Stilistin

Kein Puls vor zwölf

Sie ist die ewige „Dschungelkönigin der Herzen“ und so etwas wie die Außenministerin von St. Pauli. Olivia Jones, knapp zwei Meter groß, ohne Absätze, ist heute die bekannteste Dragqueen und Travestiekünstlerin Deutschlands. Und ein politischer Mensch, der sich für Vielfalt, Offenheit und gegen jede Form von Diskriminierung einsetzt. Und sie ist natürlich auch die bekannteste Touristenführerin der Stadt. Wer an einem Samstag über die Reeperbahn schlendert, kann sie bei ihren Kieztouren nicht übersehen. Wir treffen sie in ihrem Fummelfundus über der „Olivia Jones Bar“ auf der Großen Freiheit, der Requisite eines bunten Lebens. Olivia, die als Oliver Knöbel geboren wurde, steckt bereits in vollem Ornat. Die 51-Jährige hat ein Buch geschrieben über ihr Leben und ist bester Laune.

ICON: Olivia, Sie haben in der Corona-Zwangspause Ihre Autobiografie geschrieben. Seit ich „Ungeschminkt“ gelesen habe, frage ich mich: Wie passen Oliver Knöbel, 1969 in Springe in Niedersachsen geboren, und die Dragqueen Olivia Jones aus St. Pauli zusammen? Können Sie einmal Ihre beiden Identitäten erklären?

Jones: Olivia ist die extrovertierte Seite, die etwas auslebt, was auch in Oliver steckt. Mein Ventil. Mit ihr habe ich meine Bühne, bekomme Aufmerksamkeit und stehe im Mittelpunkt. Dadurch bin ich als Oliver auch sehr entspannt und ausgeglichen. Vielleicht brauche ich auch deshalb keine Psychopharmaka.

 Wie lange brauchen Sie, um sich komplett in Olivia Jones zu verwandeln?

Zwei Stunden Minimum. Das muss ja auch alles wetterfest sein – Schminke, Perücke, Fummel. Ich treibe ja mein Unwesen bekanntlich in einer Stadt, in der es gern mal regnet.

Ihre Jugend verbrachten Sie in der beginnenden Helmut-Kohl-Ära. Wie war das?

Das war – aus der Distanz gesehen – eine schräge Zeit. Ich habe schon als Kind gern das Nachthemd und die Pumps meiner Mutter getragen und als Jugendlicher so einen New-Wave-Gothic-Look. Ich hatte Hühnerknochen im Haar, schwarze Gewänder, lackierte Fingernägel. Ich war auch immer schon eine Art Entertainer, der sich gern inszeniert. Aber natürlich gab es auch dunklere Seiten meines offensichtlichen Andersseins.

Welche denn?

Eine kleine Stadt, stockkonservativ, da eckte ich mit meinem Aussehen natürlich an. Ich musste, wenn irgendwelche Nazis mich auf der Straße entdeckten, manchmal tatsächlich um mein Leben rennen. In Springe war ich ein Einzelkämpfer, das schrille Huhn vom Dienst.

Wie reagierten Ihre Mitschüler auf Sie?

Ich war sehr beliebt, aber für meine Familie war das natürlich hart. Ich bin ja in Frauenkleidern in die Schule gegangen, habe mir im Unterricht die Fingernägel lackiert. Meine Mutter wurde sogar zum Rektor zitiert. Andere Eltern hatten sich beschwert. Sie hatten Angst, dass ich „ansteckend“ sei mit meinem Einfluss. Meine Mutter musste sich von Nachbarn anhören: „Sag mal, was ist denn mit deinem Sohn los? Da stimmt doch was nicht mit der Erziehung, da musst du doch mal durchgreifen.“

Wir müssen über Ihren Vater reden. Sie schreiben: „Ich lebte die ersten elf Jahre meines Lebens mit Gerhard Knöbel – und die nächsten 30 Jahre mit seinem langen Schatten.“ Können Sie das erläutern?

Mein Vater hat ja nicht nur seine Familie verlassen, sodass ich keinen Vater mehr hatte. Sondern er war auch noch mit einem Kapitalverbrechen verschwunden. Er hatte in der Bank, in der er arbeitete, über eine Million Mark unterschlagen. Er ging morgens zur Arbeit und ist dann nie mehr wieder gekommen. Alle haben plötzlich mit dem Finger auf mich gezeigt – in einer Zeit, in der ich eh nicht genau wusste, was mit mir los ist. Unsere Familie war nicht nur das Tuschel-Thema in der Stadt – da stand die „Bild“-Zeitung vor der Tür, der „Stern“ –, alle haben darüber berichtet. Für mich ist bis heute nicht nachvollziehbar, wie man so etwas seiner Familie antun kann. Ich habe ihm das auch nie verziehen.

