Rund um den schottischen Ort Braemar lässt sich die Seele gut aufwühlen: In der Natur, im maximalistischen Kunsthotel „The Fife Arms“ oder beim Eisbaden. Heike Blümner tauchte ein.
FREIE LIEBE
Das erste Mal, dass der Atem stockt, ist im „The Clunie Dining Room“ im „Fife Arms Hotel“ in Braemar. Dort hängt, hinten links an der Wand und auf den ersten Blick übersehbar wie eine schlecht ausgeleuchtete künstlerische Randnotiz, eine Dorfszene vom flämischen Meister Pieter Brueghel dem Jüngeren über einem Sofa. Man kann unter dem Werk der Spätrenaissance frühstücken oder zu Abend essen. Oder im Laufe des Tages immer mal wieder vorbeischauen und sich in seinen wimmelbildigen Details verlieren, während das Personal die Tischdecken faltet. Das zweite Mal, dass die Luft wegbleibt, ist im Nachbarort Inverey, an der Stelle, wo der Fluss Allt Connie in den Ey Burn fließt. Es ist Mitte April, am Tag zuvor lag die Wassertemperatur bei 5,3 Grad. Heute, sagt Annie Armstrong, deren Öko-Tourismus-Unternehmen Wild Braemar mit dem „Fife Arms“ zusammenarbeitet, fühle es sich „wärmer“ an. Da kein Thermometer zur Hand ist, einigen wir uns auf sieben Grad, tapsen in Badeschuhen über die Steine, streifen die orangefarbenen Frotteegewänder ab und steigen hinab in den Whirpool des Grauens: schreiend, stöhnend, lachend. Bis einen nicht nur Adrenalin und Endorphine, sondern auch die Einsicht durchströmt, dass das alles nicht annähernd so schlimm ist, wie man es sich vorher ausgemalt hatte.
„Cold plunge“, der Sprung ins kalte Wasser, ist ein weltweiter Trend. Er soll unter anderem gegen Arthritis, Depressionen und menopausale Beschwerden helfen. Das hier ist gewissermaßen die DeluxeVersion – und zwar nicht nur, weil Annie auch noch ein Zelt mit Schaffellen und einen zur Holzfeuer-Sauna umgebauten Pferdeanhänger auf die Wiese gestellt hat. Sondern weil die schottische Landschaft die Erfahrung um eine weitere euphorisierende Komponente erweitert. Einfach machen, obwohl es irgendwie verrückt erscheint, könnte auch das Motto des „Fife Arms“ sein. Das Dorf Braemar, in dem das Hotel liegt, hat rund 600 Einwohner und liegt in der Region Aberdeenshire, zwei Stunden nördlich von Edinburgh, eine Stunde westlich von Aberdeen, in den Highlands. Wikipedia listet es als einen der „großen Orte“ am Fluss Dee, was vor allem etwas darüber aussagt, was sonst hier so los ist – nämlich nicht viel. Das jedoch auf höchstem Niveau: Der Cairngorm-Nationalpark, der Braemar umgibt, besteht aus heidebewachsenen Bergen und den letzten Flecken von KiefernUrwäldern mit ihren elastischen Moosböden, durch die Flüsse fließen, die je nach Lichteinfall silbern oder tiefviolett schimmern.
Sprung ins kalte Wasser: „Cold plunge“ undandere Naturerlebnisse werden vom „Fife Arms“angeboten. Wer ins Wasser springt, darf danachauch in die Sauna und sich im Zelt ausruhen
Diese Landschaft schmeichelt weder, noch besänftigt sie. Vielmehr klammert sie sich ans Herz, wühlt auf und zwingt einen gleichermaßen zur äußeren wie inneren Aufmerksamkeit. Die Schriftstellerin Nan Sheperd (1893–1981), die die Gegend ein Leben lang persönlich und literarisch erkundete, schreibt in ihrem Buch „The Living Mountain“: „Egal, wie oft ich hier laufe, diese Hügel bleiben erstaunlich. Es gibt keine Möglichkeit, sich an sie zu gewöhnen.“ Vielleicht ist es diese Art von Unbezwingbarkeit, die die Region zu einem Fixpunkt für das von Geschichte und Geschichten gerüttelte englische Königshaus macht. Balmoral Castle, die Sommerresidenz der dort kürzlich verstorbenen Königin Elisabeth, liegt nur zehn Kilometer von Braemar und dem „Fife Arms“ entfernt. Auch der heutige König Charles ist dem Ort verbunden: Wenn er in Balmoral weilt, zeugt eine außergewöhnliche Ansammlung von Landrovern mit Sicherheitsleuten von seiner Anwesenheit. Bei Wanderungen trifft man ihn dem Vernehmen nach eher allein mit Körbchen unter dem Arm. Als bedingt durch den Influx internationaler Foodies ein Run auf die Pilze in den Wäldern begann, soll er per E-Mail im „Fife Arms“ persönlich darum gebeten haben, seine bis dahin geheime Lieblingssammelstelle