Louis Vuitton Spring Summer 2022 Menswear

SPIEL DES LEBENS

 Eine der wohl wichtigsten Eigenschaften eines großen Modedesigners des 21. Jahrhunderts – also, einem wie Virgil Abloh – ist die Neugierde und Offenheit, mit der der- oder diejenige den Ursprung und die Vorläufer einer modischen Idee reflektiert und interpretiert.

Fast nichts ist heute mehr so richtig neu, und auch wenn die Wachhunde auf Social Media schnell mit Kopie-Vorwürfen reagieren, sobald sie zwei sich ähnelnde Ärmelformen entdecken, muss man längst urteilsfrei feststellen: Mode ist ein Remix, und oft gefällt sie den Menschen dann besonders gut, wenn sie irgendwie vertraut wirkt und gleichzeitig das Bedürfnis nach Veränderung stillt. Virgil Abloh, Chefdesigner der Männerlinie von Louis Vuitton, beherrscht diese Art des Remixes besonders gut, aber ebenso sehr ist ihm daran gelegen, seinen „Sampling-Prozess“ transparent zu gestalten. Oder auch den von anderen: Der Film zu seiner neuen Kollektion heißt „Amen Break“, ein Titel, der sich auf einen bestimmten Drum-Break von 1969 bezieht – eine Stelle in einem Song also, in welcher der vom Schlagzeug vorgegebene Haupt-Beat alleine erklingt.

 

Der „Amen Break“ wurde von einer Funk- und Soul-Gruppe aus Washington D.C. namens The Winstons entwickelt, erregte bei seinem Debüt eher wenig Aufmerksamkeit und entwickelte sich dennoch zum meist gesampelten Drum Break überhaupt. Eine kreative Leistung, die immer wieder eingesetzt, neu gedacht und interpretiert wird, oft ohne irgendeinen Hinweis auf die ursprüngliche Quelle – das ist ein Konzept, das Abloh beschäftigt, erst Recht im Hinblick auf die afroamerikanische Kultur. Für Spring Summer 2022 blickte er auf die Entwicklung, während der Musik-Genres wie Hip Hop und Jungle irgendwann zum Rave verschmolzen, visualisierte Parallelen zur Modewelt, wie Sneakers und Sportanzüge vom Straßen-Kontext in die Luxuswelt aufstiegen, und wie viele Looks und Uniformen bei den Menschen weiterhin Stereotypen in Erinnerungen rufen, die es zu hinterfragen gilt. Als Metapher für diese Prozesse dient also „Amen Break“.

 

 

Der Film, gedreht vom Regisseur Mahfuz Sultan und geprägt von Auftritten von Künstlern wie GZA oder Goldie, erzählt auf abstrahierte Weise eine Geschichte über den Übergang von einer Generation zur nächsten, über Initiationsriten und einen Vater, der seinen Sohn auf die Gefahren der Welt vorbereitet. Was in der Gegenwart passiert, prägt immer auch die Zukunft, ob in der Mode, Musik oder in Familien – zum Beispiel in jener des afroamerikanischen Künstlers Lupe Fiasco aus Chicago, dessen Vater in den 70er- und 80er-Jahren jungen Männern über den Kampfsport Martial Arts einen Weg aus der Gang-Kultur in ihrem Viertel wies, und dessen Geschichte die Inspiration für die Handlung des Films lieferte. Vor dem Hintergrund von traumähnlichen Szenen, Samurai-Ikonographie und maskuliner Kämpfer-Dramatik à la Quentin Tarantino zeigt Abloh eine Kollektion, in der Formelles auf Sportswear trifft, das klare Regelwerk des Schachspiels auf die Freiheit des Musik-Samplings, lange schmale Silhouetten auf opulente, deformierende Accessoires. Der Anzug kontrastiert mit der Basecap, der Logo-Koffer wird mit dem Boxhandschuh gehalten, die königliche Silhouette einer Schachfigur mit riesigen Ohrwärmern gekrönt, und lange wallende Röcke geben den Blick frei auf neue Nike Air Force-1-Modelle entworfen by Mr. Abloh.

Dass die gesamte Kollektion eine einzige Metapher für den nie versiegenden Fluss namens Leben ist, für die ständigen Herausforderungen, Siege und Niederlagen und unbekannten Variablen, denen sich jeder Mensch stellen muss, wird nicht jeden Louis-Vuitton-Kunden sofort interessierten. Muss es vielleicht auch nicht: So gut sehen die Entwürfe aus, dass man beim Kaufen gar nicht groß über den Hintergrund nachdenken muss. Wer es trotzdem tut, wird sich an seiner Tasche, seinem Schuh oder Outfit, umso mehr erfreuen.

 

Aus der Louis Vuitton Menswear Spring Summer 2022 Kollektion
Text
Silvia Ihring