Ihr Vater, der Spielschulden hatte, wurde bereits nach einer Woche gefasst. Er hatte sich beim First-Class-Schalter der Lufthansa nach den besten Hotels in Rio erkundigt, musste erst dort ins Gefängnis und dann wurde ihm noch einmal in Hannover der Prozess gemacht. Später ging er nach Gran Canaria und eröffnete eine Kneipe. Er starb an Kehlkopfkrebs. Was verbinden Sie heute mit ihm?

Wenn ich heute Väter sehe, die mit ihren Kindern unterwegs sind oder spielen, dann denke ich: Das hätte ich auch gern gehabt. Mein Vater war mit allem möglichen anderen beschäftigt, vor allem mit Tennis spielen, mit Saufen und Rauchen. Ich fand das furchtbar, gerade die Raucherei. Ich habe meinen Vater auch immer am Husten erkannt, bevor er um die Ecke bog. Oder wir mussten ihn aus einer stinkigen Kneipe abholen. Ich habe das als Kind gehasst.

Für jemanden, der Bars auf dem Kiez betreibt, ist es zumindest ungewöhnlich, dass Sie kaum Alkohol trinken und nicht rauchen. Kommt das durch diese Kindheitserfahrung?

Ja, mein Vater war eine Warnung. Ich dachte immer: So willst du auf keinen Fall werden. Ich versuche aber auch, das Positive an ihm zu sehen: Vermutlich habe ich sein Party-Gen geerbt.

Ihre Mutter, mit der Sie sich wieder sehr gut verstehen, sagte damals zu Ihnen: „Du bist Abschaum!“

Das hat mich sehr verletzt. Man muss dazu sagen: Meine Familie hatte es auch schwer mit mir. Das Schwulsein, mein Auftreten, der Wunsch, Travestiekünstlerin zu sein. Travestie fand ja damals ausschließlich im Schwulen- und Rotlichtmilieu statt. Meine Familie versuchte dagegen, mich wieder auf den „richtigen“ Weg zu bringen – ich sollte Versicherungskaufmann werden.

Haben Sie an sich gezweifelt?

Wirklich keine Sekunde. Ich war immer komplett von meinem Weg überzeugt: Ich werde Travestiekünstler, ich werde mich selbst verwirklichen und das wird schon irgendwie klappen. Vielleicht macht gerade das mich aus: Ich lasse mich nicht beirren.

Sie sagen selbst über sich: Ich kann nicht singen, ich kann nicht tanzen. Woher nahmen Sie den Mut, sich auf die Bühne zu stellen? Und was war Ihr Programm?

Ich war nicht nur schrill, sondern auch sehr, sehr fleißig. Ich habe richtig gekämpft. Es ist nicht so einfach, sich in so einer Szene zu etablieren. Ich wusste aber damals schon: Ich muss außergewöhnlich sein. Ich brauche ein Alleinstellungsmerkmal. Alle Travestiekünstler um mich herum wollten einfach schön sein und aussehen wie Frauen – und dann kam ich da um die Ecke. Am Anfang sagten Kolleginnen zu mir: „Du bist doch viel zu groß für Travestie: Wen willst du denn parodieren?“ Travestie war zu der Zeit vor allem Parodie. Ich aber habe Selbstironie und den Mut zur Hässlichkeit. Also habe ich Plateauschuhe angezogen und mir Hochsteckfrisuren gemacht, sodass ich am Ende fast drei Meter groß war. Das Publikum hat das sofort geliebt.

Ihre Karriere ist untrennbar mit St. Pauli verbunden. Wann sind Sie das erste Mal hierhin gekommen?

Das war Ende der 80er, mit gerade 18 oder 19 Jahren. Für mich war St. Pauli die große, weite Welt – und auch die Möglichkeit, aufzutreten und mich auszuprobieren. Es gab viele kleine schwule Bars – man konnte hier schon immer so sein, wie man wollte. Ich wusste sofort, das ist der Ort, wo ich arbeiten und auch leben möchte.

Sie sind heute eine mittelständische Unternehmerin, betreiben auf St. Pauli Ihre Bar, einen Men-Strip-Club, einen Show Club, eine Burlesque-Bühne und eine Porno-Karaoke-Bar. Zudem machen Sie – die Idee kam zur WM 2006 – Ihre ganz speziellen Kiez-Führungen. Wie sind Sie durch das Pandemie-Jahr gekommen?

Na ja, mit den Läden werden wir mit zwei blauen Augen davonkommen. Aber ich mache mir natürlich Sorgen um den Stadtteil, um die Vielfalt, all die kleinen Clubs und Bars.

