. Der Blick aus dem Zimmer im Londoner Hotel „The Standard“ geht über traditionelle Gelbklinker-Reihenhäuser mit den tönernen Schornsteinen, die aussehen wie Weinkühler, hinweg auf ferne Glasgebäude, Baukräne und Renzo Pianos Wolkenkratzer The Shard, der wie eine steile Rampe in den Himmel weist. Wo landet man, wenn man von dort abhebt? Der Wolkenflausch ist trügerisch. Etwas später wird es laut, in der Schule um die Ecke ist Pause, der Hof füllt sich mit Kindern, die das tun, was sie brauchen: toben, rufen, lachen. Der Himmel reißt auf, die Sonne lacht mit.

Ähnliches wird Sarah Burton beobachtet haben von dem schmalen Balkon, der ihr Studio im Hochhaus-Hauptquartier von Alexander McQueen im Trendviertel Clerkenwell umgibt. Der Blick geht zum Shard, zur St.-Paul’s-Kathedrale, wo einst Charles und Diana heirateten haben, bis zum wirklich riesigen Riesenrad London Eye – und in den Himmel. Oft hat die Kreativdirektorin dort mit ihren Leuten gestanden und geschaut, besonders im vergangenen Jahr, als die Zeit häuslich wurde. „Was London so faszinierend macht, ist das Beieinander von Alt und Neu. Was mich dann aber wirklich berührt hat, war die Natur, das Wilde“, sagte sie am Dienstag nach der Vorstellung ihrer Frühjahr/Sommer-Kollektion, für die Smiljan Radic, der Architekt ihres Vertrauens, ein rundes Plastikzelt auf dem Dach vom Tobacco-Dock-Yellow-Parkhaus in Wapping konstruiert hat. Der hippe Bezirk an der Themse ist in London das, was die Speicherstadt für Hamburg ist. Man könnte meinen, die selbstverständlich wiederverwertbare Plastikkonstruktion wäre eine Anspielung auf die anhaltende Diskussion, dass die Mode in einer Blase lebe. Doch zum einen trifft das mit der Weltfremdheit für Sarah Burton so gar nicht zu, und vor allem ging es an diesem Dienstagmittag darum, dem Himmel so nah wie möglich zu kommen. Denn er mag das Limit sein, ist aber auch grenzenlos. Und in London eine unzuverlässige Größe. Alles ist jederzeit möglich. Verheißungsvoll klar oder wolkenverhangen erdrückend. Sonnig oder klatschnass. Schäfchenwolkenfeld oder sturmgetrieben wie das Leben der vergangenen Monate.

War die letzte Kollektion noch erdverbunden präsentiert (nah an der Natur ist Sarah Burton ohnehin immer) und kunstfilmisch festgehalten auf einem matschigen Catwalk entlang der Themse, ging der kreative Blick dieses Mal nach oben. Und nach vorn. Deswegen ja auch wieder eine Show vor echtem Publikum, da oben kurz unter dem Londoner Himmel, der wie bestellt mitspielte und das ganze Spektrum während der Präsentation präsentierte: gleißendes Sonnenlicht, Wölkchen, bedrohliches Dunkelgrau. Nur Regen fiel nicht. Man kann das deuten, aber auch einfach als das Glück der Tüchtigen sehen. Burton hatte keine Mühe, ihren Weg zu finden.

Denn das ist die 47-jährige Designerin unbedingt, und flankiert von Begabung, Detailliebe, Anständigkeit, führt sie das Erbe von Lee Alexander McQueen fort. Wenn man oder frau in die Fußstapfen einer Ausnahmepersönlichkeit tritt, sind die Stimmen, die zweifeln, lauter zu vernehmen. Doch während Karl Lagerfelds langjährige Mitarbeiterin Virginie Viard sich bei Chanel noch wie tastend vorwärtsbewegt, hatte Burton keine Mühe, den Weg zu finden, sie war ja die meiste Strecke mitgegangen, McQueens Fußstapfen waren manchmal auch ihre gewesen. Als sie 1996 im Rahmen ihres Studiums am Central St. Martin’s College ein Praktikum bei ihm absolvierte, war sein Modeunternehmen erst drei Jahre alt. Gegründet in einer Zeit, die vor Kraft kaum laufen konnte, der Beginn der Ära, wie wir die Mode heute wahrnehmen, der Anfang der großen globalen Player.

