Craft Prize 2021

Stunde der Könner

 Denken Sie jetzt nicht an youtube-Tutorials und DIY-Gestümper: Kunsthandwerk ist zeitgenössisch, global und nicht umsonst steckt „Kunst“ mit drin. Das zeigt auch der Craft Prize, den die spanische Luxusmarke Loewe seit 2016 vergibt. Dieses mal ging er an das größte Objekt, das je im Wettbewerb war

Eigentlich unglaublich. Sechs Meter lang, drei Meter hoch und gut einen halben Meter dick ist die – ja, die was eigentlich? Die Wolke? Die Landschaft? Die Plastik? „She“ (Sie) hat die Chinesin Fanglu Lin, 32,  die Arbeit genannt, mit der sie gerade den diesjährigen Craft Prize der Loewe Foundation gewonnen hat.

Gewinner des Loewe Foundation Craft Prize 2021: „SHE“, Stoffrelief von Fanglu Lin, China

Diese mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung vergibt die private Kulturstiftung der spanischen Luxusledermarke Loewe seit 2016 für herausragendes zeitgenössisches Kunsthandwerk. Aber noch nie war ein Werk auch nur annähernd so groß wie dieses Relief aus unzähligen Zotteln, Knoten, Würsten, Schnecken, Falten, die dicht an dicht, über- und untereinander aus einem weißen Baumwollstoff herausgearbeitet worden sind. Fanglu Lin übertrug dafür uralte textile Techniken in die Moderne. Fast ein Jahr verbrachte sie nach ihrem Designstudium in Peking, Karlsruhe und Japan bei der Volksgruppe der Bai in der Provinz Yunnan im Südwesten Chinas, und ließ sich dort von den Frauen in die mehr als tausend Jahre alten Näh-, Knoten- und Wickeltechniken einführen, mit denen sie Stoffe vor dem Färben abbinden (,und die Lichtjahre entfernt sind von unseren mitteleuropäischen Batik-Basteleien).

  „Ich sehe traditionelles Kunsthandwerk immer aus der Perspektive der Gegenwartskunst“

Fanglu Lin

sagt Fanglu Lin, und die Jury war überwältigt von der „Monumentalität und der atemberaubenden Könnerschaft“, die ihren Beitrag auszeichnet. Der macht ausserdem wie nebenbei klar, dass China nicht nur ein riesiger Markt für die europäische Luxusgüterindustrie ist. Sondern gerade sein eigenes, riesiges kulturelles Erbe neu entdeckt. Jetzt hängt die Arbeit am Ende der Großen Halle des ehrwürdigen Musée des Arts in Paris, in der ab heute alle Einreichungen der 30 Finalisten zu sehen sind, die aus 18 Ländern und von allen Kontinenten kommen – so international war der Kraft Prize noch nie.

Landschaftsform: Das Objekt „Desértico II“ aus Kupferdrahtstäben und Epoxidharz des Chilenen David Corvalán fängt die Helligkeit, Farbe und Zerbrechlichkeit der Atacama Wüste in seiner Heimat auf, die durch industriellen Kupferabbau bedroht ist
‚Blackness‘ von Veronika Beckh
‚Cabeza Bicho and Cloud with Handles‘ von Xavier Tou
‚Carpel: Earth Matters‘ comprised of ‚Sky Matter (Space)‘ and ‚Earth Matter (Speck)‘ von Hyejeong Kim
Ebbe und Flut: Wie vom Rhythmus der Gezeiten geformt wirkt das Steingut-Gefäß „Chōtō: Listening to the Waves“ des Japaners Takayuki Sakiyama
‚Fusion 19-07‘ von Kohei Ukai
‚Guardian Vessel‘ von Jack Doherty
‚Mitosis‘ von Jiyong Lee

Coronabedingt allerdings findet die Schau nur online statt: mit digitalen 3D-Modelle in einem digital nachgebauten Ambiente. Das ist ein Jammer, denn jedes Objekt hätte es verdient, in echt bestaunt zu werden. Keine noch so gute virtuelle Simulation kann die Sinnlichkeit der Oberflächen ersetzen, das Überraschende der Formen komplett wiedergeben oder die Verblüffung ermöglichen, die die Interpretation des Materials hervorruft.

 Ein handgefertigtes Objekt, hat Loewe-Artdirektor Jonathan Anderson im ICON-Interview mal gesagt, „hält gewissermaßen unsere Füße auf dem Boden“. Auch deshalb hat er den Preis ins Leben gerufen. Jetzt ist er genau das, was Anderson immer vor Augen hatte: „eine Bestandsaufnahme des globalen Zeitgeistes“.

Ausstellung online unter www.loewecraftprize.com, bis September 2021 

Text
Gabriele Thiels