Kunstorganismus

Offenes Geheimnis

Ein Wasserschloss, ein Garten voller Kunst und ein Ausstellungspavillon, der als Hühnerstall dient. Kasteel Wijlre blühte lange im Verborgenen. Jetzt macht Direktorin Brigitte Bloksma aus dem privaten Anwesen einen öffentlichen Kulturort.

Am späten Nachmittag, als das Licht allmählich von Gold in Milchig-Weiß übergeht, füllt sich die Luft mit dem Geruch der Buchshecken und der letzten Rosenblüten, der Feigenbäume an der Schlossmauer und der frisch gemähten Wiese vor dem Tor. Es ist ein betörendes Gemisch, und für einen selbstsüchtigen Moment denkt man, dass es vielleicht ein Fehler ist, diesen Ort preiszugeben durch ein Mode- und Möbelshooting, dass man ihn lieber geheim und ganz für sich behalten möchte. Doch Glück wird größer, wenn man es teilt, und dieses hier trägt den Namen Kastell Wijlre – ein Wasserschloss aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Es liegt in der niederländischen Provinz Limburg nahe der deutschen Grenze, keine 20 Kilometer von Aachen entfernt, und ist umgeben von einem Park, der als einer der schönsten Europas gilt. Auf drei Hektar entfaltet sich ein Ensemble aus weitläufigen Rasenflächen und streng geometrisch angelegten Gemüse-, Kräuter- und Staudengärten, die, umstanden von hohen Hecken, wie Fluchten grüner Zimmer erscheinen. Dazu kommen Laubengänge aus Platanen, Parterres mit Rosen- und Sommerblumen sowie ein wildes Wäldchen – alles wohlproportioniert, von Hecken und Wasserläufen begrenzt und tipptopp gepflegt. Vereinzelt sind Skulpturen auf dem Gras und zwischen den Bäume platziert, und ein moderner Pavillon aus Beton und Glas bildet genau den richtigen Kontrast zum historischen Schloss und seinem Stallhaus.

Brigitte Bloksma im Garten von Kasteel Wijlre: „Ich liebe diesen Ort“
Natur trifft Kunst: Für „Cube in Tree“ umgab Pepijn Lambermont im Schlosspark 2010 einen Baumstamm mit einem Betonwürfel. Dem Baum geht es gut, der Würfel wird unter seiner Kraft bald brechen.

„Kasteel Wijlre ist ein Gesamtkunstwerk aus Architektur, Kunst und Natur“, sagt Brigitte Bloksma. Sie ist die Direktorin der eigens gegründeten Stiftung, die diesen Ort verwaltet, eine zierliche Person mit langen blonden Haaren und weicher Stimme, der man nicht gleich die Energie anmerkt, die in ihr steckt. Und die sie braucht für den Spagat, ein privates Anwesen in eine öffentliche Kulturinstitution umzuwandeln. Bis vor Kurzem nämlich gehörten Schloss und Park noch Jo und Marlies Eyck, einem Ehepaar, das in Heerlen einen Großhandel für Farben führte und in mehr als sechzig Jahren eine bedeutende Sammlung von Gegenwartskunst aufgebaut hat und in der niederländischen Kunstszene bestens vernetzt ist. Die Eycks kauften das Anwesen 1982 für sich und ihre stetig wachsende Sammlung, renovierten das Gebäude, legten den Garten an, bauten den Pavillion, um Teile ihrer Kollektion zeigen zu können, und öffneten Park und Pavillion für Besucher, jedes Jahr ein paar Wochen lang. Jetzt sind sie 90 und 81 Jahre alt, 2012 verkauften sie einen Großteil ihrer Kunstwerke an das Bonnefantenmuseum im nahen Maastricht und 2017 das Schloss selbst für einen symbolischen Euro und lebenslanges Wohnrecht an einen Kulturfonds.

Seither ist Brigitte Bloksma hier. Sie hat die Öffnungszeiten erhöht auf drei Tage pro Woche an neun Monaten im Jahr, ein Team von acht Leuten und 50 Ehrenamtlichen aufgebaut, eine professionelle Website installiert und beim niederländischen Staat, der Provinz und der Stadt finanzielle Unterstützung organisiert. Es war ein Kraftakt, aber langsam läuft es. „Man muss ein Bewusstsein schaffen für solche Orte. Sie bereichern uns, aber um sie zu erhalten, braucht man Geld.“ Also kämpft sie sich durch die Gremien, sitzt in Den Haag im einflussreichen Kulturrat der Niederlande und ist im Vorstand einer Kommission für Kunstsammlungen. Ihr Budget ist gering, aber sie hat viel Erfahrung als Kulturmanagerin, klare Ziele – und einen engen Draht zu Jo und Marlies Eyck. „Es machte Klick“, erinnert sie sich an das Vorstellungsgespräch. „Sie ist fast wie eine Tochter“, sagt Marlies Eyck, und beide meinen dasselbe: dass sie sich intuitiv verstehen. Die Direktorin hat das uneingeschränkte Vertrauen der Sammler und bewacht ihrerseits mit Löwenmutterinstinkten das, was diese aufgebaut haben.