McQueen bot der begabten Studentin aus Manchester an: „Bleib doch einfach.“ Sie schloss das Studium ab, kehrte zurück, verinnerlichte und übernahm als seine erste Assistentin die Aufgabe, seine aufregenden, futuristischen Showentwürfe in trag- und damit verkaufbare Mode zu modifizieren. 2001 übernahm der Kering-Konzern die Marke, 2010 musste die Modewelt erschüttert zur Kenntnis nehmen, dass seine Dämonen stärker als jede Anerkennung waren und Lee McQueen sich erhängte. Nie hat seine Schülerin das Genie ihres Mentors verraten – und zugleich das Modehaus mit ihrer eigenen Ästhetik in eine erfolgreiche Gegenwart geführt. Ein Powerhaus, das im Gegensatz zu den Wettbewerbern keine lange Tradition aufweisen kann, aber Schlüsselcodes wie Innovation, Kompromisslosigkeit, Provokation, Romantik, Emotion und Handarbeit. Sarah Burton hat das zeitgemäße Alphabet dazu geschrieben, Eigenschaften, die heute auch in der Modewelt als unerlässlich gelten, wie Teamarbeit und Naturverbundenheit musste sie gar nicht erst lernen. Bei einer Show vor wenigen Jahren in Paris ließ sie sämtliche Näherinnen und Mitarbeiter beim Schlussdefilee vortreten, überhaupt ist sie selbst keine, die sich in den Vordergrund spielt. Eher schüchtern, wenn es um repräsentative Notwendigkeiten geht, aber sehr direkt im persönlichen Gespräch.

Auch in London war es wieder so, eine kurze Verbeugung in den Applaus nach dem Defilee, backstage dann herrschte eine Art familiäres Gewusel, die Models standen bereit, um einzeln fotografiert zu werden, man konnte einen genauen Blick auf die filigranen Arbeiten werfen, Mitarbeiter packten, Gäste gratulierten, Prominente warteten, bis Mrs Burton ausgesprochen hatte. Sie trug Jeans, eine weißes Hemd, Pulli über der Schulter, die langen blonden Haare offen, ganz so, als würde draußen schon der alte Range Rover warten, mit dem sie auf dem Land nach dem Rechten im Gemüsegarten schauen würde. Die unaufgeregte, pragmatische Attitüde sollte gleichwohl nicht hinwegtäuschen über die Fantasie, Kreativität und Konzentration einer der einflussreichsten Designerinnen unsere Zeit.

Am Ende schwebt Naomi Campbell vorbei. Es fällt nicht schwer, sie sich als Sturmjägerin vorzustellen. Jene Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Unwetter zu beobachten und zu dokumentieren. Wenn Wind kommt, fällt sie nicht um. Das Londoner Wetter ist ihres, wie sie lachend erzählt. Sturmjägerinnen sind auch die Frauen, an die sie dachte, da oben auf dem Balkon, als sie und ihr Team fotografierten, was der Himmel zu den verschiedenen Tageszeiten hergab, woraus dann wieder Stoffe entstanden. Eine junge Punkfrau im gebauschten Sommerhimmelschäfchenwolken-Mini eröffnete das Defilee, zwischendurch lief ein Donnerwetter vorbei, und am Ende, im langsamen Abstand zu den anderen, schwebte Naomi Campbell vorbei, fast eine Illusion, im schwarzen Outfit mit Strasssteinen, die über die Stofflagen und die Beine flirten. Wie Blitze einer Discokugel.

Natürlich hat sie sehr viel nachgedacht in den Monaten der Pandemie, der Horizont von Sarah Burton ist kein luftleerer Raum. Die gestalterische Essenz daraus formuliert sie so: „Ich mag die Vorstellung, dass die McQueen-Frau eine Sturmjägerin ist, ein ganz individueller Charakter in einer Gesellschaft, die im gleichen Universum lebt. Beim Sturmjagen geht es nicht nur um die Schönheit des Augenblicks, sondern auch um Mystik, Aufregung, die Akzeptanz dessen, dass wir nie sicher sein können, was im nächsten Augenblick passiert. Die Kontrolle abzugeben und zu akzeptieren, dass die Natur immer stärker ist als wir.“ Das wird auch im nächsten Frühjahr noch gelten.

Dieser Artikel ist ursprünglich in WELT AM SONNTAG erschienen