Ein Regal geht um die Welt: Der Brite Mark Adams hat aus den Klassikern des deutschen Designers Dieter Rams einen internationalen Erfolg gemacht. Im Interview spricht er über ein Möbel als Familienmitglied.
Das subtile Biest
Die Firma Vitsœ hat ihren Hauptsitz in Royal Leamington Spa in den englischen Midlands. An einem winterlichen Abend führt der Boss mit seinem Laptop zunächst durch das 2017 fertiggestellte Gebäude, das nach dem Vorbild der modularen Möbel der Marke entstand. Er zeigt die Materiallager, die Cafeteria und die Kisten mit den Bosch-Bohrerspitzen und den Faber-Castell-Bleistiften, die Käufer des berühmten Regals „606“ zum Selbstaufbau dazubekommen. Mark Adams selbst fügt sich im besten Sinne in diese Szenerie ein: Gekleidet in dunkle Farben, Brille, Kurzhaarschnitt, wirkt er angenehm unauffällig.
ICON: Herr Adams, auf Ihrem Instagram-Account veröffentlichten Sie zur US-Wahl ein Bild aus einer Nachrichtensendung, auf dem man Angela Merkel mit Joe Biden in Berlin sieht – und im Hintergrund eine Gruppe der „Sessel 620“ von Dieter Rams. Wussten Sie, dass Sie einmal ans deutsche Kanzleramt geliefert hatten?
Mark Adams: Ja, natürlich. Meistens sieht man höchsten Bruchteile der Sessel für ein paar Sekunden. Aber in dieser Ausgabe der Channel-4-News waren sie 2013 so deutlich erkennbar, dass ich die Sendung aufnahm. Ich bin den Film Einzelbild für Einzelbild durchgegangen, bis ich eine ganz gute Ansicht fand und fotografierte dann schlichtweg meinen Bildschirm. Sie scheinen beim Kanzleramt übrigens mit den Sesseln sehr zufrieden zu sein, vor einigen Jahren haben sie nachbestellt.
Vitsœ war im Ursprung ein ziemlich deutsches Phänomen: 1959 in Frankfurt nur für die Möbelentwürfe von Dieter Rams zuständig – das Regalsystem „606“, später auch Sessel und Beistellstische. Sie galten hierzulande bald als Klassiker. Aber wie war das in England, wo Sie Mitte der 1980er in einem Laden anheuerten, der Vitsœ verkaufte?
Die Dieter-Rams-Regale waren für die Engländer zunächst eine exotische Angelegenheit. Ich sehe noch diesen Architekturjournalisten vor mir: sehr smart, beste Cambridge-Erziehung. Er sagte: „Ist dir klar, dass du den Markt für solche Regale binnen eines Jahres bedient haben wirst?“
Wie lautete Ihre Strategie, damit genau das nicht eintrat?
An Leute wie Norman Foster, Richard Rogers oder David Chipperfield heranzutreten! Ich fuhr mit den Möbeln zu diesen Architekten, und sie fanden sie clever. So gelang es uns, in Architekten- und Designer-Kreisen ein Profil aufzubauen. In Deutschland mussten wir Vitsœ übrigens komplett neu erfinden. Hier galt gerade das Regal als das Möbel der Eltern.
Was zeichnet den Entwurf aus?
Ich sage oft: Es ist ein subtiles Biest. Es wirkt schlicht, klar, fast unsichtbar, aber es ist nicht einfach zu verstehen, wenn man nur die Oberfläche betrachtet. Man kann das mit einer Oper vergleichen. Wieso soll man sich stundenlang hinsetzen und einer Person zuhören, die in einer Sprache singt, die man nicht versteht? Aber wenn man einmal dahintergekommen ist, was eine Oper so besonders macht, kann es sehr erfüllend sein. Und das ist, was wir bei Vitsœ sehen.
Inwiefern?