Was haben Sie denn konkret getan?

Bei uns geht es familiär zu, deshalb rede ich ja immer von der Olivia-Jones-Familie – die knapp hundert Leute umfasst. Wir haben versucht, uns umeinander zu kümmern. Und auch um andere. Das hat mich insgesamt stolz gemacht, die Solidarität auf St. Pauli. Unsere Künstler wie Lex Dildo, Vanity Trash und Setti Mois haben wir in Altenheime geschickt, weil die Menschen da sehr isoliert sind. Wir konnten zwar nicht drinnen auftreten, haben das aber außerhalb getan. Lex hat zusätzlich die Hamburger Tafel unterstützt und Essen ausgefahren. Eve Champagne, unsere Burlesque-Tänzerin, arbeitet gerade im Impfzentrum und Veuve Noire ist mit dem Projekt „Olivia macht Schule“ an Kitas und Schulen aktiv. Gemeinsam machen wir den Lockdown Lovestream „The Drag Attack“ auf Twitch. Und wir waren kreativ: haben an neuen Shows, neuen Konzepten, neuen Kostümen gearbeitet und die Läden renoviert. Viele Experten vermuten ja, dass es nach Corona eine Explosion der Lebensfreude geben wird. Darauf freuen wir uns – und werden ganz vorne mit dabei sein.

In welchen Momenten sind Sie eigentlich glücklich?

Wenn ich in meinen Bars sitze, die Gäste betrachte und sehe, wie viel Spaß alle haben. Ich wurde ja belächelt, als ich die „Olivia Jones Bar“ auf der Großen Freiheit aufgemacht habe. Da hieß es: „Na ja, so ’ne Trümmertranse mit ’ner Schlagerbar, ob das so funktioniert?“ Aber wir haben immer darauf geachtet, dass wir etwas machen, was es noch nie gab auf St. Pauli. Nehmen Sie die „Wilden Jungs“. St. Pauli war ein Stadtteil, wo Mädels sich ausgezogen haben. Wir haben eine Bar aufgemacht, in der die Sexobjekte Männer sind – und nur Frauen zuschauen dürfen. Da kommen Mütter mit ihren 18-jährigen Töchtern, lassen die Sau raus und haben einen Riesenspaß.

 

Sie haben auch den ganzen Wahnsinn der körperlichen Selbstoptimierung mitgemacht: Zweimal Fettabsaugen an Bauch und Hüfte, auch versucht Fett „wegfrieren“ zu lassen. Sie lassen alle vier Monate Botox spritzen, ins Gesicht und unter die Achselhöhlen, Sie haben sich die Nase und sogar eine kleine Brust für ein besseres Dekolleté machen lassen. Wieso das alles?

Ich mache das für Oliver und Olivia – einfach für mich. Wenn ich denke: Mensch, da kann ich etwas optimieren, dann mache ich das. Und ich stehe dazu. 

„In unserem Business verbessern sich 95 Prozent der Leute, aber alle behaupten, man müsse nur viel schlafen und Wasser trinken. Ich finde, da sollte man schon ein bisschen ehrlicher sein. Man darf es aber natürlich nicht übertreiben, sonst sieht man irgendwann aus wie eine Barbie-Puppen-Fehlpressung.“

Sie haben sich 2016 sogar die Beine verkürzen lassen. Ihnen wurden Stücke aus den Oberschenkeln genommen. Nun sind Sie statt 2 Metern „nur noch“ 1,95 Meter groß. Gehörte das auch zur Selbstoptimierung?

Nein, das war ein medizinischer Eingriff. Ich hatte eine Beinlängendifferenz von einem Zentimeter, dadurch hatte ich einen Beckenschiefstand. Außerdem war ich so groß, dass ich ständig eine falsche Haltung hatte. Mich hat dieser Eingriff gesundheitlich weit nach vorne gebracht. Aber diese Operation war dermaßen schmerzhaft, das kann man sich nicht vorstellen. Ich bin ja jemand, der Spaß an Bewegung hat, täglich Sport macht. Ich musste nach der OP das Gehen wirklich komplett neu lernen. Also: Ich würde das nicht noch mal machen. Oder, sagen wir mal so: Ich würde es vielleicht noch mal machen lassen, aber kann es keinem empfehlen.

 

Die Biografie „Ungeschminkt – Mein schrilles Doppelleben“, mit Lena Obschinsky, erscheint bei Rowohlt, 12 Euro. Mehr Informationen zu den Kiez-Touren gibt’s unter kult-kieztouren.de

INTERVIEW
Volker Corsten
FOTOS
Johannes Arlt