Dior lud zur großen Show in Mumbai, eine Liebeserklärung von Maria Grazia Chiuri. Denn die Chefdesignerin ist seit Jahrzehnten fasziniert von der indischen Kunst des Stickens, die ihr den Weg zur Kreativität gezeigt hat. Inga Griese sah sich das an.
KULTURELLE BEREICHERUNG
Dior lud zur großen Show in Mumbai, eine Liebeserklärung von Maria Grazia Chiuri. Denn die Chefdesignerin ist seit Jahrzehnten fasziniert von der indischen Kunst des Stickens, die ihr den Weg zur Kreativität gezeigt hat. Inga Griese sah sich das an.
Der indischen Mythologie nach bat die Hindi-Gottheit Rama ihren Bruder Lakshman, ihr etwas Wasser zu besorgen. Der zückte den Bogen, schoss einen Pfeil in den Sand und schon sprudelte eine Quelle. Dem Glauben nach wurde sie direkt vom über tausend Kilometer entfernten heiligen Ganges gespeist. Fortan wurde der Ort in Mumbai Banganga (Baan = Pfeil) genannt, ein riesiges Becken in den Malabar Hills dient als Badestelle und für religiöse Rituale. Hohe Stufen führen hinunter von den Tempeln und den Gassen der Umgebung. Das alltägliche Dasein hier mag aus westlicher Sicht zwar voller Farbe, aber arm und mühsam sein, gleichwohl geht von diesem Areal ein besonderer Zauber aus.
Dreißig Jahre ist es her, dass Maria Grazia Chiuri, die Kreativdirektorin bei Dior Woman, ihren ganz persönlichen „Baan-Moment“ hatte und sich eine Quelle auftat, an der sie ihren Durst nach Stickerei-Fertigkeiten löschen konnte. „Ich war geradezu besessen davon, Accessoires mit Stickereien zu realisieren. Aber in Italien gab es nur noch wenige Betriebe, die das Handwerk beherrschten. Meine Generation hatte die Tradition verloren. Ganz abgesehen davon, dass es die Zeit des Minimalismus war.“ Doch dann kam Nehal Sha, Chef der Chanakya Ateliers in Mumbai, die sein Vater Vinod 1984 als Exzellenz-Schmiede gegründet hatte, nach Italien, um das globale Modesystem besser zu verstehen. „Mein Messias!“ Maria Grazia arbeitete zu der Zeit bei Fendi. Er sprach perfekt Italienisch, sie kamen ins Gespräch, und MGC hatte das Gefühl, endlich einen Partner gefunden zu haben, der ihr Faible verstand und in seinem Betrieb umsetzen konnte. Ein fortdauernder Austausch mit indischen Handwerkern begann. „Und er hat“, erzählte die Designerin aufgeräumt vor der Show, „mich zu dem gemacht, was ich heute bin.“ Eine Designerin mit Leidenschaft und besonderem Verständnis für Handwerk und Techniken, die überhaupt erst zu einem Produkt führen. Indien ist eben nicht nur Billiglohn und billige Arbeit, im „lebenden Museum“ der Chanakya Ateliers demonstrierten „Ustads“ (Meister) der 13. Generation aus allen Teilen des Landes ihre zahlreichen Stick- und Webtechniken. Eine hoch anspruchsvolle, meditative Arbeit. Auf dem Sofa in der kleinen Backstage-Kabine – Tochter und Muse Rachele Regini repariert gerade die Aircondition – sitzt vor der Show auch Karishma Sawali, Schwester von Nehal und die künstlerische Leiterin von Chanakya. Vor dreißig Jahren begann nämlich auch eine enge Frauen-Freundschaft.
Die Dior Show fand vor dem „Gateway of India“ statt, 100 Models kamen durch den extra gestickten „Toran“,
liefen entlang der kunstvoll gesteckten Blumenbeete.