Manche Kunden kaufen eben irgendwann ein Regal. Und dann passiert etwas in ihrem Leben. Sie ziehen in ein neues Haus oder sie lassen sich scheiden, sie bekommen Kinder, und sie stellen plötzlich fest: Das Regal passt sich diesen großen Veränderungen an. Wir haben das im vergangenen Jahr oft festgestellt, als die Leute zu Hause bleiben mussten. Sie merkten, für was sie ihr Vitsœ verwenden können! Nun machen die Kinder ihre Hausaufgaben daran, und irgendjemandem fällt auf: Ein weiteres Element könnte nicht schaden. Davon profitieren wir enorm.
Ich begegnete Ihren Möbeln zum ersten Mal vor gut zehn Jahren in einer Privatwohnung in München, die als Vitsœ-Showroom diente. Da hatten Sie gerade auch die Lizenz für den Vertrieb in Deutschland bekommen, wo Rams’ Möbel zwischenzeitlich von einem anderen Hersteller produziert worden waren.
Sie meinen die Wohnung von Monika Hary, der ehemaligen Assistentin des Firmenmitbegründers Nils Vitsœ, und ihrem Mann Michael Haberbosch. Das war unsere Art, mit wenig Budget wieder loslegen zu können: Wir mieteten die Wohnung, statteten sie mit unseren Möbeln aus und setzten die beiden da rein. So fing es an! So habe ich es auch in England gemacht – die Regale aus meinem Apartment heraus verkauft, weil ich mir keinen Laden leisten konnte.
Als Sie Vitsœ Mitte der 90er-Jahre von einer deutschen zu einer britischen Firma machten, was veränderte das?
Wir haben daraus keine britische, sondern eine internationale Firma gemacht. Nichts an Vitsœ ist englisch. Keine Tweedjackets, keine braunen Lederschuhe, oder was auch immer sie mit England verbinden. Aber was ich nicht wusste: Die Tatsache, dass ich Brite war, sprach sehr für mich, als ich zunächst Niels Vitsœ und später Dieter Rams traf. Vitsœs Boss in den 40er- und 50er-Jahren in Dänemark, wo er bei einer Bettenfirma arbeitete, war ein Brite. Er fuhr einen Bentley und trug Tweed. Und Dieter Rams wurde schon 1961, mit gerade 29 Jahren, wegen seines Braun-Fernsehers nach England eingeladen, um einen Preis entgegenzunehmen – also in ein Land, gegen das sein Land nicht allzu lange Zeit zuvor einen Krieg geführt hatte. Er lief durch London, vorbei an Bombenstellen, und er war wirklich beeindruckt davon, dass die Briten ihn kontaktiert hatten. Es war das erste Mal, dass er internationale Anerkennung gewann.
Vitsœ hat mit dem Regalsystem, den Tischen und den Sesseln ein schmales Produktportfolio. Dieter Rams hat mehr gestaltet – etwa das wunderbare Sesselprogramm „RZ 60“. Planen Sie Neuauflagen?
Es sind wenige Möbelstücke, aber gerade die Möglichkeiten des Regals sind endlos. Wir wollen zunächst das, was wir machen, zu den Leuten bringen, die uns noch nicht kennen.
Wie sieht es mit Entwürfen anderer Gestalter aus?
Natürlich werden wir uns irgendwann von Dieter Rams wegbewegen. Wir sollten kein Tribute-Act sein. Das Gebäude, in dem ich gerade sitze, beweist das. Es ist nicht von Dieter Rams, aber es ist pures Vitsœ – wir haben es selbst entworfen. Als er zum zweiten Mal hier war, liefen wir beide durch die Halle. Irgendwann drehte er sich um und schaute mir tief in die Augen, so wie das nur er kann, und sagte: „Mark, was ihr hier gemacht habt, ist außerordentlich.“ Es ist das einzige Mal, dass ich dieses Wort aus seinem Mund gehört habe.