nicht komplett abzuernten. In Schottland gilt das „Right to Roam“, was bedeutet, dass jeder das Recht hat, auf den Ländereien und in den Parks frei zu wandern und sogar – mit wenigen Auflagen – überall zu übernachten, selbst wenn es sich um die Ländereien des Königs handelt. Und so spaziert man beispielsweise an einem Holzhäuschen an einem kleinen See vorbei. Es ist die Picknick Picknickstelle der königlichen Familie und ein Geschenk der finnischen Regierung an die Queen. Jeder kann hier rasten. Nur wenn die Landrover anrücken, muss man weichen: „Dann steigen die Fahrer aus und sagen: ‚Können Sie bitte woanders hingehen, es kommen gleich ein paar Leute vorbei‘“, erzählt Wanderführerin Annie Armstrong. „Und ich denke mir: Klar, ich weiß, von welchen ‚Leuten‘ ihr sprecht.“
Balmoral liegt gleich nebenan und hier befindet sich das Picknickhaus der königlichen Familie
Es waren Königin Viktoria und Prinz Albert, die diese Gegend für sich als Rückzugsort entdeckten und dem Earl of Fife, nach dem auch das Hotel benannt wurde, Balmoral Castle 1850 abkauften. Während sie das Schloss renovieren ließen, wohnten sie und ihre Entourage im „Fife Arms“. Deshalb benötigte auch die Herberge eine gestalterische Überarbeitung. Auch später residierten dort immer wieder Gäste aus dem Umfeld der königlichen Familie und gekrönte Häupter aus aller Welt, für die es in Balmoral keinen Platz gab, wie zum Beispiel Friedrich III. von Preußen,„der zu viel rauchte“, was Viktoria verabscheute, wie Mitarbeiterin Shona Armstrong beim Rundgang durch das Hotel erzählt. Während des Zweiten Weltkrieges wohnte hier ein Militärkommando, das Soldaten für den Kampf in Norwegen ausbildete. Mit den Jahren jedoch wurde das Hotel zu einem immer weniger einladenden Ort, in dem vor allem Tagestouristen und Reisegruppen übernachteten. Und dann kamen Iwan und Manuela Wirth. Das Schweizer Galeristenpaar (Hauser & Wirth), das außerdem über ein kleines Restaurant und Hotel Portfolio verfügt, gehört zu den weltweit erfolgreichsten Kunsthändlern. In der Nähe von Braemar hatten die beiden seit Längerem einen Landsitz gepachtet. Es sei ihr „happy place“, erklärt Iwan Wirth in einem Video. 2014 übernahmen sie das „Fife Arms“, unterzogen es einer Kernsanierung und verwandelten es in einen Ort, an den man sich auch nie gewöhnen wird. Er ist fordernd und unergründlich wie die Umgebung.
Neben den Gästen beherbergt das Fife Star Star Hotel 16000 Kunstwerke aus den Beständen der Galerie Hauser und Wirth
46 Zimmer und Suiten hat das Haus und es beherbergt nicht nur Gäste, sondern auch 16.000 Kunstwerke, Antiquitäten und Kuriositäten. Um die Wirkung der Räume zu vermitteln, mag es verlockend erscheinen, sich auf einige der Blockbuster-Werke wie den Brueghel, Picasso, Lucian Freud, Louise Bourgeois oder TurnerPreisträger Martin Creed zu kaprizieren. Aber das würde völlig am Wesen des Hotels vorbeigehen: Das „Fife Arms“ ist weder Museum noch explizite Statusschau, sondern eine bis zum Anschlag gedrehte Liebeserklärung an die Region, ihre Natur und Geschichte sowie an die Kunst und das örtliche Kunsthandwerk und vor allem an die Menschen, die hier leben oder die es hier hinzog. Es erzählt mit jedem Bild, mit jeder Installation und mit jedem Möbelstück, wie Landschaft, Architektur, Kunst und Interieur sich beeinflussen und maximal komplementieren können. Dabei hängen die Werke weltberühmter Künstler neben denen lokaler, denen mindestens genauso viel Raum eingeräumt wird – bis hin zum örtlichen Kindergarten, dessen Kinder im Fahrstuhl die Wände mit Tannenzapfen beklebten. Diese Art von Hotel kann man so nicht auf die grüne Wiese setzen. Und auch an belebteren und bekannteren Zielen in Europa hätte es nicht diese Wirkung und vermutlich auch eine andere Klientel. Hier bringt das Zusammenspiel zwischen Einheimischen, auffällig jungem und internationalem Personal und den vergleichsweise bodenständig wirkenden Besuchern Schwung in den kleinen Ort und vermittelt dem Gast ein Gefühl von angebundener Gastfreundschaft.
Augen zu und durch…nach dem Cold Plunge kommt die Euphorie