2015 gründeten die Inder und die Italienerin die Chanakya-Stiftung, die ganzheitliche Lösungen für sozioökonomische und ökologische Aspekte des Handwerks fördert. Maria Grazia Chiuri brachte ergänzend den Aspekt der gezielten Frauenförderung ein. Und so gründeten die Freundinnen 2016 die Chanakya-Schule für Frauen. Denn in Indien wird die professionelle, kommerzielle Stickerei seit je von Männern betrieben. Das Wissen um die speziellen Techniken geht an den Sohn über. Frauen beherrschen natürlich auch Handarbeit, aber nur für den Hausgebrauch. Deswegen war die Gründung der Schule so besonders, denn die Absolventinnen aus einkommensschwachen Familien können mit dem Diplom in der Tasche selbst Arbeit finden. Es ist die Art von Empowerment, die sich als roter Faden durch Arbeit und Leben von Maria Grazia Chiuri zieht. Ihre Vorstellung von „Sisterhood“, die nebenbei gesagt eine glückliche Ehe und Kinder nicht ausschließt. Als erste Designerin des Hauses hat sie Dior großes Wachstum beschert, mit der Wandlung in eine Marke, die feminin und feministisch gleichzeitig ist, in Stil und Habitus. Sie setzt auf Kooperation mit Künstlerinnen. Wie mit Judy Chicago, deren riesige Banner für die Frühjahr/Sommer-2020-Show mit typischen Sprüchen wie „What if women ruled the world?“ wiederum von der Chanakya School gefertigt wurden. Zahlreiche Luxushäuser arbeiten mit indischen Betrieben, auch den Chanakya Ateliers, aber doch eher anonym. Maria Grazia Chiuri legt Wert darauf, sie mit ins Scheinwerferlicht zu nehmen.
Drei Stickerinnen im „lebenden Museum“ im Chanakya Handwerks Kollektiv, in dem 320 Sticker arbeiten. Die zahlreichen Spezialtechniken sind seit Jahrhunderten übermittelt, „Sisha“ mit den Spiegelchen soll das Böse abwehren
Freundinnen seit 30 Jahren: MCG und Karishma Swali.
Die Geschichte von Madvi und Manu Parekh ist auch so eine von ungeahnter Emanzipation. Das Ehepaar gehört zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Künstlern des Landes. Madhvi wurde vor 81 Jahren als Tochter auf dem Land geboren, heiratete 1957 mit 15 Jahren den Kunststudenten Manu. Seit 1965 leben und arbeiten sie in Delhi. Wobei Madhvi nie eine eigene Karriere geplant hatte, doch ihr Mann ermunterte sie, auch künstlerisch tätig zu werden. Als sie mit der ersten Tochter schwanger war, fing sie an zu malen, immer in „Heimarbeit“, 1968 stellte sie ihre Arbeiten erstmals in Kalkutta aus, 1973 hatte sie dort ihre erste Solo-Show. Ihre Werke – gestalterisch beeinflusst von Paul Klee – erzählen von Kindheitserinnerungen, Alltag, Volkskunst und indischen Mythen. Ein beeindruckendes Künstlerpaar von bescheidener Würde, für die Haute-Couture-Kollektion im Frühjahr in Paris schmückten ihre Arbeiten, interpretiert und gefertigt von den Chanakya Ateliers, die Wände.
