Als Hersteller bester Uhrwerke ist Jaeger-LeCoultre eine Bastion. Doch das reicht der Manufaktur nicht mehr. Eine Ausstellung zum 90. Jubiläum der „Reverso“ in Paris verdeutlicht die großen Ambitionen.
ANYONE FOR POLO?
Die Armbanduhr auf dem Tisch hat als einzige der Welt vier Zifferblätter, sie zeigt den Lauf der Sterne, ihr Klang bestimmt die Zeit auf die Minuten genau – und das sind nur zwei von elf komplizierten Funktionen. Dabei ist das rechteckige Weißgoldgehäuse nicht einmal besonders hoch, gerade 15,15 Millimeter misst es. Sie ist eine Fundgrube, immer wieder lassen sich neue Finessen erforschen, kurz: Es geht hier um mehr als um Zeitmessung.
Im vierten Stock eines Pariser Prachtbaus liegt bei der Präsentation ein Anflug von Andacht über der Besuchergruppe. Natürlich haben Menschen, die sich mit der Materie beschäftigen, schon einige komplexe Uhren gesehen, natürlich gibt es unter ihnen Leute, die sich nicht überrascht zeigen wollen, aber Zweifel an der Leistung der Konstrukteure kommen nicht auf: Mit der „Reverso Hybris Mechanica Calibre 185“ hat Jaeger-LeCoultre etwas erschaffen, das auf dem Haute-Horlogerie-Markt hervorsticht.
90 Jahre wird der rechteckige Klassiker aus dem Schweizer Vallée de Joux dieser Tage alt. Und weil es wieder möglich ist, sich persönlich zu treffen, hat das Haus dies zum Anlass genommen, der Uhr eine zweimonatige Ausstellung in der französischen Hauptstadt zu widmen (noch bis 24. Dezember). Die Verbissenheit, mit der Teile der Uhrenindustrie Jubiläen feiern, gehört sozusagen zur Folklore. Manches wirkt dabei auch konstruiert – aber in diesem Fall nutzt eine Manufaktur die Gunst der Stunde dafür, sich zurecht in den Fokus des Interesses zu rücken.
Paris hat sich dazu entschlossen, für die Eröffnung der Ausstellung sein freundlichstes Gesicht zu zeigen. Das Licht und die Temperaturen bestimmt die Herbstsonne, der Verkehr endet nicht im Desaster, und ansonsten scheinen die Einwohner froh zu sein, endlich wieder vor der Tür leben zu dürfen (selbst unbeholfene Gesprächsversuche in der Landessprache werden gnädig gehört). Für das Unternehmen ergibt die Ortswahl schon deshalb Sinn, weil hier 1931 die Ur-„Reverso“ präsentiert wurde.
ausstellung paris reverso Catherine Rénier Jaeger-LeCoultre
Das Gebäude mit der Ausstellung befindet sich in einem Viertel, in dem die Gründungshäuser von Hermès und Chanel stehen – und das Konzept ist so wenig überladen wie das Design der Uhr, die es feiert. In den vier Stockwerken lässt sich die Geschichte anhand von vielen Modellen hinter Glas genauso nachvollziehen wie anhand von Werbeplakaten und einem Dokumentationsfilm. Besonderes Augenmerk liegt auch darauf, die Arbeit darzustellen, die in den Ateliers geleistet wird. Alte Konstruktionspläne und Auftragsbücher vermitteln ein konkretes Bild. Eine wirklich feine Idee ist das Café im vierten Stock: Ganz im Art-déco-Stil gehalten, zeigt es, wie die Welt aussah, als die „Reverso“ den Markt eroberte.
Darüber hinaus belegt dieser Ort den Wert, den das Team von CEO Catherine Rénier auf Details legt: Für das Café verpflichtete man mit Nina Métayer eigens eine reputierte Patisseurin. Die wiederum begann bereits im Winter, also zu finstersten Krisenzeiten, sich Gedanken zu machen, mit welchen Kreationen sie der Jubiläumsuhr wohl am besten gerecht werden könne. Herausgekommen sind vier Naschereien, die die Welt der Manufaktur optisch widerspiegeln – von einer schneebedeckten Bergspitze im Vallée de Joux bis zum Zifferblatt der „Reverso“. Schon seit Jahren konzentriert sich das Unternehmen darauf, höchst komplexe Zeitmesser in Miniserien zu bauen. Diese mechanischen Automaten sind etwas anders angelegt als Modelle von Konkurrenten wie Vacheron Constantin.
Bei Jaeger-LeCoultre geht es immer besonders filigran zu, die Geometrien wirken so ziseliert, als wolle das Haus seine Feinheit besonders zur Schau stellen. Technisch sprechen sie für sich, wie ein Werksteil wie das Girotourbillon zum Schwerkraftausgleich belegt. Diese Expertise bei der „Reverso“ konsequent in die bekannteste Serie des Hauses einfließen zu lassen lässt sich allemal als gute Strategie bezeichnen.
Der Name Jaeger-LeCoultre steht traditionell für ein unvergleichliches Know-how beim Bau von Uhrwerken. Es gehört zu den wenig erzählten Geschichten der Schweizer Feinuhrmacherei, wie eng die Häuser miteinander verbunden sind. Kaliber von Jaeger-LeCoultre tickten in berühmten Modellen von Audemars Piguet oder Patek Philippe. Im 21. Jahrhundert erwächst daraus die Situation, dass die Qualität der Produkte aus diesem Haus außer Frage steht – weil aber Uhren vor allem in den sozialen Medien immer weniger als technischer Gegenstand wahrgenommen werden und immer mehr als Lifestyle-Produkt, verlangt das Design nach Aufmerksamkeit.
Catherine Rénier, die seit 2017 als CEO die Geschicke des Hauses leitet, hat das früh erkannt: „Wir wollen gerade jetzt unser bekanntestes Stück in den Mittelpunkt stellen“, sagt sie in der Boutique am Place Vendôme, jenem Zentrum der Schmuck- und Uhrenwelt, an dem der Barock mit all seinem Prunk noch immer nicht völlig der Geschichte angehört. Wer hier vor Ort präsentiert, gehört zu den Großen. Die „Reverso“ entwickelten die Konstrukteure für britische Polospieler, schon deshalb musste sie seit Tag 1 ihrer Existenz besondere Strapazen aushalten können. Hinzu kommt die rechteckige Form, die Individualität verbürgt, denn die meisten Uhren waren und sind rund.