Die Skulpturen etwa sind zum Großteil eigens für den Park entstanden. Sie stammen von befreundeten Künstlern, die Marlies und Jo Eyck einluden, sich mit dem alten Baubestand, der Geometrie der Anlage, den Blickachsen auseinander zu setzen. „Haben Sie schon den Penone entdeckt?“, fragt Brigitte Bloksma beim Gang übers Gelände und lacht, weil man den schütteren Bronzebaum des italienischen Bildhauers Giuseppe Penone glatt übersehen hat, so täuschend echt ragt sein bläulicher Stamm aus dem Dickicht. Also weist sie besser auch gleich darauf hin, dass sich der untere Bogen der großen Kreisskulptur „Broken Circle“ vom niederländischen Minimalisten Ad Dekkers auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens wiederholt. Seine Form wurde dort in eine Buchenhecke hineingeschnitten. „Solche Bezüge gibt es hier überall“, erklärt die Direktorin. „Alles ist mit allem verbunden.“

 

Das „Hedge Haus“ entworfen von Architekturstar Wiel Arets

Das Wasserschloss aus der Mitte des 17. Jahrhunderts

Auch das „Hedge Haus“ ist Teil des Ganzen. Der puristische Pavillon aus Beton und Glas, der 2002 gebaut wurde, wird von Hecken umgeben, die den markanten Umriss seines Dachs aufnehmen. Entworfen hat ihn der Amsterdamer Architekturstar Wiel Arets als Ausstellungs-Orchideen-Hühnerhaus, eine Gebäudegattung, die weltweit einmalig sein dürfte. Die Eycks wünschten sich eigentlich eine Art Miniaturmuseum und einen Arbeitsraum für den Gärtner. Aber weil der Vorgängerbau ein Hühnerstall war und der Denkmalschutz nur einen solchen wieder genehmigen wollte, wurde in den Entwurf kurzerhand ein Platz fürs Federvieh integriert, mit Vollverglasung, eigens designierter Hühnerstange und Brutbox aus Edelstahl. Die Viecher freilich beeindruckt das wenig. Sie verbringen ihre Tage gackernd, scharrend und pickend zwischen dem ultraschicken Stall und ihrem Gehege auf der Rückseite des Hauses. Zu dem führt, immer die Hecke entlang, ein vergitterter Gang nach Löwennummer-Art, nur viel kleiner natürlich. „Ohne den würden sie von Raubvögeln oder dem Fuchs gejagt“, erklärt Marlies Eyck, die jeden Morgen ein paar Eier aus dem Gehege holt.

 

Fotograf: Sven Bänziger c/o Kathrin Hohberg; Styling: Silja Lange; Model: Paula Bertolini; Haare & Make-up: Ellen Romeijn c/o Kathrin Hohberg; Fotoassistenz: Flavio Leone; Lichtassistenz: Jorin Koers; Stylingassistenz: Jakob Schaefer; Casting: Martin Freimoser

Kunst und Alltag haben sich für das Sammlerpaar immer verbunden, und vielleicht nehmen sie es auch deshalb so gelassen hin, dass jetzt häufiger und mehr Leute das Anwesen besuchen. Das Schloss bleibt privat, aber man begegnet Marlies Eyck, wenn sie vom Einkaufen kommt oder, den Korb am Arm, vom Blumenschneiden im Park. Ihr Mann Jo grüßt mit einem Winken, während er sich auf der Terrasse eine Zigarre gönnt und dabei amüsiert die Bemühungen des ICON-Teams verfolgt, auf dem Rasen aus sechs grazilen Metallstühlen von Flexform einen Turm zu bauen. Man ist Besucher, doch man fühlt sich als Gast.

Den persönlichen und fast familiären Charakter des Ortes zu bewahren hat für Brigitte Bloksma oberste Priorität. Auch wenn es um Erlösquellen geht. So bietet sie gegen Vorbestellung gut bestückte Picknickkörbe und einen Satz Kissen an, mit denen man es sich überall im Park bequem machen kann. Aber versuchen Sie mal, ihr vorzuschlagen, den Ort für Hochzeiten zu vermieten, so romantisch, wie er ist. Ihr „Nein!“ schießt noch vor Ende des Satzes hervor, „wenn ich damit anfangen muss, ist der Ort verloren!“ Kasteel Wijlre ist keine Eventlocation, sondern ein Kunst-Organismus.

Brigitte Bloksma hält ihn lebendig, indem sie Park, Stallgebäude und „Hedge House“ mit Ausstellungen bespielt. Junge Künstler etwa verfolgen Projekte im Garten, so entstand unter anderem eine Karte, die die Düfte seiner verschiedenen Pflanzen lokalisiert, eine betörende Skala der unterschiedlichen Farben, die Schmetterlinge im Moment des Entpuppens zeigen, und zurzeit sind an Bäumen und Sträuchern kleine Blechbüchsen-Apparate installiert. Sie machen nach Art einer Camera obscura nur mit dem Licht der Sonne Fotos, die Ausbeute ist auf Facebook zu sehen. Das Stallhaus wiederum, das dem Schloss gegenüberliegt, ist den Ausstellungen von Künstlern vorbehalten, die schon etwas etablierter sind, während man im „Hedge House“ die ganz große Gegenwartskunst zu sehen bekommt: Schauen mit Werken von Tony Cragg, Gordon Matta-Clark oder Tim Eitel. Peter Struycken, niederländischer Pionier der Digitalkunst, verwandelte den ganzen Bau kürzlich in ein begehbares 3-D-Gemälde. Dabei geht es immer um zweierlei: den Bezug zwischen drinnen und draußen und um Farbe, die Eycks waren ja Farbengroßhändler.

Alles hängt eben mit allem zusammen auf Kasteel Wijlre. Auch die Menschen. „Kunst ist etwas, das Leute verbindet“, ist Brigitte Bloksma überzeugt. Es wäre eine Schande, diesen Ort für sich zu behalten. kasteelwijlre.nl

ICON Shooting Oktober 2020. Die kreisförmige Skulptur? „Gebroken Cirkel“ von Ad Dekkers  © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Text
Gabriele Thiels