In Mumbai treffen wir sie im „Snowball Studio“, in einem idyllischen Hinterhof gelegen. Typisch für Mumbai: In der Straße, die dorthin führt, verkauft ein Smeg-Geschäft Wasserkocher von Dolce & Gabbana, gleich neben ärmlichen Gebäuden. Vor dem Schaufenster verkauft ein Mädchen von einem Holzkarren Kartoffeln. Armut und Luxus nah beieinander sind hier keine Provokation, lernen wir. Dior präsentiert in der Galerie „Mūl Māthi“ eine Retrospektive mit Werken von Manu und Madhvi Parekh, die von den Chanakya Ateliers, kuratiert vom Asia Society India Centre, in Textilien neu interpretiert wurden. 22 großformatige Kunstwerke, die als Wandteppiche erstmals im vergangenen Jahr bei der Haute-Couture-Schau Frühjahr/ Sommer 2022 von Dior gezeigt wurden. Und wegen all dem sind wir hier, deswegen die Show. Selbstverständlich ist Indien ein weiterer Ort auf der Bucket List der Luxus-Industrie, seit Jahren wird das Potenzial der weltweit größten Demokratie beschworen, ohne dass sich der Markt allerdings nennenswert entwickelt hat. Wobei es in den nächsten zehn Jahren nach einer Studie der Unternehmensberatung Bain tatsächlich zu einem Boom kommen könnte, die jüngere Generation löst sich von den fest verankerten Stil-Traditionen. Waren es im vergangenen Jahr „nur“ etwa acht Milliarden Dollar Umsatz, lautet die Prognose für 2030 bis zu 30 Milliarden Dollar. Wobei ein Großteil davon weiterhin von indischen Kunden im Ausland ausgegeben werden dürfte, scheinen doch mangelnde Infrastruktur, Import- und Investmentauflagen sowie Zollhürden in Indien weiterhin kaum überwindbar. Und so ist es auch die erste Megashow eines globalen Luxus-players, zumal an einem symbolträchtigen Ort.
Zum ersten Mal überhaupt fand eine Modenschau vor dem indischen Wahrzeichen statt, das Anfang des vergangenen Jahrhunderts zu Ehren von König George V und Königin Mary direkt am Arabischen Meer gebaut wurde.
Das „Gateway of India“ mag auf den ersten Blick an Triumphbögen erinnern, steht aber für Gastfreundschaft. Er wurde zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts zu Ehren von König George V. und Queen Mary direkt am Arabischen Meer gebaut, als sie die damalige Kronkolonie besuchten. Ein steinerner, riesiger Willkommensbogen. Als Fendi 2007 zur Show auf der Chinesischen Mauer lud, galt das im Nachhinein als Signal dafür, welche Bedeutung die chinesischen Konsumenten in der Folge für die Luxusindustrie bekommen würden. Natürlich soll auch der Ruf Diors hier in Indien gehört werden. Aber keine Store-Eröffnung gehört zum Begleitprogramm. Es fügt sich, dass diese Show eine echte Herzensangelegenheit von Maria Grazia Chiuri ist. Schon lange wollte sie dem Land, „das aus handwerklicher Sicht so wichtig für die Luxusmode ist“, die Ehre erweisen, einer jahrhundertealten Tradition, die sie so inspiriert hat, einen würdigen Rahmen geben. Nun tat sie es mit einem neuen Format, zusätzlich zu den traditionell weltreisenden Cruise-Kollektionen (Dior zeigt ihre im Mai in Mexiko) gibt es nun noch „Pre-Fall“ auf Tour. Diese Kollektion wird bereits im Sommer ausgeliefert. Schien in Covid-Zeiten noch der Gedanke verführerisch, sich auf weniger zu besinnen, ist mit den Beschränkungen auch die Zurückhaltung gewichen. Die globalen Märkte möchten mehr denn je vor Ort gewürdigt werden. Unter den Gästen waren denn auch vor allem Asiaten auszumachen.
Mode, hatte Maria Grazia Chiuri gesagt, „ist mehr als zehn Minuten auf dem Laufsteg. Es sind all die Menschen, die zusammen an diesem unglaublichen Projekt gearbeitet haben.“ Vor dem Gateway of India befand sich an diesem Abend noch ein Toran, die traditionelle Türdekoration, eine Einladung, das Haus zu betreten, auch an Lakshmi, die Göttin des Wohlstands. Gefertigt haben ihn die Frauen der Chanakya School, jede hat ihr eigenes Symbol eingebracht, eine Liebeserklärung an die Förderin aus Europa. Dort hindurch schritten 100 Models mit einer Pre-Fall-Kollektion, die das Handwerk ehrte, das Land, die Kultur. Quasi die Verbindung Paris-Mumbai legte. Eine ihrer schönsten je. Kultureller Austausch in seiner wahren, kostbaren Form.
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